„Das Bild des schmerzens u der Leidenden Natur eines liebevollen Vaters“

Die Interpretation des fehlenden Schreiens der Laokoonfigur durch deutschsprachige Italienreisende im 18. Jahrhundert


Hausarbeit, 2012

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


1. Einleitung

Kein anderes Werk der antiken Freiplastik formuliert derart zugespitzt das Pathos leidender Opfer und führt die Verzweiflung, das Leiden und die Angst der vom Tod Bedrohten derart eindringlich dem Betrachter vor Augen wie die Statue des Laokoon und seiner Söhne im Vatikan[…].1

Diese Aussage von Susanne Muth (1967) gibt in wenigen Worten wieder, was die Menschen des 18. Jahrhunderts an dieser Statue faszinierte. Die im Jahr 1506 durch Michelangelo in einem zugemauerten Gewölbe in der Nähe von San Pietro in Vinculi wiedergefundene Laokoongruppe übertraf viele Erwartungen, die bei der Kunde nach dem Fund in Umlauf gewesen seien. Die Statue war durch die Schriften Plinius des Älteren (ca. 23-79 n. Chr.) gesichert und nicht in Vergessenheit geraten, denn er schrieb über jenes, dass es ein unvergleichliches Werk der Bildhauerkunst sei und, dass er kein Werk der Malerei kenne, welches mit ihm vergleichbar wäre.2 Für das 18. Jahrhundert und ganz besonders für die Klassik sei die Hochschätzung des Lakoon erhalten geblieben, da er ihrem eigenen Griechenlandbild und der darin hineingelegten Idealität der Antike entgegen gekommen sei.3

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Deutungsebene des Laokoons durch verschiedene Autoren und Reisende nach Italien des 18. Jahrhunderts. Dabei soll der Schwerpunkt auf der vieldiskutierten und im ersten Moment kaum nachvollziehbaren Mundstellung Laokoons gelegt werden, die durch die individuellen Eindrücke ganz unterschiedlich ausgedeutet werden. Es wird untersucht, inwiefern die Reise und die damit verbundene Erfahrung sich auf die Argumentationsstruktur zur Stützung der eigenen Interpretation auswirken und wie die Deutungen miteinander zusammenhängen.

Dafür ist es zunächst notwendig den Urheber der klassischen Archäologie und der Kunstgeschichte Johann Joachim Winckelmann (1717-1768)4 und dessen Erstlingswerk Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst5, sowie dessen nachfolgende Texte auf deren Gehalt an der Deutungsebene über die Stellung des Mundes und den vermeintlichen Seufzer zu analysieren. Anschließend werden zwei Gegenpositionen in der Rezension Winckelmanns, nämlich Aloys Hirt (1759-1837) und dessen Aufsatz in den Horen und einige von Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) verfasste Darstellungen vorgestellt und miteinander verglichen. Den Abschluss bildet Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739-1807), deren Verständnis von der Statue noch einmal ein völlig anderes ist, da sie sich quasi als Laie und eben nicht als Gelehrte, über die Laokoongruppe äußert.

Viele Wissenschaftler zahlreicher Fachrichtungen, wie der Kunstgeschichte6, der Anthropologie7, Archäologie8 oder der Literaturwissenschaft haben sich mit der Skulptur des Laokoons beschäftigt. Meist geht man von den Deutungen durch Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe und Schiller aus, da diese, außer Goethe und Schiller, da sich letzterer sehr an Goethe orientiert, ganz unterschiedliche Positionen vertreten.9 Allerdings liegt das Augenmerk meist auf den verschiedenen Verhältnissen von Kunst zu Natur und umgekehrt und nutzt dafür die verschiedenen Aussagen über die Statue. Diese Arbeit beschäftigt sich aber ausschließlich mit der Frage nach dem fehlenden Schrei in der Vaterfigur und geht auf andere Aspekte, z.B. des Körperbaus nur bedingt ein, also insofern dies notwendig für die Interpretation sei. Außerdem wird die Bedeutung der Reiseerfahrung eine tragende Rolle spielen, sowie eben das Verständnis durch eine Herzogin, die eben keine wirklich eigene Deutung aufwirft, sondern sich an den anderen orientiert und lediglich ihr Gefühl in dem Moment des Erblickens der Laokoongruppe beschreibt.

2. Laokoon bei Johann Joachim Winckelmann

Winckelmanns Kunstgeschichte [...], ist ein brauchbares Werk, das ich gleich angeschafft habe und hier am Orte in guter, auslegender und belehrender Gesellschaft sehr nützlich finde.10

Ebenso wie Johann Wolfgang von Goethe haben auch andere Reisende durch Italien Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums11 benutzt, um die dort gesehen Werke durch fundiertes Wissen zu erkunden. Eines der größten und bedeutendsten bildet hierbei die Statue des Laokoon, welche bei Johann Joachim Winckelmann folgendermaßen beschrieben wird:

Laokoon ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die bewußte Stärke des Geistes gegen den selben zu sammeln sucht; und indem sein Leiden die Muskeln aufschwellt und die Nerven anzieht, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen Stirn hervor, und die Brust erhebt sich durch den beklemmten Atem und durch Zurückhaltung des Ausbruchs der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange Seufzen, welches er in sich und den Atem an sich zieht, erschöpft den Unterleib und macht die Seiten hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urteilen läßt.[…] Sein Gesicht ist klagend, aber nicht schreiend, seine Augen sind nach der höheren Hilfe gewandt.12

Besonders zu beachten gilt hierbei, dass Winckelmann von „Zurückhaltung des Ausbruchs der Empfindung“ spricht. Diese Aussage, die von einem betont gedämpften Ausdruck im Leiden spreche, sei eindeutig eine Fehleinschätzung Winckelmanns gewesen.13 Als dieser sein erstes Werk Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) in Bezug auf die Kunst des Altertums veröffentlichte und darin von einem „[…] ängstliche[n] und beklemmente[n] Seufzen“14 der Vaterfigur sprach, sollte dies nicht die letzte Interpretation des 18. Jahrhunderts über die Gruppe sein. Die Schrift Winckelmanns bildet dafür eine Grundlage und kann als Zeichen des Umbruchs zwischen zwei Epochen gesehen werden, da sich schon sein längeren in bürgerlichen und akademischen Kreisen ein Widerstand gegen die Banalisierung antiker Figuren regte. Die Vernunft habe nach einer Umkehr verlangt. Schöne Künste und deren Nutzen sollten wieder eine ernsthafte Angelegenheit werden.15 Diese Umkehr verlangte ein neues, oder besser formuliert, ein erneuertes Schönheitsideal, da die hellenistische Klassik durchaus als Vorlage des barocken Manierismus gegolten habe.16 Winckelmann sieht für sich demnach die Aufgabe, die griechischen Meister noch einmal neu zu interpretieren und findet dabei die Worte von edler Einfalt und stiller Größe17, was allen griechischen Werken innewohnt und deshalb nachgeahmt werden müsse. Im Falle des Laokoon sah er sich „[…] mit einem der berühmtesten Werke der Antike konfrontiert an dem er nun […] seine Ideen, Theorien, Überzeugungen entwickelt“18. Die stille Größe wird seiner Ansicht nach durch die „[…] bewußte Stärke des Geistes“19 und der willentlichen Beherrschung des Schmerzes20 angesichts der Todesgefahr ausgedrückt und dient als Mittel inhaltlich-ethischer Charakterisierung des Helden.21

Winckelmann legte mit seinem Standartwerk und der Interpretation des Laokoon eine Norm fest, da erst durch ihn die Statue, die vorher lediglich als einzigartiges Kunstwerk bewundert wurde, in die Geschichte der griechischen Kunst eingeordnet worden sei.22 Worauf diese stille Größe aber fußen soll, führte zu häufigen Kontroversen, besonders in Bezug auf die Stellung des Mundes, die aufgrund des Sehens des Originals in Rom durch die zahlreichen Reisen verschiedenster Persönlichkeiten entstanden. Winckelmann selbst revidierte sein Urteil über Laokoon, als er diesen erstmals real bei seiner Übersiedelung nach Rom im Jahr 1755 erblickte. Art und Weise der Betrachtung sei nun vollkommen verändert, denn die Beschreibung eines fleischlosen Ideals sei einer anatomischen, geradezu Detail-versessenen Untersuchung gewichen23, wie der Ausschnitt über die Beschreibung der Mundstellung zeigt:

Der Mund ist zwar offen, aber auch eine Art so mehr ein ängstliches Klagen und Schmertz ausdrückt als ein starkes Schreien. Dieses ist eine sehr natürliche und vernünftige expression weil ein großes Schmertz nicht erlaubt den Mund weit zu eröfnen in dem er die Nerven und Sehnen aber zusammenziehet so wäre <der Mund> ein mehr eröfneter Mund eine Ausdrückung eines Erschreckens und nicht des Schmertzens wahrhafte Vorstellung.24

Winckelmann weicht nicht von seiner Vorstellung eines unterdrückten Schreiens zurück, aber er unterstützt seine vorherige Aussage durch medizinische Erklärungen. Gleichzeitig wird das Seufzen durch ein „ängstliches Klagen“ ersetzt, was nichts von der interpretierten Größe Laokoons durch Winckelmann einbüßt, aber ihm realistischere, weniger literarisch überzeichnete, menschliche Regungen verleiht. Das Florentiner Manuskript wurde nie publiziert25 und deshalb ist davon auszugehen, dass zwar Winckelmann einsah, dass er die Figur nicht richtig gedeutet hatte, aber seine erste Interpretation in den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, dennoch als Möglichkeit nicht ausschließt. Der Seufzer ist auch 1764 in der Geschichte des Altertums noch präsent, aber es zeigt sich, dass die Gedanken des Florentiner Manuskriptes in die Überlegungen zu dem neuen Werk mit eingeflossen sind, da das „ängstliche und beklemmende Seufzen“26 lediglich durch ein „banges Seufzen“27 ersetzt wurde und auch sonst das Werk mit mehr physischen als literarischen Worten, wie das Auslassen des Vergleichs mit dem Meer28, beschrieben wird.

Winckelmann habe zwar mit seinem Werk den Barockgeschmack und die in Arabeske verliebte, an Schnörkeln sich aufrichtende, durch die Allegorie bestärkte Rokokostimmung überwunden29, aber um seine Theorien auch am Laokoon bewiesen zu wissen, musste er das beunruhigende Meisterwerk rationalisieren und seine Deutung in ein von ihm selbst entwickeltes System eingepasst werden.30 Dies führt zu heftigen literarischen Auseinandersetzungen, vor allem mit Aloys Hirt und Johann Wolfgang von Goethe, die im Folgenden genauer beschrieben werden.31

[...]


1 Susanne Muth: Leid als mediales Phänomen. Der Laokoon im Kontext antiker Gewaltikonographie. In: Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions „Laokoon in Literatur und Kunst“ vom 30.11.2006, Universität Bonn, hrsg. von Dorothee Gall und Anja Wolkenhauer. Berlin 2009 (=Beiträge zur Altertumskunde, Band 254), S. 54-66, hier: S. 54.

2 Vgl. Horst Althaus: Laokoon. Stoff und Form. 2. erweiterte Auflage Tübingen [u.a] 2000, S. 5.

3 Vgl. Ebd.

4 Vgl. Erik Forssman: Edle Einfalt und stille Größe. Wickelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst von 1755, hrsg. von Noberto Gramaccini. Freiburg i.Br. [u.a.] 2010 (=Quellen zur Kunst, Band 32), S. 7.

5 Johann Joachim Winckelmann: Werke. In einem Band, hrsg. von Helmut Holtzhauer. 2. Auflage, Berlin [u.a.] 1976.

6 Erik Forssmann (siehe Anmerkung 4).

7 Inka Müller-Bach (siehe Anmerkung 30).

8 Susanne Muth (siehe Anmerkung 1).

9 Ein sehr guten Überblick über deren verschiedenen Positionen bildet die Monographie von Horst Althaus (siehe Anmerkung 2)

10 Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. Auch ich in Arkadien!. Neue Ausgabe, Frankfurt/Main 2009, S. 157.

Seite 4 von 19

11 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, hrsg. von Wilhelm Senff. Weimar 1964.

12 Ebd., S. 277.

13 Vgl. Susanne Muth: Leid als mediales Phänomen, S. 54.

14 Johann Joachim Winckelmann: Werke, S. 18.

15 Vgl. Erik Forssman: Edle Einfalt und stille Größe, S. 16.

16 Vgl. Horst Althaus: Laokoon, S. 15.

17 Johann Joachim Winckelmann: Werke. S. 17-18.

18 Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann: Stadien und Quellen seiner Auseinandersetzung mit der Laokoongruppe. In: Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions „Laokoon in Literatur und Kunst“ vom 30.11.2006, Universität Bonn, hrsg. von Dorothee Gall und Anja Wolkenhauer. Berlin 2009 (=Beiträge zur Altertumskunde, Band 254), S. 228-241, hier: S. 230.

19 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, S. 277.

20 Vgl. Ebd.

21 Vgl. Susanne Muth: Leid als mediales Phänomen, S. 55.

22 Vgl. Erik Forssman: Edle Einfalt und stille Größe, S. 50.

23 Vgl. Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann, S. 238.

24 Johann Joachim Winckelmann: Il manoscritto fiorentino. Das Florentiner WinckelmannManuskript, hrsg. und kommentiert von Max Kunze. Florenz 1994, S. 10-11.

25 Vgl. Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann, S. 239.

26 Johann Joachim Winckelmann: Werke, S. 18.

27 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, S. 277.

28 „So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch wüten, ebenso zeigt sich der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.

29 Vgl. Horst Althaus: Laokoon, S.12.

30 Vgl. Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann, S. 230.

31 Auch Lessing, Schiller und Herder haben sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt. Deren Ansicht kann aber aufgrund des begrenzten Umfanges der Arbeit nicht weiter ausgeführt werden.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
„Das Bild des schmerzens u der Leidenden Natur eines liebevollen Vaters“
Untertitel
Die Interpretation des fehlenden Schreiens der Laokoonfigur durch deutschsprachige Italienreisende im 18. Jahrhundert
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Reiseliteratur
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
18
Katalognummer
V200237
ISBN (eBook)
9783656263999
ISBN (Buch)
9783656264941
Dateigröße
631 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Italienische Reise, Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, Anna Amalia, Italien, Reisebericht, Laokoon
Arbeit zitieren
Christina Gierschick (Autor:in), 2012, „Das Bild des schmerzens u der Leidenden Natur eines liebevollen Vaters“ , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/200237

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