Die "Rabenschlacht" und die Theorie der oralen Dichtung


Hausarbeit, 2009

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Orale und literalisierte Kulturen

3. Literaturwissenschaftliche Forschung zur oralen Tradition
3.1 Die homerische Frage
3.2 Parrys These und ihre Folgen
3.3 Merkmale oraler Dichtung

4. Die historische Dietrichepik
4.1 „Dietrichs Flucht“

5. Die „Rabenschlacht“ und die Theorie der oralen Dichtung
5.1 Hinweise auf Mündlichkeit
5.2 Personengestaltung
5.2.1 Dietrich
5.2.2 Hildebrant
5.2.3 Wolfhart
5.3 Beispiele für Epitheta ornantia

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur

1. Einleitung

Unter dem Begriff der Dietrichepik wird eine Gruppe von epischen Versdichtungen in mittelhochdeutscher Sprache verstanden, deren Held Dietrich von Bern ist.1 Die Erzählungen fußen auf einer großen Stofftradition aus dem mittel- und nordwesteuropäischen Raum. Die Dietrichsage stellt hierbei, neben der Nibelungensage, wohl den bedeutendsten Komplex der germanischen Heldensage dar.2 Die Stoffe und Personen der Sagen entstammen der Völkerwanderungszeit und ihren historischen Geschehnissen. Die Geschichten erzählen von „blutigen Schlachten, vom heldenhaften Kampf der Führer, von todesmutigem Einsatz, von Sieg und Untergang.“3 Im Falle der Dietrichepik diente der Ostgotenkönig Theoderich der Große als Vorlage zur Ausgestaltung des Helden, in ihm lebt die Erinnerung an den 526 verstorbenen König weiter.4 Über die Jahrhunderte wurde aus der realen Person Theoderich dem Großen der Sagenheld Dietrich von Bern. Aller Wahrscheinlichkeit nach, sind die Texte der Dietrichepik nahezu vollständig im 13. Jahrhundert abgefasst worden, in einer Zeit in der die mündliche Dichtung, trotz der sich weiter ausbreitenden Schriftlichkeit, noch immer präsent war. Diese Arbeit untersucht deshalb, ob sich in einem der Epen, der „Rabenschlacht“, Hinweise auf diese mündliche Tradition finden lassen. Aber was sind die Merkmale einer solchen oralen Kultur und wie unterscheidet sie sich von einer Kultur, die durch die ‚Technologie der Schrift‘ geprägt ist? Diese Frage klärt das anschließende Kapitel, ausgehend von Walter Ongs Werk „Oralität und Literalität“. Kapitel 3 befasst sich mit der literaturwissenschaftlichen Forschung zur oralen Tradition und leitet hieraus Merkmale oraler Dichtungen ab. In Kapitel 4 der Arbeit wird zuerst die historische Dietrichepik und ihre beiden Hauptwerke vorgestellt und anschließend versucht, anhand der aufgestellten Merkmale Elemente der mündlichen Heldendichtung in der „Rabenschlacht“ zu finden, bevor der Schlussteil die Ergebnisse zusammenfasst und bewertet.

2. Orale und literalisierte Kulturen

Der moderne Mensch ist entscheidend durch den Gebrauch der Schrift geprägt. Literalisierte Menschen erachten viele Eigenschaften des Denkens und des sprachlichen Ausdrucks deshalb als selbstverständlich. Diese Eigenschaften sind dem Menschen ursprünglich jedoch nicht angeboren, sondern entwickelten sich erst durch die „Technologie des Schreibens“5. Sprache ist nach wie vor ein primär orales Phänomen, von den gegenwärtig circa 3000 gesprochenen Sprachen besitzen nur circa 78 eine Literatur, was impliziert, dass die meisten Sprachen nie geschrieben werden.6 Unterschiede zwischen oralen und literalisierten Kulturen bestehen vor allem im sprachlichen Ausdruck und in der Weitergabe von Wissen.7 Ein oraler Dialekt umfasst zumeist nur einige Tausend Wörter, in der oralen Tradition gibt es folglich auch keinen ‚Wortspeicher‘, der die Bedeutung derselben konserviert.8 Aus diesem Grund ist in diesen Kulturen eine große Gedächtnisleistung und zudem eine stetige Wiederholung von Nöten, um Wissen in Form von sprachlichen Ausdrücken wieder zu geben.9 Die Entwicklung der Schrift vollzieht sich auf Grundlage der oralen Sprache; durch die Möglichkeiten eines Schriftsystems strukturiert sich das menschliche Denken neu und ermöglicht es einigen Dialekten sich zu Grapholekten weiter zu entwickeln.10 Diese können mehrere Millionen Wörter enthalten und konservieren auch Wörter deren Bedeutung sich gewandelt hat. Festgeschriebene Wörterbücher und normative Grammatikregeln ermöglichen es literalisierten Kulturen Wissen in Form von Wörtern zu visualisieren, zu konservieren und ihr Wissen, mit einer deutlich geringeren Erinnerungsleistung wieder zu geben. Hierdurch entwickelt sich, wie Ong anführt, auch eine sekundäre Oralität.11 Jedoch entwickeln sich diese Phänomene auf der Grundlage der Schrift. Sie ist demnach ein sekundär formendes System, welches von einem älteren, primären System der Sprache abhängt.12

3. Literaturwissenschaftliche Forschung zur oralen Tradition

Literalisierte Kulturen haben seit langem ein großes Interesse an der oralen Tradition. Man erhofft sich, mit Hilfe von schriftlich vorliegenden Texten, die typischen Merkmale von mündlichen Dichtungen zumindest annäherungsweise rekonstruieren zu können. Zudem sollen Erklärungen für die Entstehung der Schriftlichkeit und ihren Texten aus der mündlichen Überlieferung entwickelt werden.

3.1 Die homerische Frage

Schon in der Antike bemerkten Gelehrte dass sich die beiden homerischen Epen von anderen Dichtungen grundsätzlich unterschieden und die Herkunft der beiden unbekannt war. Da diese von der Antike bis zur Neuzeit als die vorbildhaftesten und wahrhaftigsten Säkulardichtungen des westlichen Kulturerbes erachtet wurden, sind sie vielfach zum jeweiligen Ideal der Dichtkunst erhoben worden. Es gab aber auch Thesen von Gelehrten, welche Homer als Verfasser ablehnten und die Epen als Schöpfung eines ganzen Volkes erachteten.13 Des Weiteren wurde vermutet, dass die homerischen Gesänge erst wesentlich später zu einer epischen Dichtung zusammengefasst wurden. Hieraus ergab sich die Annahme, dass Homer nicht literalisiert war und seine eigene Gedächtnisleistung die Anfertigung der Dichtung ermöglicht hatte.14

3.2 Parrys These und ihre Folgen

Auf dieser Grundlage stellte Parry die folgende These auf: Die Form der Wortwahl und die Wortformen in den Epen sind den mündlich komponierten Hexameterversen geschuldet. Daher sind die charakteristischen Merkmale der Dichtungen durch die Ökonomie der oralen Kompositionsmethoden bedingt. Und diese Methoden, so Parry, sind aus den Versen rekonstruierbar.15 Düntzer hatte bemerkt, dass der Gebrauch eines bestimmten Epithetons weniger durch seine Bedeutung bestimmt wird, sondern nach den jeweiligen metrischen Anforderungen der jeweiligen Passage.16 Weitere Studien nach dem Vorbild Parrys, unter anderem durch Havelock, entdeckten formalisierte Strukturen und bewiesen, dass Homer Formel auf Formel wiederholte, woraus deutlich wurde, dass nur ein kleiner Teil der Epen nicht aus solchen bestand.17 Man kam folglich zum Schluss, dass die Epen genuin orale Kreationen waren, welche erst später schriftlich fixiert wurden.18 In der Übergangsphase wurden diese weiterhin mündlich, in Form von Rhapsoden, tradiert.

3.3 Merkmale oraler Dichtung

Aufgrund dieser Ausführungen lassen sich fünf Merkmale der ‚oral poetry‘ definieren:

1) Um Gedanken zu konservieren, müssen in der oralen Kultur memorierbare Gedanken ausgebildet werden, um das Denken zu stabilisieren.19 Deshalb bedient man sich der Mnemotechnik und vielen formelhaften Wendungen.20 Gedanken und verbale Äußerungen müssen in ausgeprägten rhythmischen Mustern entstehen. Durch Wiederholungen oder Antithesen, Alliterationen und Assonanzen, sowie Epitheta ornantia und andere formelhafte Ausdrücke werden Gedanken in oralen Dichtungen in standartisierte Themengruppen eingebunden.21 2) Eine große Redundanz des Gesagten wird bewirkt, dass Sprecher und Hörer dem Diskurs folgen können und sie bewirkt zudem, dass sowohl der Sprecher als auch die Hörer dem Diskurs folgen und die Gedanken speichern können. 22 3)Wissensvermittlung geschieht in oralen Kulturen durch die „nahe einfühlende, kommunizierende Identifikation mit dem Wissensstoff“ 23, dies wirkt sich auf den Stil der Dichtungen aus, der dadurch meist pathetisch und hyperbolisch ist. 4) Worte und Namen haben in oralen Kulturen Macht über Dinge, weshalb sich in mündlichen Dichtungen oftmals sehr lange Auflistungen von Namen oder Dingen auffinden lassen. Solche Kataloge beruhen auf tradiertem, memoriertem Wissen und erfüllen die Funktion eines Wissensspeichers.24 Ein Bespiel für eine solche Auflistung ist der Schiffskatalog im zweiten Gesang der „Ilias“. 5) Als letztes Merkmal wird die Einsträngigkeit der Handlung definiert, die häufig in einzelnen Episoden erzählt wird. Deshalb finden sich in solchen Dichtungen keine Erzählsprünge und Parallelhandlungen, so dass die Handlung übersichtlich und in sich geschlossen bleibt. Hieraus ergeben sich Implikationen für die Dichtungen als Ganzes, jedoch auch speziell in Bezug auf die Personengestaltung. Diese sind in oralen Dichtungen als Typen gestaltet, das heißt ihre Charaktere sind aus heutiger Sicht ‚flach‘. Ihre Eigenschaften sind durch Epithteta festgelegt und ändern sich im Verlauf der Epen nicht.25 In den homerischen Dichtungen wird Nestor stets als ‚weise‘, Oddysseus als ‚erfindungsreich‘ und Achill als ‚wild‘ charakterisiert. Zum einen verleiht dies der Handlung Struktur und zum anderen kann das Wissen um ihre Eigenschaften für Situationen außerhalb der Erzählung genutzt werden.

4. Die historische Dietrichepik

Der Gegenstand dieser Textgruppe von Epen ist die Fluchtsage.26,,Dietrichs Flucht“, das auch als „Buch von Bern bezeichnet wird, die ,,Rabenschlacht“ sowie „Alpharts Tod“ schaffen die Exilsituation, an die „Dietrich und der Wenezlan“ anknüpft.27 Die beiden erstgenannten Werke sind die Teile eines gemeinsam überlieferten Epos, dessen Inhalt zyklisch miteinander verknüpft ist.28 Sie gelten als Hauptwerke der historischen Dietrichepik. In allen vier überlieferten Handschriften tauchen sie als Einheit auf, unterscheiden sich in ihrer metrischen Form aber deutlich voneinander. Während „Dietrichs Flucht“ in 10152 Reimpaarversen gegliedert ist, wurde die „Rabenschlacht“ in 1140 sechsversigen Strophen verfasst.29 Der Inhalt der Epen soll nun kurz wiedergegeben werden.

[...]


1 Bern ist die, im Mittelalter gebräuchliche, germanische Bezeichnung für Verona. vgl. Achim Masser: Von Theoderich dem Großen zu Dietrich von Bern. Die Wandlung der historischen Person zum Sagenhelden. In: Der Schlern 58. Heft 1. Bozen: Athesia 1984, S. 635.

2 vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. New York, Berlin: De Gruyter 1999, S. 1.

3 Achim Masser: Von Theoderich dem Großen zu Dietrich von Bern, S. 638.

4 vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, S. 1.

5 Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 9.

6 vgl. ebenda, S. 15.

7 vgl. ebenda, S. 9.

8 vgl. ebenda, S. 19.

9 vgl. ebenda, S. 25.

10 Unter einem Grapholekt wird eine jenseits von Dialekten angesiedelte Sprache verstanden, die aus einer Verpflichtung zum Schreiben entsteht.

11 vgl. ebenda, S. 10. Hierzu zählen das Telefon, das Radio und auch das Fernsehen.

12 ebenda, S. 16.

13 vgl. ebenda, S. 24.

14 vgl. ebenda. S. 25.

15 vgl. ebenda, S. 26f.

16 vgl. ebenda, S. 27.

17 Unter Formeln werden hier mehr oder minder exakt wiederholte Phrasen oder Ausdrücke in Versform oder Prosa verstanden.

18 vgl. ebenda, S. 62

19 vgl. ebenda, S. 39.

20 Der Begriff Mnemotechnik subsumiert Methoden, die den Einprägungsvorgängen von Wissen dienen.

21 vgl. ebenda, S. 40. Epitheta ornantia sind Beiwörter, welche einen rein ‚schmückenden‘ Charakter haben und oftmals formelhaft wiederkehren.

22 vgl. ebenda, S. 45.

23 ebenda, S. 50.

24 ebenda, S. 49.

25 vgl. ebenda, S. 73.

26 vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, S. 32

27 Da sich dieser Text Handlungsmuster von aventuirehafter und historischer Dietrichdichtung verknüpft, steht er zwischen den beiden Gruppen. vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, S. 32f.

28 vgl. ebenda, S. 58.

29 vgl. ebenda, S. 63.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die "Rabenschlacht" und die Theorie der oralen Dichtung
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Deutsches Seminar)
Veranstaltung
Einführung in die Dietrichepik
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
19
Katalognummer
V293123
ISBN (eBook)
9783656903000
ISBN (Buch)
9783656903017
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rabenschlacht, theorie, dichtung
Arbeit zitieren
Marcus Straubmüller (Autor:in), 2009, Die "Rabenschlacht" und die Theorie der oralen Dichtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293123

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