1 Einleitung

Seinen Beitrag „Mikroökonomie heute: Ihre Bedeutung im Konzert der Methoden“ leitet Joachim Weimann mit der Feststellung ein, für die „Auseinandersetzung zwischen heterodoxer und Mainstream Ökonomik“ sei von zentraler Bedeutung, welche Methoden geeignet sind „um erfolgreich wirtschaftswissenschaftliche Forschung betreiben zu können“ (S. 6)Footnote 1. Was als erfolgreich gelten kann, will er an dem Ziel messen, „möglichst allgemeine intersubjektiv überprüfbare Sätze über kausale Zusammenhänge abzuleiten“ (S. 7). Auch wirtschaftswissenschaftliche Forschung strebe „letztlich die Aufdeckung von Kausalzusammenhängen in der realen Welt an“. An diesem Ziel und „an der intersubjektiven Überprüfbarkeit von Aussagen müssen sich“, so Weimann, „alle Methoden, die in den Werkzeugkasten der Ökonomen wollen, messen lassen – ob sie sich nun orthodox oder heterodox nennen“ (S. 7).

Weimann möchte also ausdrücklich konkurrierende Ansätze in der Ökonomik an den Anforderungen messen lassen, die für eine Erfahrungswissenschaft gelten, also eine Wissenschaft, die empirisch gehaltvolle, nomologische Hypothesen, also empirisch widerlegbare „Wenn-Dann“ Aussagen aufstellt. Und die Hauptthese seines Beitrages ist, dass die heutige Mikroökonomik diesem Kriterium gerecht wird. Den Vorwurf des „Modell-Platonismus“, den Hans Albert (1965c [1963]) vor fünf Jahrzehnten gegen den neoklassischen Ansatz erhoben hat und auf den er ausdrücklich Bezug nimmt (S. 21), will Weimann jedenfalls für die heutige Mainstream Ökonomik nicht mehr gelten lassen.

Im Sinne der Konzeption dieses Sonderheftes ist es meine Aufgabe, Weimanns Verteidigung des Mainstream aus der Sicht eines anderen Forschungsprogramms zu kommentieren. Nun sieht sich das von mir vertretene Programm einer Ökonomik, die sich als eine verhaltenstheoretisch basierte Sozialwissenschaft versteht, ausdrücklich dem Maßstab verpflichtet, an dem Weimann die Tauglichkeit konkurrierender wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze gemessen sehen will. In meinem Kommentar werde ich mich daher auf die Frage konzentrieren können, ob die von Weimann angeführten Argumente in der Tat den Anspruch begründen können, dass die heutige Mainstream Ökonomik als Erfahrungswissenschaft gelten kann, die ihre Erklärungen auf intersubjektiv überprüfbare nomologische Hypothesen stützt. Ich werde zu dem Urteil kommen, dass dies zumindest für die von Weimann vertretene Version nicht der Fall ist, und argumentieren, dass die Mikroökonomik, will sie als Erfahrungswissenschaft gelten, die „Kausalzusammenhänge in der realen Welt“ aufzeigt, auf einer empirisch gehaltvollen Verhaltenstheorie aufbauen muss statt auf dem von Weimann propagierten Rationalmodell.

Mein Beitrag ist wie folgt gegliedert. Teil 2 dient der Klärung einiger methodologischer Fragen erfahrungswissenschaftlicher Forschung. Teil 3 unterzieht Weimanns Darstellung des heutigen Stands der Mainstream Ökonomik einer kritischen Analyse. Teil 4 behandelt Weimanns These der Komplementarität von axiomatischer Mikrotheorie und empirischer Verhaltensökonomik. Teil 5 wirft noch einmal einen näheren Blick auf den methodologischen Status des Rationalmodells. Der abschließende Teil 6 skizziert das Forschungsprogramm einer verhaltenstheoretischen Ökonomik als Alternative zu dem von Weimann vertretenen Programm.

2 Einige methodologische Klärungen

Wenn Weimann, wie erwähnt, betont, dass wirtschaftswissenschaftliche Forschung an dem Anspruch zu messen sei, überprüfbare Behauptungen über Kausalzusammenhänge in der realen Welt aufzustellen, dann lässt das den Schluss zu, dass er für die Mainstream Ökonomik den Anspruch erheben will, sie sei eine nomologische Erklärungen bietende Erfahrungswissenschaft. Seine Argumentation ist jedoch durchgängig von Mehrdeutigkeiten geprägt, die dieses scheinbar klare Bild trüben und es dem Leser schwer machen, zu erkennen, welche Vorstellungen er genau mit diesem Anspruch verbindet. So liest man etwa mit Verwunderung seine Feststellung, dass „mit Intersubjektivität nicht die Forderung nach Wertfreiheit verbunden“ sei, sei doch die „prinzipielle Unmöglichkeit von wertfreier Wissenschaft“ schon lange geklärt, und dass es nur darum gehen könne, „die unvermeidlichen Werturteile … in der sogenannten Wertbasis der Theorie“ auszuweisen. Als Beispiel für die „Unvermeidbarkeit von Werturteilen“ führt Weimann dabei an, dass „die Entscheidung, worüber eine Aussage gemacht wird, eine Wertung enthalten kann“ (S. 7).

Nun hat zu diesem Thema Hans Albert (1956, 1965b [1963]) bereits vor geraumer Zeit Klärendes gesagt, indem er darauf hingewiesen hat, dass man, will man heillose Verwirrung vermeiden, bezüglich der „methodologischen Wertproblematik der Sozialwissenschaften“ strikt zwischen drei Problemen unterscheiden müsse, dem „Problem der Wertbasis der Sozialwissenschaften“, dem „Problem der Wertungen im Objektbereich der Sozialwissenschaften“ und dem „eigentliche(n) Werturteilsproblem“, der Frage der Vermeidbarkeit von Werturteilen in den Behauptungen, die Sozialwissenschaftler über ihren Gegenstand aufstellen (1965b [1963]: 189). Dass wissenschaftliche Forschung auf Werturteilen basiert, allein schon deshalb, weil die Auswahl von Forschungsthemen Wertungen (etwa bezüglich der Relevanz) impliziert, ist ebenso unstrittig wie die Tatsache, dass sozialwissenschaftliche Forschung den Wertungen Rechnung tragen muss, die das ihren Gegenstand bildende menschliche Handeln leiten. Dass Werturteile in diesem Sinne in der Wertbasis und im Objektbereit einer Sozialwissenschaft wie der Ökonomik „unvermeidbar“ sind, bedeutet jedoch keineswegs, dass Ökonomen die Behauptungen, die sie über ihren Gegenstand aufstellen, nicht von Werturteilen frei halten können – und dies müssen, wenn sie ihre Disziplin als überprüfbare Hypothesen über Zusammenhänge in der „realen Welt“ aufstellende Erfahrungswissenschaft betreiben wollen.Footnote 2

Wie vor diesem Hintergrund Weimanns Aussage zu verstehen ist, dass seine Bemerkungen zum Verhältnis von Intersubjektivität und Wertfreiheit „insbesondere im Hinblick auf die Mikrotheorie von besonderer Bedeutung sei“ (S. 7), bleibt für den Leser im Dunkeln, bezeichnet Weimann doch – worauf zurückzukommen sein wird – die Mikrotheorie an späterer Stelle als „normativer Theorie, die von axiomatisch gesetzten Annahmen ausgeht“ (S. 17), stellt aber auch wiederum fest, dass der Rückgriff auf Werturteile aus einer Behauptung „eine unwissenschaftliche, weil nicht überprüfbare Aussage machen“ (S. 12) würde. Zur Erhellung trägt auch seine Feststellung nicht bei, „die Annahme, dass Menschen bei ihren Wahlhandlungen Intransitivitäten vermeiden“ – eine, wie man annehmen sollte, Tatsachenbehauptung –, sei „Bestandteil der Wertbasis der Theorie“ und „ein relativ harmloser Teil der ökonomischen Werturteile“ (S. 10).

Eine weitere durchgängige Mehrdeutigkeit in Weimanns Argumentation hängt mit seiner Redeweise von den „Methoden“ zusammen, denen im „Werkzeugkasten der Ökonomen“ (S. 8) ein Platz gebührt. Auch hier hilft es der Klarheit, wenn man Hans Alberts (1965a [1957]: 129) Erläuterungen zum Unterschied zwischen dem „Entdeckungszusammenhang“ und dem „Begründungszusammenhang“ wissenschaftlicher Aussagen beherzigt, also zwischen der Frage der Hypothesengewinnung und der Hypothesenüberprüfung. Wenn Weimann als Repräsentanten der Heterodoxie einen „marxistischen Ökonomen“ anführt, der auf seine Frage, „welche Methoden“ er benutze, „um zu seinen Aussagen zu gelangen“, geantwortet habe, „dass er auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen, subjektiver Einschätzungen und Introspektion arbeite“, so rechtfertigt diese Antwort per se keineswegs Weimanns Urteil, eine solche Methodik könne „elementaren Anforderungen an Wissenschaftlichkeit nicht genügen“ (S. 6). Dafür, wie Forscher zu ihren Behauptungen kommen, gibt es keinen vordefinierten Kanon zulässiger Methoden. Aus welchen Quellen sie auch immer ihre Inspiration schöpfen und auf welche Weise sie zu ihren Vermutungen über Zusammenhänge in der realen Welt gelangen, für eine Erfahrungswissenschaft entscheidend ist, dass sie diese Vermutungen als intersubjektiv überprüfbare Hypothesen formulieren (und dies nicht zu tun, ist möglicherweise der Vorwurf, den Weimann dem „marxistischen Ökonomen“ machen möchte). Für die Methoden, die zur Überprüfung solcher Hypothesen dienen können, gibt es wissenschaftliche Standards, die „subjektive Einschätzungen und Introspektion“ in der Tat als für den „Werkzeugkasten“ einer erfahrungswissenschaftlichen Ökonomik ungeeignet ausschließen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass es nicht primär ihre Forschungsmethoden sind, die die Ökonomik als Erfahrungswissenschaft qualifizieren, sondern die intersubjektive Überprüfbarkeit der Hypothesen, die sie über Zusammenhänge in der realen Welt aufstellt. Die entscheidende Frage ist, inwieweit die „Mainstream Ökonomik“ in diesem Sinne auf einer erfahrungswissenschaftlichen Theorie beruht.

3 „Mikroökonomik heute“

„Das Bild, das die wirtschaftswissenschaftliche Methodik abgibt“, so betont Weimann, habe sich „seit der Mitte der 80er Jahre massiv verändert“ (S. 15), und die heutige Mainstream Ökonomik sei durch eine „bemerkenswerte Methodenvielfalt“ gekennzeichnet. Diese Methodenvielfalt sieht er durch zwei Komponenten repräsentiert, und zwar auf der einen Seite durch die „axiomatische Modelltheorie (einschließlich allgemeiner Gleichgewichtsmodelle)“ (S. 20), die, wie er bemerkt, „lange Zeit eine sehr dominante Stellung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft einnahm“, und andererseits „eine sehr starke empirische Forschung (einschließlich der Mikroökonometrie), die experimentelle Wirtschaftsforschung und die Verhaltensökonomik“, die, so Weimann, „als starke Partner der Modelltheorie hinzugekommen“ (S. 8) seien.

Wenn Weimann im Hinblick auf die beiden Komponenten von einer Methodenvielfalt spricht, „die die Ökonomik heute prägt“ (S. 9), so ist im Sinne des oben Gesagten daran zu erinnern, dass zwischen der Frage, welcher Art die theoretischen Aussagen sind, die die Ökonomik über ihren Gegenstand macht, und der Frage, welche Forschungsmethoden sie zur Überprüfung ihrer Hypothesen heranzieht, ein grundlegender Unterschied besteht. Die Modelltheorie oder „Mikrotheorie“ (S. 14) einerseits und die Mikroökonometrie oder die Labor- und Feldexperimente andererseits gleichermaßen unter dem Titel „Konzert der Methoden“ zu subsumieren verwischt den grundlegenden Unterschied zwischen den Behauptungen, die die Ökonomik als zur Erklärung dienende Hypothesen aufstellt, und den Forschungsmethoden, die sie zu Überprüfungszwecken anwendet. Erstere sind daran zu messen, inwieweit sie der Aufgabe gerecht werden, „intersubjektiv überprüfbare Sätze über Kausalzusammenhänge“ (S. 7) zu formulieren, die die Ökonomik als nomologische Hypothesen ihren Erklärungen zugrunde legen kann. Letztere sind daran zu messen, inwieweit sie geeignet sind, Sachverhalte aufzudecken, die für die Hypothesenüberprüfung von Relevanz sind.

Was nun die Modelltheorie oder Mikrotheorie anbelangt, so ist es für den Leser nicht leicht, aus Weimanns Ausführungen ein klares Bild davon zu gewinnen, welchen Anspruch er bezüglich des Aussagegehalts dieser Theorie erheben will. Sie habe, wie er betont, „das Rationalmodell als Grundlage“ (S. 22), das in zwei Teile falle, einerseits Annahmen über die Präferenzen eines Entscheiders, also seine Wertungen „in Bezug auf die Elemente der Auswahlmenge“, und andererseits „das eigentliche rationale Kalkül, das darin besteht, sich konsistent im Hinblick auf diese Präferenzen zu verhalten“. Das rationale Kalkül ist, so Weimann, aus „Sicht der Theorie … der entscheidende Teil des Rationalmodells“ (S. 11), da es erlaubt, „Entscheidungsvorgänge als reine Optimierungsakte abzubilden“ (S. 9). Es sorge dafür, „dass Psychologie überflüssig ist, und die Mathematik zur universellen Verhaltenstheorie werden kann“ (S. 11).

Der Leser, dem sich angesichts solcher Aussage die Frage aufdrängt, welchen Beitrag zum Erkenntnisziel der „Aufdeckung von Kausalzusammenhängen in der realen Welt“ (S. 8) man von einer Optimierungskalküle abbildenden Mathematik erwartet werden kann, erfährt, dass dafür „(m)athematisch Modelle, wie sie die neoklassische Mikrotheorie benutzt, … in idealer Weise geeignet“ (S. 14) seien. Als axiomatische Systeme würden sie es erlauben, mit den „Mitteln der Logik“ einen „perfekten Kausalzusammenhang“ zwischen „Modellannahmen und Modellergebnis“ aufzuzeigen, der einer „intersubjektiven Überprüfung“ zugänglich sei, „die sich nicht nur darauf beschränken muss, die vorläufige Nicht-Falsifizierung festzustellen, sondern die die Wahrheit des Zusammenhangs feststellen kann“. Der Leser, der sich über solch eigenwillige Auslegung erfahrungswissenschaftlicher Methodologie wundert, erfährt dann allerdings, es liege in der Natur der Sache, „dass sich ein axiomatisches Modell der unmittelbaren Konfrontation mit der Realität“ versage. Der in einem solchen Modell bewiesene Kausalzusammenhang sei „elementar auf die Gültigkeit der axiomatisch formulierten Annahmen des Modells angewiesen“. Ob „er auch in realen Kontexten“ existiere, sei „damit nicht gezeigt“. Dieser Umstand, den er als „Schönheitsfehler“ (S. 13) bezeichnet, möge zwar, wie Weimann meint, für die Ökonomen ein Problem sein, angesichts der Tatsache, dass sie „wenigstens Kausalitäten zweifelsfrei ausmachen“ konnten, sei es „aber eines, um das andere Disziplinen die Ökonomen eigentlich beneiden sollten“. Was daran für andere, sich als Erfahrungswissenschaften verstehende Disziplinen, beneidenswert sein sollte, führt Weimann nicht näher aus. Immerhin räumt er ein, das damit verbundene „prinzipielle Problem“ sei „in der hohen Zeit der Mikroökonomik nicht wirklich ernsthaft“ angegangen worden, mit der Folge, „dass sich die Mikroökonomik losgelöst von realen Kontexten und realen Fragen und Problemen entwickeln konnte“ (S. 15).

Die auf dem Rationalmodell basierende Mikrotheorie sagt also selbst, wie Weimann konzediert, nichts über Kausalzusammenhänge in der „realen Welt“ aus, sie informiert lediglich darüber, was in einer Welt der Fall wäre, auf die die axiomatisch vorausgesetzten Annahmen zutreffen würden. Diese „Abkapselung der Mikrotheorie von der Realität“, sei, so Weimann, „letztlich auch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zunehmend als Problem wahrgenommen“ worden. Allerdings hat in seiner Darstellung der Wunsch, „eine stärkere Verbindung zur Realität herzustellen“ nicht zu Bemühungen um eine Revision der Mikrotheorie hin zu einer empirisch gehaltvollen Verhaltenstheorie geführt, sondern lediglich zur „Entwicklung besserer empirischer Methoden“ (S. 16), die der unveränderten Mikrotheorie „als starke Partner“ (S. 8) an die Seite gestellt wurden.Footnote 3

Nun wurde oben bereits erörtert, dass empirische Methoden, wie die Ökonometrie oder die experimentelle Ökonomik keinen Ersatz für eine empirisch gehaltvolle Theorie bieten können, sondern eine Theorie voraussetzen, aus der sich überprüfbare Hypothesen ableiten lassen. Als eine solche Theorie kommt aber die neoklassische Mikrotheorie aus den von Weimann selbst genannten Gründen nicht in Betracht. Die Hypothesen, die mit den Instrumenten der empirischen Wirtschaftsforschung überprüft werden, müssen also aus anderen Quellen stammen. Es sind entweder, was häufig der Fall sein dürfte, ad hoc formulierte Vermutungen, oder sie sind aus anderen Theorien als der „Modelltheorie“ hergeleitet. Als eine solche Quelle kommt etwa die Verhaltensökonomik in Betracht, die Weimann zwar mit der Mikroökonometrie und der experimentellen Ökonomik den „Methoden“ zurechnet, bei der es sich aber um einen sich vom Rationalmodell absetzenden Ansatz zur Verhaltenserklärung handelt. Bricht sie doch, wie Weimann feststellt, „radikal mit dem Rationalmodell“ und erhebt den Anspruch, „alle Annahmen zu menschlichem Verhalten empirisch zu begründen“ (S. 19). Ungeachtet dieser Sachlage besteht Weimann darauf, dass die Mikrotheorie weiterhin einen wesentlichen Beitrag im Rahmen der heutigen Mainstream Ökonomik zu leisten hat. Den Schlüssel zum Verständnis dieses Beitrages sieht der dabei im Begriff der „Komplementarität“, dessen Bedeutung, so bemerkt er, sich am besten am Beispiel Reinhard Seltens erläutern lasse, „der wie kein zweiter Ökonom sowohl das Rationalmodell als auch die Verhaltensökonomik vorangebracht“ (S. 21) habe.

4 Die Komplementaritätsthese

Durch die nicht-kooperative Spieltheorie, so stellt Weimann fest, habe die Mikrotheorie „eine sehr wichtige und bedeutsame Verstärkung erfahren“ (S. 8), und es seien gerade Seltens – mit dem Nobelpreis ausgezeichneten – Beiträge zur Spieltheorie gewesen, die mit seinem Namen verbunden werden. Gleichzeitig habe Selten jedoch auch die Überzeugung ausgedrückt, „dass Menschen nicht optimieren“ und dass deshalb für die Erklärung dessen, „was reale Menschen tun, … das Rationalmodell … vollkommen ungeeignet“ sei. Auf den Widerspruch angesprochen, dass er in seinen Arbeiten „einerseits extreme Rationalität unterstellt und andererseits Optimierung ausschließt“, habe Selten geantwortet, „dass er sich selbst als methodischer Dualist verstehe“.

Nun lässt sich aus dem Umstand, dass ein bestimmter Forscher wie Reinhard Selten es sich zur Aufgabe macht, zwei unterschiedlich theoretische Sichtweisen gleichzeitig zu verfolgen – also einerseits „darüber nachzudenken, was denn die strikt rationale Lösung sei“, und andererseits zu erforschen, „was reale Menschen tun“ (S. 21) –, wohl keineswegs folgern, dass diese Sichtweisen sich zu einem kohärenten Forschungsprogramm verbinden lassen. Eben dies unterstellt aber Weimann, wenn er meint, Seltens methodischer Dualismus lasse „das Rationalmodell und die Verhaltensökonomik als komplementäre Elemente erscheinen“ (S. 22). Darunter versteht er ein arbeitsteiliges Verhältnis, bei dem die Mikrotheorie, die er nunmehr als „normative Theorie“ (S. 21) apostrophiert,Footnote 4 die Aufgabe übernimmt, festzustellen, „was die rationale Lösung wäre“, während der Verhaltensökonomik die Aufgabe zufällt, „die Abweichungen von dieser Lösung, die die Defizite menschlicher Entscheidungen aufzeigen“ (S. 22), zu identifizieren. Die „normative Mikrotheorie“, unter der man wohl eine Theorie verstehen muss, die sagt, wie sich ein perfekt rationaler Akteur verhalten sollte, übernimmt nach Weimann „die Funktion einer Benchmark“ (S. 27), die, so meint er, die Verhaltensökonomik als „Bezugspunkt“ benötige, „um Defizite der Realität besser erkennen und verstehen zu können“ (S. 22).

Die im gegebenen Zusammenhang zu prüfende Frage ist, inwieweit das von Weimann beschworene „Zusammenspiel“ von normativer Mikrotheorie und empirischer Verhaltensökonomik die wirtschaftswissenschaftliche Forschung ihrem deklarierten Ziel näher zu bringen verspricht, „Kausalzusammenhänge in der realen Welt“ (S. 8) aufzuzeigen oder, anders formuliert, empirisch gehaltvolle Hypothesen über realweltliche Zusammenhänge aufzustellen. In Erfahrungswissenschaften verläuft das Zusammenspiel von Theorie und empirischer Forschung üblicherweise so, dass der Theorie hartnäckig widersprechende empirische Befunde zu Bemühungen um eine Revision der Theorie führen, aus denen im Erfolgsfalle eine erklärungskräftigere, die betreffenden Befunde mit abdeckende Neufassung der Theorie hervorgeht. Die von Weimann beschworene Komplementarität von Mikrotheorie und Verhaltensökonomik ist jedoch im Grund nicht mehr als ein dauerhaftes Nebeneinander einer Modelltheorie, die sich in unerschütterlicher Selbstgenügsamkeit mit der in ihren Axiomen definierten fiktiven Welt befasst, und einer Verhaltensökonomik, die immer wieder konstatiert, dass die reale Welt eine andere ist. Die Befunde der verhaltensökonomischen Forschung werden nicht als Hinweis auf die Revisionsbedürftigkeit der Mikrotheorie verstanden, und können auch gar nicht so verstanden werden, da diese Theorie ja erklärtermaßen nichts über die reale Welt aussagt. Und sie führen auch nicht zu systematischen Bemühungen um die Entwicklung einer der „axiomatischen Mikrotheorie“ entgegenzusetzenden empirischen Verhaltenstheorie, solange die Funktion der Verhaltensökonomik nur darin gesehen wird, in der realen Welt nach Verhaltensphänomenen Ausschau zu halten, die, am Idealtypus des Rationalmodells gemessen, als „Defizite“ einzustufen sind, und für diese Defizite jeweils passende Erklärungen zu finden. Die „Ungleichheitsaversionstheorien“, die „Idee der Reziprozität“ oder die „Theorie sozialer Präferenzen“ die als derartige Erklärungen zitiert (S. 18), werden von Weimann denn auch nicht als Beiträge zur Entwicklung einer sich vom Rationalmodell absetzenden Theorie interpretiert, die sich mit dem befasst, was „reale Menschen tun“ (S. 17). Im Gegenteil, er wertet sie als Bestätigung jener Mikrotheorie, die er zuvor noch als „normative“ – also nicht erfahrungswissenschaftliche – Theorie beschrieben hat, und die er nunmehr anscheinend doch wieder als zur Erklärung realen Verhaltens dienende Theorie verstanden wissen will. So liest man bei ihm, alle oben genannten verhaltensökonomische Ansätze würden weiterhin voraussetzen, „dass Menschen optimieren, dass sie … eben nur andere Ziele als man bisher angenommen hat“ (S. 18) verfolgen.Footnote 5 Die „sehr starke empirische Forschung“ (S. 8), die als „Mitspieler“ (S. 15) der Modelltheorie die Mainstream Ökonomik gegen den Vorwurf des Modell-Platonismus wappnen soll,Footnote 6 läuft also nach Weimann am Ende auf nicht mehr hinaus als eine weitere Bestätigung der durch nichts zu erschütternden axiomatischen Mikrotheorie. Im Hinblick auf die Befunde der „experimentellen Wirtschaftsforschung“ spricht er von deren „Integration in das Rationalmodell“ (S. 18), das „keineswegs ausgedient“ (S. 16) habe, und verkündet:

Alle vorhandenen Modelle behalten ihre Berechtigung – sie gelten nur unter der Vorbedingung entsprechender Präferenzen, aber sie gelten. Theoretiker dürfen weiterhin von optimierenden Akteuren ausgehen und damit den kompletten mathematischen Apparat, den die Neoklassik inklusive der Spieltheorie hervorgebracht hat, weiter benutzen (S. 18).

5 Das Rationalmodell: Ökonomik ohne Psychologie?

Die Beharrlichkeit, mit der Weimann auf der zentralen Rolle besteht, die dem Rationalmodell weiterhin in der Mainstream Ökonomik zukommt, macht es erforderlich, nochmals einen näheren Blick auf dieses Modell zu werfen und zu begründen, warum die Ökonomik den Anspruch, etwas über „Kausalzusammenhänge in der realen Welt“ auszusagen, nur gerecht werden kann, wenn sie an die Stelle, die dieses Modell bislang einnimmt, eine empirisch gehaltvolle Verhaltenstheorie setzt.

Aus der Sicht des Rationalmodells lässt sich menschliches Verhalten als eine Abfolge von Einzelentscheidungen verstehen, bei denen es jeweils darum geht, aus der Menge der jeweils realisierbaren Alternativen eine Auswahl im Lichte eines Bewertungsmaßstabes zu treffen, der es dem Entscheider erlaubt, alle denkbaren Wahloptionen in eine Rangordnung zu bringen.Footnote 7Rationale Entscheider zeichnen sich im Sinne des Rationalmodells nicht nur dadurch aus, dass sie die jeweils in der Bewertungsskala an oberster Stelle rangierende Alternative wählen, sondern, wie Weimann erläutert, auch dadurch, dass ihre „Präferenzordnung … mit einigen zentralen Eigenschaften ausgestattet ist (u. a. Vollständigkeit und Transitivität), so dass sie durch eine sich mathematisch wohlverhaltende Nutzenfunktion abgebildet werden kann“.

Mit dieser theoretischen Perspektive, in der er das Kennzeichen der „‚reifen‘ Neoklassik“ sieht, ist nach Weimann jene „Abkehr von der Psychologie“ bei der ökonomischen Betrachtung menschlicher Wahlhandlungen vollzogen worden, die – auf den Einfluss Vilfredo Paretos verweisend – in der Literatur als „Paretian turn“ bezeichnet worden ist. In der Tat hat Pareto die These vertreten, dass es für die Analysezwecke der Ökonomik ausreiche, die dem Individuum zur Verfügung stehenden Mittel und seine Präferenzen zu kennen.Footnote 8 Wenn man seine Nutzenfunktion kenne, könne das Individuum verschwinden, man brauche es nicht mehr.Footnote 9 Nun ist es offensichtlich, dass man zur Beantwortung der Frage, wie ein rationaler Entscheider gemäß einer alle Wahlmöglichkeiten umfassenden Präferenzordnung unter jeweils gegebenen Alternativoptionen auswählt, weder den Entscheider selbst noch irgendwelche Psychologie benötigt. Die Beantwortung dieser Frage ist ein rein logisches Problem, ein Problem der konsistenten Anwendung des unterstellten Bewertungsinstruments – der Nutzenfunktion – auf eine gegebene Auswahlmenge. Wenn man solch logische Zuordnungsoperationen als Abbild menschlicher Entscheidungen verstehen will, dann benötigt man in der Tat „keine Psychologie mehr – nur Mathematik“, dann kann man behaupten: „Mathematische Optimierungskalküle ersetzen eine psychologisch fundierte Verhaltenstheorie“ (S. 9). Der, um Weimanns Formulierung aufzugreifen, „Schönheitsfehler“ dieser Konstruktion ist lediglich, dass sie mit den Entscheidungsproblemen, vor denen reale Menschen stehen, recht wenig zu tun hat. Der Unterschied, der zwischen der Fiktion des Rationalmodells und realen menschlichen Entscheidungen besteht, lässt sich anhand folgender von Kenneth Arrow geprägter Formulierung deutlich machen: „Choice is over sets of actions, but preference orderings are over consequences“ (Arrow 1996: xiii).

Das Rationalmodell setzt stillschweigend voraus, dass der Gegenstand der Wahl und der Gegenstand der Bewertung zusammenfallen. Wenn man dies unterstellt, und von „gegebenen Präferenzen“ (S. 13) ausgeht, dann braucht man für die Analyse von Entscheidungsvorgängen in der Tat „keine Psychologie mehr – nur Mathematik“ (S. 9). Wenn wir aber, worauf Arrow hinweist, nicht die Ergebnisse oder Konsequenzen, auf die unsere Wertungen zielen, direkt wählen können, sondern nur Handlungen, von denen wir Konsequenzen erwarten, dann lassen sich menschliche Handlungen nicht allein mit Annahmen über ihnen zugrundeliegende Präferenzen erklären, man benötigt dafür auch Annahmen darüber, welche Vorstellungen die Handelnden vom Zusammenhang zwischen Handlung und Konsequenzen hegen. Um nochmals Arrow zu zitieren:

Under certainty, an action leads to a consequence; but under uncertainty, an action may lead to one of many consequences, which one being uncertain. Hence, choice requires not only the preference among consequences but (uncertain) knowledge of the relation between actions and consequences. Both preferences and judgment are needed (Arrow 1996: xiii).

Eine Ökonomik, die sich bei ihren Erklärungen nicht nur darauf beschränken will, die zum jeweils beobachteten Verhalten passenden „judgments“ und „preferences“ zu postulieren,Footnote 10 sondern sich dabei auf überprüfbare Hypothesen über die verhaltensleitenden Theorien und Präferenzen der Akteure stützen will, bedarf einer empirisch gehaltvollen Verhaltenstheorie – also der Psychologie.

6 Das Programm einer verhaltenstheoretischen Ökonomik

Wenn wir nicht direkt Ergebnisse wählen, sondern uns nur zwischen alternativen Handlungen entscheiden können, müssen wir uns auf Vermutungen – auf Hypothesen, Theorien – darüber stützen, welche Konsequenzen aus unseren Handlungen folgen werden, nicht nur kurzfristig sondern auch mittel- und langfristig. Das gilt schon für solch einfache Entscheidungen wie die Wahl eines Gerichts in einem Restaurant, und es gilt erst recht für gewichtigere Entscheidungen, wie die Wahl eines Urlaubsziels, die Entscheidung für ein bestimmtes Studium, einen Berufswechsel und ähnliches. In einer komplexen Welt kann der Zusammenhang zwischen Handlungswahl und Konsequenzen alles andere als offensichtlich sein, und erfolgreiches – unseren Interessen dienendes – Handeln wird von der Angemessenheit der Vermutungen, Hypothesen, Theorien abhängen, die – bewusst oder unbewusst – unser Handeln leiten. Das bedeutet aber, dass der Frage des handlungsleitenden Wissens für die Verhaltenserklärung grundlegende Bedeutung zukommt.

Dass das Wissensproblem, die unvermeidbare Begrenztheit unseres Wissens um all die Dinge, von denen ein erfolgreiches Handeln abhängt, ein elementarer Tatbestand ist, dem die Ökonomik – und die Sozialwissenschaft allgemein – bei ihren Erklärungsbemühungen Rechnung tragen muss, hat insbesondere F.A. Hayek immer wieder in seinen Schriften mit Nachdruck betont. In griffiger und stärker formalisierter Weise hat Ronald Heiner (1983) die Bedeutung aufgezeigt, die dem Wissensproblem für die Theoriebildung in der Ökonomik zukommt. In Kurzfassung lautet sein Argument wie folgt: Wenn Menschen perfekt rationale Wesen in dem Sinne wären, dass sie alle Wahloptionen überschauen und alle relevanten Folgen ihrer Handlungsentscheidungen verlässlich voraussehen sowie deren Nutzenwerte exakt kalkulieren könnten, dann wäre es für sie in der Tat am besten im Sinne des Rationalmodells in jedem einzelnen Entscheidungsfall die von ihnen als optimal erkannte Handlungsalternative zu wählen. Reale Menschen sind jedoch keine perfekt rationale Wesen und sie werden daher bei dem Bemühen, von Fall zu Fall die jeweils beste Handlungsalternative zu wählen, zwangsläufig Fehler machen. Für reale Menschen als imperfekte Entscheider kann es daher von Vorteil sein, sich an bewährte Regeln zu halten, die zwar unvermeidlich selbst imperfekt in dem Sinne sein werden, dass sie nicht immer zu dem raten werden, was ein perfekter Akteur tun würde, deren „Fehlerquote“ aber geringer ist als die beim Versuch der fallweisen Maximierung zu erwartende Quote.Footnote 11

Fallweise Maximierung im Sinne des Rationalmodells bedeutet, in jeder Entscheidungssituation aus der Menge der verfügbaren Handlungsoptionen diejenige auszuwählen, die in Anbetracht aller Umstände am erfolgversprechendsten erscheint. Regelbefolgung bedeutet, Entscheidungssituationen anhand ausgewählter Merkmale als zu gewissen wiederkehrenden Problemtypen gehörig zu klassifizieren, denen gewisse Typen von Handlungen als zweckmäßige Reaktionen zugeordnet werden. Mit dem Begriff der Verhaltensdisposition kann man die Bereitschaft oder Neigung bezeichnen, in bestimmten Arten von Problemsituationen in bestimmter Art und Weise zu handeln, also Regeln zu folgen. Im Gegensatz zu den ausschließlich auf die Handlungsfolgen bezogenen Präferenzen des Rationalmodells kann man Dispositionen als Präferenzen für bestimmte Arten des Handelns betrachten. Dispositionen erweisen sich als zweckmäßig, wenn sie insgesamt zu Ergebnismustern führen, die dem bei rationaler Einzelfallmaximierung zu erwartenden Ergebnismuster überlegen sind. Im konkreten Einzelfall besteht ihre Funktion gerade darin, dass das durch sie bestimmte Verhalten nicht auf einer Kalkulation der im gegebenen Fall zu erwartenden Konsequenzen beruht, wie es das Rationalmodell unterstellt, sondern auf einer Klassifizierung der Situation als zu einem bestimmten Problemtyp gehörig und der Wahl der zum betreffenden Problemtyp „passenden“ Handlung.

Geht man davon aus, dass, wie Hayek (2003: 13) es formuliert hat, der Mensch „ebenso sehr ein regelbefolgendes wie ein zielgerichtet handelndes Wesen“ ist, dann sollte auch die Ökonomik bei ihren Erklärungsbemühungen Entscheidungsverhalten nicht nur unter dem Gesichtspunkt der „rationalen“ Anpassung an jeweils spezifische Anreizkonstellationen betrachten, sondern die Frage stellen, ob ein beobachtetes Verhalten der Befolgung einer Regel zuzuschreiben sein mag, die eine durchaus zweckmäßige Anpassung an in der Umwelt des Akteurs wiederholt auftretende Problemsituationen darstellen. Aus einer solchen Perspektive mögen dann etwa „Heuristiken“, von denen in der Verhaltensökonomik die Rede, nicht, wie dies Weimann nahelegt, als „Defizite menschlicher Entscheidungen“ (S. 22) zu werten sein, „die zu systematischen Fehlern führen“ (S. 19), sondern als Verhaltensregeln, die dem Akteur auf die Dauer ein erfolgreicheres Verhalten ermöglichen, auch wenn sie in einem konkreten Fall – etwa im Rahmen eines Experiments – zu „fehlerhaftem“ Verhalten führen.

Der Gedanke, dass Regelbefolgung vorteilhafter, und in dem Sinne „rationaler“, sein kann als der Versuch, von Fall zu Fall die jeweils optimale Wahl zu treffen, wirft natürlich die Frage auf, wie es denn für imperfekte Menschen möglich ist, zu „bewährten“, ihrer Problemumwelt in zweckmäßiger Weise angepasste Regeln zu kommen. Die Beschäftigung mit dieser Frage, der Frage, wie „Wissen“ um die Zweckmäßigkeit von Regeln gewonnen werden kann, macht einen wesentlichen Teil des Forschungsprogramms einer verhaltenswissenschaftlichen Ökonomik aus. Dafür kommen grundsätzlich drei Arten von „Lernprozessen“ in Betracht:

  • Der Prozess der biologischen Evolution unserer Spezies, in dem das im Experimentierverfahren von Variation und Selektion gewonnene „Wissen“ um die Tauglichkeit von Regeln genetisch gespeichert wird.

  • Der Prozess der kulturellen Evolution, in dem das Experimentieren unterschiedlicher Gruppen mit alternativen Regeln Wissen generiert, dass in Gebräuchen, Institutionen, etc. gespeichert wird.

  • Der Prozess des individuellen Lernens, das auf der Basis der genetischen Ausstattung und im Rahmen eines sozio-kulturellen Umfeldes stattfindet, und in dem das durch Versuch und Irrtumsauslese gewonnene Regelwissen im Gedächtnis gespeichert wird.

Eine verhaltenstheoretische Ökonomik sucht, gestützt auf Theorien über diese drei Lernprozesse, überprüfbare Hypothesen über die Verhaltensdispositionen zu formulieren, von denen man aufgrund von Informationen über die jeweilige „Lerngeschichte“ annehmen kann, dass sie im gegebenen Erklärungsfall das Handeln der beteiligten Akteure leiten. In diesem Sinne lassen sich, wie die evolutionäre Psychologie zeigt, Hypothesen über in der Evolutionsgeschichte unserer Spezies herausgebildete Dispositionen aufstellen, die als genetisch kodierte Verhaltensprogramme gespeichert sind (Vanberg 2004b). Theorien der kulturellen Evolution erlauben die Formulierung von Hypothesen über die Herausbildung von charakteristischen Normen und Verhaltensstandards, die das soziale Umfeld bestimmen, in dem individuelles Lernen stattfindet (Vanberg 1994). Und schließlich ermöglichen Kenntnisse über die Lerngeschichte von Menschen es, Hypothesen darüber aufzustellen, von welchen Verhaltensdispositionen man vermuten kann, dass sie in der Art der Umwelt, in der sie leben, Erfolg versprechen und daher erlernt wurden.

Das Erklärungsgeschäft einer verhaltenstheoretischen Ökonomik ist offensichtlich wesentlich verwickelter und aufwändiger als die „rigorose formale Analyse komplexer Zusammenhänge“ (S. 27), die die Mikrotheorie mit ihrem Rationalmodell zu ermöglichen verspricht. Aber eine Ökonomik, die als Erfahrungswissenschaft etwas über Kausalzusammenhänge in der realen Welt und nicht nur über die fiktive Welt axiomatischer Modelle aussagen will, wird sich die aufwändigeren Erklärungsbemühungen nicht ersparen können.

Am Schluss sei noch einmal Reinhard Selten erwähnt, den Weimann als Kronzeugen für seine These der Komplementarität von normativer Mikrotheorie und Verhaltensökonomik in Anspruch nimmt. Die „normative Spieltheorie“, die er als rein „philosophisches“ Unterfangen ohne empirischen Gehalt bezeichnet, charakterisiert Selten (1998: 11) mit den Worten:

Behavior in such situations is hence not really an empirical question, you just deduce it from the principle of rationality. This is a position I call naive rationalism. It has prevailed in economics for a long time and is still a very strongly held position in economics – but it is weakening.

Im Kontrast zur „normativen“ Variante ziele die „deskriptive Spieltheorie“ auf die Erklärung „beobachteten Verhaltens“ und in ihr „zählen nur empirische Argumente, nichts sonst“ (ebd.: 23). Seine eigenen Bemühungen um die Formulierung einer solchen Theorie, so stellt Selten fest, hätten ihn zu einer „learning-direction theory“ (ebd.: 24) geführt, einer Theorie, die auf dem Prinzip einer „ex-post Rationalität“ (ebd.) basiere und sich mit der „Analyse der Vergangenheit“ (ebd.) befasse. Und eine solche Theorie sei nicht lediglich eine modifizierte Version des Modells vollkommener Rationalität sondern habe eine „andere Struktur“ (ebd.: 25, 31).