Die Aneignung des Fremden durch Sprache im Reisebericht des Odorico de Pordenone


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Das Fremde und die Schrift

2. Das Fremde, die Sprache und die Aneignung – Versuch einer theoretischen Annäherung

3. Sprachliche Aneignung im Reisebericht des Odorico de Pordenone

4. Das Fremde und das Verstehen

5. Bibliographie

Quellen

Forschungsliteratur

1. Das Fremde und die Schrift

Die Begegnung mit dem Fremden bzw. Anderen ist ein traditioneller Bestandteil der Ethnographie. Aus diesem Grund stammt auch die epistemologische Reflexion über Fremdheitserfahrungen aus dieser Disziplin, da sich die Ethnographie als Wissenschaft die Frage stellen musste, inwiefern ihre Ergebnisse eine adäquate Darstellung der fremden Kultur abgeben. Die pessimistische Konsequenz dieser wissenschaftlichen Selbstbespiegelung in der Mitte des 20. Jahrhunderts fasst Iris Därmann in der Einleitung des Bandes über „Fremderfahrung und Repräsentation“[1] folgendermaßen zusammen: „Die ethnographische Darstellung einer fremden Kultur vermittelte somit mehr Aufschlüsse über die Kultur und den Standort des Ethnographen selbst als über die Eigenart der von ihm untersuchten Lebenswelt.“[2] Anhand dieser modernen epistemologischen Reflexion deutet sich eine grundlegende Problematik bei der Repräsentation des Fremden an: jegliche Darstellung des Fremden beinhaltet immer auch die Kategorien, Strukturen, Formen des Eigenen. Die zeitgenössische Ethnographie kann bzw. muss sich über diese Repräsentationsproblematik bewusst sein, bei einem spätmittelalterlichen Autor hingegen kann ein solches epistemologisches Reflexionsvermögen nicht vorausgesetzt werden.[3] Der Franziskanermönch Odorico de Pordenone, der vermutlich zwischen 1314 und 1318 zu einer 12-jährigen Asienreise aufbrach und 1330 einem Schreiber seine Erlebnisse diktierte, stellt dabei keine Ausnahme dar, auch wenn seine Aufzeichnungen für die damalige Zeit einer „ethnographischen Materialerhebung“[4] gleichkommen. Sein Reisebericht enthält stellenweise detaillierte Schilderungen der für Europäer fremden Kulturen im fernen Osten, ohne dabei die eigene Perspektive auf jene zu reflektieren. Obwohl der Bericht des Mönchs ein Auftragswerk und daher mit missionarischen Zielen verbunden war[5], liegt der Schwerpunkt von Odoricos Aufzeichnungen überraschenderweise weniger auf den Bemühungen der Missionierung der „Heiden“, als auf zahlreichen ethnographischen Beschreibungen.[6] Das Fremde und komplett Andere scheint recht mühelos in den Text integriert worden zu sein und liest sich wie eine Aneinanderreihung von scheinbar tatsächlich erlebten „wunder“-Geschichten[7], die zur starken Verbreitung des Textes[8] sowie zur Kopie ganzer Segmente durch John Mandeville[9] beitrugen. Die Unbedarftheit, mit der das vollkommen Fremde beschrieben und gedeutet wird, verwundert jedoch aus heutiger Sicht, da sich in der Forschung über das Fremde zwei Grundannahmen durchgesetzt haben. Erstens kann demnach das Fremde bzw. Fremdheit nicht ontologisch, sondern immer nur relational bestimmt werden. Die Apostrophierung „fremd“ drückt somit eine Beziehung zwischen einem beobachtenden Subjekt und einem beobachteten Objekt aus.[10] Die Absage an eine wesensmäßige Bestimmung von Fremdheit führt zu einem Sachverhalt, der gerade auch für den schriftlich fixierten Reisebericht Odoricos von entscheidender Bedeutung ist: „Fremdheit existiert nicht, sie wird zugeschrieben [!], und daher ist es präziser, im folgenden auch von Fremdzuschreibungen […] zu sprechen.“[11] Das Fremde als perspektivische Beziehung zum Eigenen ist deshalb „grundsätzlich offen für unterschiedliche Formen der Zuschreibung und die sich damit ergebenden Relationierungen gegenüber dem Eigenen.“[12] Dem Zuschreiben als Akt der Markierung der Differenz zwischen fremd und eigen fällt damit eine Schlüsselrolle bei der Konstitution des Fremden zu.

Die zweite Grundannahme, die die mühelose Integration des Fremden in Odoricos Reisebericht in Frage stellt, setzt genau an der Stelle des Aufschriebs, präziser gesagt im Moment der gedanklichen Verbalisierung der Fremdheitserfahrung ein. Das Fremde kennzeichnet sich nämlich durch eine begriffliche Widerspenstigkeit:

Das Fremde ist eine der allgemeinen Figuren der Einbildungskraft, über die man so gut wie alles sagen kann, ohne je genug gesagt zu haben. Es gibt sich nie zu erkennen. […] Dieses Entgleiten, die Unmöglichkeit, es beim Namen zu nennen [!] hat etwas Unheimliches.[13]

Das Fremde entzieht sich demnach den Begriffen, die letztendlich nur das Eigene markieren, da sie in diesem Bereich gebildet wurden und auch nur da ihre vorgestellten Entsprechungen, also ihre Signifikate haben können. Das gänzlich Fremde kann hingegen weder benannt, noch erzählt werden.

Vor dem Hintergrund dieser zwei Prämissen – der Relationalität des Fremdheitsbegriffs sowie der Aporie einer Benennung des Fremden – kann also nicht davon ausgegangen werden, dass der Reisebericht die Fremdheitserfahrungen in einem mimetischen Verhältnis repräsentiert. Vielmehr muss dem Fremden ein Stück weit seine Fremdheit genommen worden sein, um überhaupt in den Text integriert werden zu können. Das Verfahren, mit dem diese Aneignung des Fremden vollzogen wird, ist dabei untrennbar mit der Form der mittelalterlichen Quelle verbunden. Denn durch das Aufschreiben der Reiseerlebnisse, so meine These, findet eine Aneignung des Fremden statt, ohne die das Fremde überhaupt nicht repräsentiert bzw. konstituiert werden könnte. Dass Sprache eine Aneignung bis hin zur Assimilation des Fremden leisten kann, deutet auch Karénina Kollmar-Paulenz im Bezug auf fremdreligiöse Traditionen an.[14] Die Möglichkeit des Verstehens des zuvor Unbekannten, das Odoricos Reisebericht immer wieder durch die Beschreibungen und Deutungen des Fremden anbietet, kann letztendlich nur mittels einer vorherigen Aneignung durch Sprache geleistet werden. Im Folgenden soll deshalb zunächst untersucht werden, wie eine solche Aneignung durch Sprache theoretisch funktionieren kann, um daraufhin am Text jene Merkmale herauszuarbeiten, an denen sich die Aneignung des Fremden im Sinne einer Integration des Fremden ins Eigene ablesen lässt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Reisebericht partiell die Anstrengung unternimmt, dem Fremden seine Fremdheit zuzugestehen, allerdings kann er nicht darüber hinwegtäuschen, dass „beschreiben und erzählen [ ] eine spezifische Form der Konstitution wie auch der Aneignung des Fremden [bilden].“[15] Das Fremde wird somit bei Odorico nicht nur repräsentiert, sondern auch durch den Text hervorgebracht und daraufhin, wie bereits angedeutet, den gesehenen Ländern, Menschen und Bräuchen zugeschrieben.

2. Das Fremde, die Sprache und die Aneignung – Versuch einer theoretischen Annäherung

Der Umgang mit dem Fremden stellt immer auch eine Belastungsprobe für das Eigene dar, sei es in sozialer, politischer, religiöser oder sprachlicher Hinsicht. Die Formen der Begegnung können dabei von einer kurzfristigen Kulturberührung, einem Kulturzusammenstoß, einer Kulturbeziehung bis hin zu einer Kulturverflechtung reichen.[16] Bei jeder Form der Begegnung kommt es jedoch zu „Prozessen von Identitätsveränderung und Gruppenbildung, von Abgrenzung und Annäherung“[17], kurzum, das Eigene bleibt nicht unberührt vom Fremden. Auch die Sprache bildet dabei keine Ausnahme: Mittel- bis langfristig betrachtet zeichnet sich das System Sprache durch eine Integrationsbereitschaft von fremden Begriffen aus, insofern diese eine konventionalisierte, vorstellungsmäßige Entsprechung innerhalb eines Sprachraums besitzen. Kann dem Begriff also ein in einem Sprachraum gebräuchliches Signifikat zugeordnet werden, so steht der Einbindung des fremden Begriffs in eine Sprache nichts mehr im Weg. Dieser Prozess der Konventionalisierung vollzieht sich jedoch nicht bereits beim ersten Auftauchen des Begriffes. Die Einführung neuer Begriffe geschieht letztendlich nur durch die Verwendung derselben durch jene, die diese Sprache gebrauchen und ist damit auch abhängig von der sprachlichen Aufnahmebereitschaft der Subjekte dieses Sprachraums. Kurzfristig gesehen zeigt sich somit das System Sprache der Eingliederung fremder Begriffe gegenüber zunächst resistent, da die Dauer des Prozesses der Konventionalisierung eine schnelle Integration behindert. Aus diesem Grund kann bei einem Erstkontakt mit dem Fremden dieses unmöglich in den dafür adäquaten Begrifflichkeiten beschrieben bzw. gedeutet werden, da diese a priori (noch) nicht zur Verfügung stehen. Die Möglichkeiten der Sprache bleiben an diesem Punkt hinter den realen Ereignissen zurück. Daher kann bei einem solchen Erstkontakt das beobachtende bzw. schreibende Subjekt seine Erfahrungen und Eindrücke immer nur durch das Repertoire formulieren, das seine eigene Sprache zur Verfügung stellt. Eine Angemessenheit des Ausdrucks und der zugeschriebenen Bedeutungen ist damit allerdings von vorneherein ausgeschlossen, da das Eigene unmöglich die Begrifflichkeiten für das Fremde bereitstellen kann. Gelänge der eigenen Sprache dieses, könnte nicht mehr vom Fremden, sondern nur vom Anderen gesprochen werden, was etwas kategorial Verschiedenes bezeichnet.[18] Deshalb lässt sich feststellen, dass die erste, sozusagen naive Begegnung mit dem Fremden immer nur mit der Sprache des Eigenen formuliert werden kann. Daraus ergeben sich jedoch weit reichende Konsequenzen für das Fremde und damit auch für die Relation von eigen und fremd, die Kollmar-Paulenz im Bezug auf die Beschreibung fremder Religionen folgendermaßen darstellt:

Zur Beschreibung fremdreligiöser Traditionen, die aus dem Verstehen erfolgt, bediene ich mich stets der mir in meiner Sprache vorgegebenen Begrifflichkeit. […] Auf diese Weise transportiert Sprache zugleich Inhalte und verändert den Bedeutungsgehalt fremdreligiöser Vorstellungen, weil diese in der Übersetzung in einem sprachlichen Gewand erscheinen, das schon von bestimmten innerkulturellen Bedeutungen besetzt ist.[19]

[...]


[1] Iris Därmann, Christoph Jamme (Hgg): Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist 2002.

[2] Iris Därmann: Fremderfahrung und Repräsentation. Einleitung, in: ebd., S. 23

[3] Vgl. Florian Kragl: Die Weisheit des Fremden. Studien zur mittelalterlichen Alexandertradition, Bern u. a. 2005, S. 152.

[4] Vgl. Folker Reichert: Wirklichkeit und Wahrnehmung im Iterinar Odoricos de Pordenone, in: Thomas Beck u. a. (Hgg.): Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung, Stuttgart 1999, S. 54.

[5] Vgl. ebd. S. 54.

[6] Vgl. Folker Reichert: Odorico de Pordenone über Tibet, in: Archivum Franciscanum Historicum, o. O. 1989, S. 184.

[7] Man kann sogar von einer topischen Verwendung dieser „wunder“-Geschichte sprechen, vgl. Folker Reichert: Reisen und Kulturbegegnung als Gegenstand der modernen Mediävistik, in: Hans-Werner Goetz (Hg.): Die Aktualität des Mittelalters, Bochum 2000, S. 238: „Denn die Tradition der wundersamen Tiere, Pflanzen und Völker, der homines monstruosi, gehörte seit der Antike zum Bild des Ostens, Indiens vor allem, unauslöschlich dazu.

[8] Von dem Text sind um die 100 Handschriften überliefert, darunter auch Übersetzungen ins Mittelhochdeutsche, Französische und Italienische. Vgl. Folker Reichert: Begegnungen mit China: die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter, Sigmaringen 1992, S. 166.

[9] Vgl. John Mandeville: Reisen, hrsg. von Ernst Behler, Hildesheim 1991.

[10] Vgl. Florian Kragl: Die Weisheit des Fremden, a. a. O., S. 61; Volker Scior: Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck, Berlin 2002, S. 10 sowie Marina Münkler: Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000, S. 151.

[11] Volker Scior: Das Eigene und das Fremde, a. a. O., S. 19.

[12] Marina Münkler: Erfahrung des Fremden, a. a. O., S. 148.

[13] Jochen K. Schütze: Vom Fremden, Wien 2000, S. 15f.

[14] Karénina Kollmar-Paulenz: Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens fremder Religionen, in: Peter Rusterholz, Rupert Moser (Hgg.): Wie verstehen wir Fremdes? Bern u. a. 2005, S. 224f.

[15] Marina Münkler: Erfahrung des Fremden, a. a. O., S. 148.

[16] Ich greife an dieser Stelle die von Urs Bitterli entwickelte Taxonomie der „Kulturbegegnung“ auf, zit. in Jürgen Osterhammel: Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Saeculum, Band 46, o. O. 1995, S. 106.

[17] Ebd. S. 107.

[18] Vgl. Marina Münkler: Erfahrung des Fremden, a. a. O., S. 149: „Insofern ist fremd keine Spielart des Anderen, so wie anders keine Spielart des Fremden ist, sondern fremd ist das, was jenseits der Grenze angesiedelt sind [sic! ist, F. D.], bis zu der man weiß, wer gleich und wer anders ist.“ (Hervorhebungen im Original).

[19] Karénina Kollmar-Paulenz: Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens fremder Religionen, a. a. O., S. 224f.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Aneignung des Fremden durch Sprache im Reisebericht des Odorico de Pordenone
Hochschule
Universität Konstanz  (Fachbereich Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Das fremde Heilige in Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
19
Katalognummer
V88386
ISBN (eBook)
9783638024419
ISBN (Buch)
9783638925969
Dateigröße
451 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit geht der Frage nach, wie fremde Kulturen und Religionen in einem mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Text dargestellt werden können. Dabei wird zuerst die Fremdheitsdarstellung in einem theoretischen Teil bestimmt, um daraufhin diese Ergebnisse auf den Reisebericht von Odorico de Pordenone anzuwenden. Dabei zeigt sich, dass gerade die Sprache als ein Mittel zur Aneignung des Fremden fungiert.
Schlagworte
Aneignung, Fremden, Sprache, Reisebericht, Odorico, Pordenone, Heilige, Texten, Mittelalters, Neuzeit
Arbeit zitieren
Frank Dersch (Autor:in), 2008, Die Aneignung des Fremden durch Sprache im Reisebericht des Odorico de Pordenone, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88386

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