Johann Nikolaus Beckers „Räubergeschichte“ (1804) aus kriminalanthropologischer Sicht


Hausarbeit, 2015

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsklärungen
2.1. Kriminalanthropologie
2.2. Fallgeschichte

3. Biographische Notizen zu Autor und Protagonist
3.1. Johann Nikolaus Becker (1773 – 1809)
3.2. Johannes Bückler, gen. Schinderhannes (1779 – 1803)
3.2.1 Johannes Bückler
3.2.2. Schinderhannes

4. Der Mensch hinter der Figur: Methoden einer Demaskierung
4.1. Bücklers „eigene Worte“ als Darstellungs- und Beglaubigungsinstrument
4.2. Schilderung und Analyse einer Straftat
4.3. Klassenzugehörigkeit und Individualität
4.4. Verschmelzen von Person und Rolle
4.5. Analyse eines Entscheidungsmoments
4.6. Vergleiche als Mittel der Charakterisierung

5. Schlussbemerkung: Eine Kriminalchronik als Aufklärungsinstrument

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Studienbrief „Kriminalanthropologie: Repräsentation von Kriminalität und Strafverfolgung in der Literatur“ wird im Abschnitt „Erzählen vom Verbrechen um 1800“, u.a. am Beispiel von Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“, dem literarischen Bestreben nachgegangen, den „Menschen hinter den Straf-taten“ darzustellen.

In dieser Arbeit soll Johann Nikolaus Beckers „Actenmässige Geschichte der verschiedenen Räuberbanden an den beyden Ufern des Rheins“ (1804) und speziell die darin enthaltene Lebens- und Verbrechensgeschichte des Johannes Bückler, gen. Schinderhannes, auf diesen Aspekt hin, nämlich Beckers Bestreben, Erkenntnisse über den Menschen Bückler hinter der Figur Schinderhannes zu gewinnen und zu vermitteln, untersucht werden.

Da es sich um eine Untersuchung aus kriminalanthropologischer Sicht handelt und Beckers Werk eine Sammlung von Fallgeschichten darstellt, wird der eigentlichen Untersuchung ein kurze Klärung der Begriffe „Kriminalanthropologie“ und „Fallgeschichte“ vorangestellt, gefolgt von einer kurzen Vorstellung des Autors und seines Protagonisten.

Um zu einer Aussage über Beckers Methodik zu gelangen, werden nacheinander folgende Teilaspekte seines Werkes untersucht:

- Bücklers „eigene Worte“ als Darstellungs- und Beglaubigungsinstrument
- Schilderung und Analyse einer Straftat
- Klassenzugehörigkeit und Individualität
- Verschmelzen von Person und Rolle
- Analyse eines Entscheidungsmoments
- Vergleiche als Mittel der Charakterisierung

Nachdem auf diese Weise ein Bild von Beckers Vorgehensweise gewonnen wurde, soll sein so entstandenes Charakterbild Bücklers kurz zusammengefasst sowie der Grund für Beckers spezifische Vorgehensweise erörtert werden.

Die Darstellung Beckers soll hier nicht als historische Quelle oder als Biographie Bücklers, sondern als ein eigenständiges Stück Aufklärungsliteratur betrachtet werden. Auf Vergleiche von Beckers Darstellung mit der „historischen Wahrheit“ und mit der den Schinderhannes-Stoff behandelnden Fiktionalliteratur wird daher im Folgenden weitgehend verzichtet.

Zur Forschungslage lässt sich pointiert feststellen, dass die unübersehbare (und jährlich zunehmende) Masse an „Schinderhannes-Literatur“ im umgekehrten Verhältnis zum dürftigen Material über J.N. Becker steht.

2. Begriffsklärungen

2.1. Kriminalanthropologie

Im Zeitalter der Aufklärung stand der Mensch im Mittelpunkt des Interesses, der Begriff für die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm war „Anthropolo-gie“ (Menschenkunde).[1]

Gerade die Betrachtung von Verbrechern und Verbrechen – man spricht bei diesem Teilbereich von „Kriminalanthropologie“ - schien als Medium der Menschen-erkenntnis besonders geeignet. Karl Philipp Moritz schreibt in seiner Broschüre „Ideal einer vollkommenen Zeitung“:

„Die kurze Geschichte der Verbrecher aus den Kriminalakten gezogen, wie belehrend müsste sie sein, wenn die allmählichen Übergänge von kleinen Vergehen, bis zum höchsten Grade der moralischen Verderbtheit, mit einigen treffenden, allgemein auffallenden Zügen darin gezeichnet wäre!“[2]

Dabei wurden die Lebensläufe der Kriminellen besonders interessant, da sie Aufschlüsse über die Zusammenhänge einer Tat versprachen:

„Ein Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen, findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheure Härte bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb und es ihm jetzt nur durch Verbrechen sich noch zu erhalten möglicht machte.“[3]

Zur Beurteilung des „ganzen Menschen“ hinter der Tat sollen also stets auch die sich aus der Biographie des Verbrechers ergebenden Voraussetzungen und Motivationen herangezogen werden.

2.2. Fallgeschichte

Eine (strafjuristische) Fallgeschichte ist die Überlieferung des erzählerisch hergestellten Zusammenhanges zwischen einer als strafbar wahrgenommenen Handlung und deren Erledigung in einem Strafverfahren. Als Textsorte war sie ursprünglich (als Teil von Fall- und Entscheidungssammlungen) an die Strafjustiz angelagert, sie entwickelte sich dann aber zu einem eigenen literarischen Genre.[4] Hatte die „ursprüngliche“ Fallgeschichte den juristischen Fachleser angesprochen, übernahm sie in ihrer späteren Entwicklung Popularisierungsfunktionen und wandte sich an ein Laienpublikum: „Jeder kann und sollte Interesse daran haben, ein Verständnis von, nicht unbedingt für, Verbrechen zu entwickeln.“[5]

Dieser „Massenanspruch“ schlägt sich allerdings auch darin nieder, dass ein möglichst großes (Lese-)Publikum erst einmal gewonnen und dann gefesselt werden muss:

„Um Details der Wahrheit bekümmert man sich dabei recht wenig. Im Zweifelsfall genießt Wahrscheinlichkeit gegenüber der Wirklichkeit den Vorzug. Hauptsache, die Darstellung erscheint authentisch und plausibel.“[6]

Alle Mittel der künstlerischen Bearbeitung und Verfremdung sollen dabei aber nur dem übergeordneten Ziel dienen, „den Blick von der äußeren Schilderung einer Tat auf die innere Motivation des Täters zu lenken“.[7]

3. Biographische Notizen zu Autor und Protagonist

3.1. Johann Nikolaus Becker (1773 – 1809)

J.N. Becker[8] wurde 1773 in Beilstein an der Mosel, im Territorium der Reichsgrafen Metternich-Winneburg und Beilstein, geboren.

Er besuchte die Karmeliterschule in Beilstein und das katholische Gymnasium in Koblenz und studierte Jura in Mainz (1792) und Göttingen (1793 – 94). Es folgten Praktikantentätigkeiten am Reichskammergericht in Wetzlar (1794 – 96) und am Reichshofrat in Wien (1796 – 97). Er nahm 1798 (in nicht bekannter Funktion) am Rastatter Kongress, auf welchem Abwicklungsdetails der Abtretung der linksrheinischen deutschen Gebiete an Frankreich verhandelt wurden, teil. Da Becker in seinem noch im selben Jahr erschienenen Buch „Zur kritischen Geschichte des Rastadter Friedens, von einem unpartheiischen Beobachter“ seinen ehemaligen Landesherrn und kaiserlichen Gesandten, den Reichsgrafen von Metternich, scharf angegriffen hatte, wurde er auf der Festung Würzburg arretiert, aus der ihm 1799 die Flucht in das nun zu Frankreich gehörende linksrheinische Gebiet gelang.

Ab 1799 lebte er in Koblenz, wo er u.a. als Strafverteidiger und Redakteur der „Coblenzer Zeitung“ tätig war. Es folgte der Wechsel in den französischen Staatsdienst, zunächst als Friedensrichter in Kirn (Nahe) und von 1803 bis zu seinem Tode als „magistrat de sureté“ in der Unterpräfektur Simmern des Rhein-Mosel-Departements. Er starb 1809 an den Folgen eines Reitunfalls.

Sein literarisches Schaffen umfasst hauptsächlich Reisebeschreibungen sowie politische und juristische Werke.

Seine politische Haltung ist geprägt durch seine Begeisterung für die französische Revolution, wie er sie in einem 1799 geschriebenen Rückblick auf seine Studienzeit in Göttingen (1793- 94, auf dem Höhepunkt des grand terreur), schildert: „Damals war es nicht der kühnste unserer Wünsche, Deutschland wenigstens bis an den Rhein mit der neuen Republik vereinigt zu sehen.“[9] Man kann Becker also getrost als „deutschen Jakobiner“ bezeichnen. Inge Stephan gibt in ihrem Werk mehrere Definitionsansätze zum „literarischen Jakobinismus“[10] in Deutschland. Das im Fall Beckers zutreffendste Wort hierzu ist wohl dieses von Walter Grab:

„Sie sahen es als ihre Aufgabe an, das politische Bewußtsein der Unterschichten zu heben, um von der abstrakten Befürwortung des Repräsentativsystems zu einer praktischen, revolutionären Verwirklichung schreiten zu können und die Geburt der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu beschleunigen.“[11]

Von seinem der Spätaufklärung zuzuordnenden literarischen Schaffen gilt: „Beckers Werke sind von der Nachwelt kaum beachtet worden. Nur die Geschichte von der Bande des Schinderhannes hat mit dem Nachruhm des Räubers überlebt.“[12]

3.2. Johannes Bückler, gen. Schinderhannes (1779 – 1803)

3.2.1 Johannes Bückler

Die Angaben in der Literatur divergieren teilweise stark. Diese Darstellung folgt dem derzeitigen Standardwerk zum Thema.[13]

Johannes Bückler wurde (wahrscheinlich) im Herbst 1779 in Miehlen oder Weidenbach (beide heute Ortsteile der Verbandsgemeinde Nastätten im Rhein-Lahn-Kreis, Rheinland-Pfalz) geboren. Der Vater zog mit seiner Familie als Bettler, Soldat und Abdecker weit umher und ließ sich schließlich in Merzweiler (Hunsrück) nieder. Nach mehreren begonnenen Abdeckerlehren begann der junge Bückler seine kriminelle Karriere im Jahr 1796 mit Vieh- und Pferdediebstählen (ca. 40 Taten). Es folgten ein Einbruch und die Teilnahme oder Mittäterschaft an jeweils einem Totschlag und einem Mord.

1799 wurde er für ein halbes Jahr in Simmern (Hunsrück) eingekerkert, bis ihm die Flucht gelang. Danach wechselte er seine Aufenthaltsorte zwischen dem (französischen) linksrheinischen und dem in zahlreiche Territorien zersplitterten rechtsrheinischen (deutschen) Gebiet. Von November 1799 bis Mai 1802 beging er über 70 Straftaten, darunter Raubüberfälle, Erpressungen und Einbrüche. Nachweisbar ist ihm aber auch die Teilnahme oder Mittäterschaft an einem Mord, einem vorsätzlichen Totschlag und einem Raub mit Todesfolge. Am 31. Mai 1802 wurde er im rechtsrheinischen Wolfenhausen (heute Ortsteil von Weilmünster im Landkreis Limburg-Weilburg, Hessen) festgenommen. Er wurde zunächst in Frankfurt verhört und am 16. Juni 1802 an die Franzosen in Mainz ausgeliefert. Nach fast eineinhalb Jahren Vernehmungen und Voruntersuchungen fand vom 24.10. bis 16.11.1803 der Prozess statt, die Urteilsverkündung folgte am 20.11.1803. Am 21. November 1803 wurde Bückler gemeinsam mit 19 Mittätern hingerichtet. Ihm können nach heutigem Forschungsstand 130 Straftaten mit insgesamt 95 Mittätern oder Tatverdächtigen zugeordnet werden.

3.2.2. Schinderhannes

Unabhängig von der realen Person Bückler führte (und führt) die Legendenfigur Schinderhannes ein Eigenleben, weshalb ihr an dieser Stelle auch eine eigene Kurzdarstellung gewidmet ist.

Die Legendenbildung in der Art einer „Robin-Hood-Figur“ wurde bereits von Bückler selbst gefördert, indem er z.B. unter dem Aliasnamen „Johannes durch den Wald“ Schutzgeld erpresste.[14]

Die u.a. in Zuckmayers Bearbeitung (1927)[15] vorherrschende Sichtweise auf Schinderhannes als „politischem“ Verbrecher und seine – bei tatsächlich geringem regionalen „Aktionsradius“ – deutschlandweite Popularität beruhen auf der Tatsache, dass er hauptsächlich im zu Frankreich gehörenden linksrheinischen Gebiet aktiv war und dort auch hingerichtet wurde: „Diejenigen, die sich durch Schinderhannes aufs äußerste provoziert fühlten und die ihn deshalb aburteilen mussten, galten als Deutschlands Feinde“.[16]

Selbst ein Raubüberfall konnte somit als politisches „Statement“ gegen die französische Fremdherrschaft interpretiert werden.

[...]


[1] Alexander Kosenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 8.

[2] Karl Philipp Moritz. Werke. Hg. von Horst Günther. Frankfurt am Main: Insel 1981, Bd. 3, S. 172 f.

[3] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wer denkt abstrakt. In: Werke, Band 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 575 f.

[4] Joachim Linder: Kriminalanthropologie: Repräsentation von Kriminalität und Strafverfolgung in der Literatur. Hagen: FernUniversität in Hagen 2009, S. 96 f.

[5] Linder: Kriminalanthroplogie, S. 97.

[6] Kosenina: Literarische Anthropologie, S. 57.

[7] Kosenina: Literarische Anthropologie, S.57.

[8] Alle Angaben nach: Griep, Wolfgang: Johann Nikolaus Becker : Fragmente aus dem Leben und Werk des "reisenden" Neufranken. In: Sehen und Beschreiben / Erstes Eutiner Symposion vom 14. bis 17. Februar in der Eutiner Landesbibliothek. Hg. von Wolfgang Griep. Heide: Westholsteinische Verl.-Anst. Boyens 1991, S. 226 - 247 (= Eutiner Forschungen, Bd. 1).

[9] Becker, Johann Nikolaus (anonym): Ist der Graf von Metternich-Winneburg als Emigrirter zu betrachten oder nicht? Brief eines Moselaners an einen Bürger in Paris. In: Die Geißel (Zeitschrift). Jg. 3. (1799), Heft 7, S. 288.

[10] Inge Stephan: Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789 – 1806). Stuttgart: Metzler 1976, S. 41 ff.

[11] Walter Grab: Leben und Werke norddeutscher Jakobiner. Stuttgart: J.B. Metzler 1973, S. XXI/II.

[12] Griep: Johannes Nikolaus Becker, S. 241.

[13] Mark Scheibe: Schinderhannes. Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann? Kelkheim: Historische Kommission für die Rheilnande 1789 – 1815, 5. Auflage 2010, S. 7.

[14] Heribert J. Leonardy.: Der Mythos vom "edlen" Räuber : Untersuchungen narrativer Tendenzen und Bearbeitungsformen bei den Legenden der vier Räuberfiguren Robin Hood, Schinderhannes, Jesse James und Ned Kelly. Saarbrücken: Schneidewind 1997, S. 81.

[15] Carl Zuckmayer: Der fröhliche Weinberg. Schinderhannes. Zwei Stücke. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 117.

[16] Manfred Franke: Schinderhannes. Kriminalgeschichte, voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu 1802. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1977, S. 9.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Johann Nikolaus Beckers „Räubergeschichte“ (1804) aus kriminalanthropologischer Sicht
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
24
Katalognummer
V314355
ISBN (eBook)
9783668132283
ISBN (Buch)
9783668132290
Dateigröße
572 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schinderhannes
Arbeit zitieren
Gerhard Schmidt (Autor:in), 2015, Johann Nikolaus Beckers „Räubergeschichte“ (1804) aus kriminalanthropologischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/314355

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