Bewegung im Vollzug

Körper- und bewegungsbasierte Interventionen in der Begleitung männlicher Straftäter


Doktorarbeit / Dissertation, 2016

265 Seiten, Note: magna cum laude


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. EINLEITUNG

B. THEORETISCHE EINORDNUNG
1. Gegebenheiten des Strafvollzugs und die Implikationen für körper- und bewegungsbasierte Interventionen
1.1. Der Strafvollzug im Spannungsfeld von Sicherung und Resozialisierung
1.2. Varianten begleitender Maßnahmen im Vollzug
1.3. Effektivität von Behandlungsmaßnahmen im Vollzug
1.4. Klientenspezifische Voraussetzungen
1.5. Institutionelle Voraussetzungen
1.6. Zusammenfassung
2. Ursprung und Bedingungen von körper- und bewegungsbasierten Interventionen
2.1. Genese
2.2. Theoretische Fundierung von körper- und bewegungs- basierten Interventionen
2.2.1. Die Perspektive der Neurowissenschaften
2.2.2. Die Perspektive des Embodiments
2.2.3. Die Perspektive der Leibphänomenologie
2.2.4. Die Perspektive der Körperpsychotherapie und der Tanz- und Bewegungstherapie
2.3. Zusammenfassung

C. EMPIRIE
1. Methoden und Forschungsprozess
1.1. Fokussierung des Forschungsgegenstandes
1.2. Teilstudien und Forschungsperspektiven
1.3. Methodische Einordnung
2. Körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Vollzug
2.1. Einführung in Teilstudie
2.2. Methodisches Vorgehen
2.3. Ablauf der Studie
2.4. Zusammenfassung der Ergebnisse
2.4.1. Ergebnisse der Einzelstudien
2.4.2. Ergebnisse in Bezug zu den Effekten
2.5. Diskussion
2.6. Limitationen
2.7. Zusammenfassung
3. Effekte von körper- bewegungsbasierten Interventionen am Beispiel des Anti-Gewalt-Training (AGT) von e|m|o processing®
3.1. Einführung in Teilstudie
3.2. Das Anti-Aggressions-Training (AAT) als Maßnahme im Vollzug
3.3. Das Anti-Gewalt-Training (AGT) von e|m|o processing®
3.3.1. Trainingsmethoden und Umsetzung
3.4. Methodisches Vorgehen
3.4.1. Kontextuelle Gegebenheiten und ihr Einfluss auf den Forschungsprozess
3.4.2. Methodologische Überlegungen
3.5. Messinstrumente
3.6. Ablauf der Evaluationsstudie
3.7. Ergebnisse
3.7.1. Stichprobe
3.7.2. Ergebnisse im Detail
3.8. Diskussion
3.9. Limitationen
3.10. Zusammenfassung
4. Beurteilung von Bewegungsbeobachtungsverfahren innerhalb empirischer Studien
4.1. Einführung in Teilstudie
4.1.1. Forschungsinteresse und Fragestellung
4.2. Instrumente der Bewegungsbeobachtung - Einführung in den Untersuchungsgegenstand
4.2.1. Laban Bewegungsanalyse (LBA)
4.2.2. Movement Pattern Analysis (MPA) und das ActionProfile (AP)
4.2.3. Movement Psychodiagnostic Inventory (MPI)
4.2.4. Kestenberg Movement Profile (KMP)
4.3. Methodisches Vorgehen
4.4. Ergebnisse
4.4.1. Ergebnisse in Bezug auf den Kontext der Studien
4.4.2. Ergebnisse in Bezug zu Forschungsfrage
4.4.3. Ergebnisse in Bezug zu Forschungsfrage
4.5. Diskussion
4.6. Limitationen
4.7. Zusammenfassung
5. Wirkprozesse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen im Strafvollzug
5.1. Einführung in Teilstudie
5.2. Methodisches Vorgehen
5.2.1. Forschungsrelevante Vorannahmen
5.2.2. Methodologische Überlegungen
5.2.3. Datenmaterial
5.2.4. Ablauf der Auswertung
5.3. Ergebnisse
5.3.1. Ergebnisse Forschungsfrage 1 - Wirkprozesse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen
5.3.2. Ergebnisse Forschungsfrage 2 - Ausrichtungen von körper- und bewegungsbasierten Interventionen
5.4. Diskussion
5.4.1. Implikationen für den Strafvollzug
5.4.2. Implikationen für die praktische Arbeit mit körper- und bewegungsbasierten Interventionen im Strafvollzug
5.5. Limitationen
5.6. Zusammenfassung

D. DISKUSSION
1. Diskussion der Ergebnisse
1.1. Grundlegende Diskussion der Ergebnisse
1.2. Körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Kontext des Strafvollzugs
1.3. Die Konstruktion von Veränderung im Strafvollzugihre Implikation für körper- und bewegungsbasierte Interventionen
1.4. Die Konstruktion des Körpers im Vollzug und ihreImplikation für körper- und bewegungsbasierte Interventionen
1.5. Die Verortung körper- und bewegungsbasierter Interventionen innerhalb resozialisierender Maßnahmen
1.6. Die Evaluation von körper- und bewegungsbasierten Interventionen
2. Limitationen und Desidarate
3. Fazit

E. GLOSSAR

F. LITERATURVERZEICHNIS

G. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

H. ABBILDUNGEN

I. TABELLENÜBERSICHT

K. ANHANG
1. Übersichtstabelle der Ergebnisse/ Teilstudie
2. Ablauf Anti-Gewalt-Training AGT nach e|m|o processing®/ Teilstudie
3. Übersichtstabelle ‚Kombination Bewegungsbeobachtungs- instrumente mit anderen Messinstrumenten’

Danksagung

Diese Arbeit ist in einem unterstützenden und inspirierenden Umfeld entstanden.Dafür bedanke ich mich! Insbesondere bei Margit Romeis und Prof. Ingrid Lutz für dieInitialzündung zu diesem Projekt, Prof. Thomas Ostermann für die unterstützende undimmer entspannte Begleitung, bei meinen Leuchtfeuer-Kolleginnen aus der virtuellenForscherInnenplattform ‚NetzWerkstatt’ (Institut für Qualitative Forschung) fürgemeinsames Nachdenken und methodische Klarheit, bei Heike Chyle und KarinWelling für die wortwörtliche Feinarbeit, bei Hans-Peter Jahn für das zähe Ringen, beimeinem Mann Adrian Silvestri für Geduld und Inspiration, bei Irmgard Strutz für denlangen Atem und nicht zuletzt bei all den Gefangenen, die ich in meiner beruflichenPraxis seit 1998 kennenlernte und die mir einen intensiven Lernprozess ermöglichten.

Anmerkungen

Das Forschungsinteresse dieser Studie richtet sich auf körper- und bewegungsbasierte Interventionen mit männlichen Straftätern. In den unterschiedlichen wissenschaftlichen Richtungen werden Menschen, die eine Haftstrafe verbüßen mit unterschiedlichen Bezeichnungen versehen. Innerhalb dieser Studie werden die Begrifflichkeiten ‚Inhaftierter’ und ‚Gefangener’ synonym gebraucht.

Menschen in Haft verbüßen ihre Gefängnisstrafe aufgrund einer Verurteilung für begangene Straftaten. Werden Inhalte im Kontext der Delinquenz oder der Resozialisierung von Inhaftierten expliziert, wird in vorliegender Studie von den Bezeichnungen ‚Straftäter’ oder ‚Täter’ Gebrauch gemacht.

Insbesondere in Kapitel 5 des empirischen Teils beziehe ich mich direkt oder indirekt auf wissenschaftliche Publikationen aus den verschiedenen Anwendungsfeldern von körper- und bewegungsbasierten Interventionen. Die Autoren und Autorinnen sprechen hier häufig von Klienten, da sie in der Regel therapeutische oder pädagogische Prozesse beschreiben. In diesen Fällen wird im Sinne der Originaltreue der Term ‚Klient’ übernommen und sich dabei auf einen männlichen Straftäter bezogen, der Teil einer resozialisierenden Maßnahme ist.

Da die vorliegende Studie das Forschungsfeld auf männliche Straftäter eingrenzt, wird zumeist auf männliche Gefangene und oder Teilnehmer an körper- und bewegungsbasierten Interventionen Bezug genommen. Aus diesem Grunde wird in dieser Publikation auf eine gendergerechte Sprache verzichtet.

A. EINLEITUNG

„Interacting changes the way you behave,both for the officer and the inmate.“ (Pacholke, 2014) Körpersprachliche Interaktionen begleiten den Menschen durch das ganze Leben.Die ersten vorgeburtlichen Interaktionen sind rein physischer Natur und in derFolge bilden Bewegungsprozesse das primäre Bezugs - und Interaktionssystem fürdas Kleinkind (vgl. Kestenberg, 1977; Kestenberg & Sossin, 1979; Eberhard-Kächele,2009: 251). Auch im weiteren Verlauf des Lebens bleiben körperliche Signale elemen-tare Bestandteile des zwischenmenschlichen Interagierens. Auf ihrer Basis entstehenBegegnungen und Resonanzen (vgl. Fuchs, 2014: 15; Verres, 2005: 18-24). Die dabei im Mittelpunkt stehenden Bewegungsdialoge verbinden den Menschen sowohl mit derAußen- als auch mit der Innenwelt: Über das körperliche Handeln und Bewegen interagiert der Mensch mit anderen (und anderem). Gleichzeitig formen diese Erfahrungendie Basis seiner Identität und seines Selbstsystems (vgl. Stern, 1998). Auch im Erwachsenenalter sind - insbesondere bei möglichem Verlust von kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten - Bewegungsprozesse und physische Resonanzmöglichkeiten vonelementarer Bedeutung, da sie die Möglichkeit bieten, überlebenswichtige intersubjektive Räume herzustellen (vgl. Bauer, 2009: 12-19).

Bewegungsprozesse sind nicht nur eng verzahnt mit der menschlichen Entwick-lung, sie stehen auch in Wechselwirkung mit Veränderungsprozessen (vgl. Koch& Fuchs, 2011: 278-279): Jede Bewegung verändert unweigerlich das Verhältnis zu ande-ren Anwesenden, Mimik und Körperspannung wechseln in Verbindung mit emoti-onalen Schwankungen und das individuelle Bewegungsrepertoire wandelt sich mitjedem neuen Lebensabschnitt. Diesen Zusammenhang zwischen Bewegungsprozes-sen und Veränderungspotenzialen machen sich unterschiedliche pädagogische undtherapeutische Schulen, insbesondere künstlerische und körperorientierte Therapie-formen, zunutze. Hier erfahren vor allem die primär körper- und bewegungsbasiertenVerfahren zunehmend Aufmerksamkeit. So stuft z.B. die unabhängige Beauftragte zurAufklärung des sexuellen Missbrauchs, Dr. Christine Bergman in ihrem Abschlussbe-richt 2011 körperorientierte Therapieformen als besonders hilfreich in der Begleitungvon Menschen mit traumatischen Erlebnissen ein und zitiert Klienten, die dieseTherapieverfahren als „unersetzbar und effizient“ (Bergmann, 2011: 142) bezeichnen.Offensichtlich setzen nonverbale Verfahren andere Interaktions- und Beziehungs- möglichkeiten als sprachbasierte Methoden in Gang, und die Vermutung liegt nahe, dass dadurch Klienten auf anderen Ebenen erreicht und andere Veränderungspotenziale aktiviert werden können.

Insbesondere für den Strafvollzug ist die Förderung von Veränderungspotenzialender Inhaftierten von hoher Relevanz, da die Resozialisierung der Gefangenen ein Teilder Zielsetzung des Strafvollzugs ist. Studien belegen, dass eine Haftstrafe ohne the-rapeutische Begleitung für bestimmte Tätergruppen kontraproduktiv sein kann undRückfälle wahrscheinlicher macht (vgl. Endrass, Rossegger & Braunschweig, 2012: 55).Dadurch kommt der Strafvollzug unter Zugzwang, angemessene Behandlungsange-bote anzubieten, damit Straftätern die Möglichkeit gegeben wird, sich zu verändernbzw. ihr delinquentes Verhalten durch die Haft nicht verstärkt wird. KörperbasierteVerfahren könnten, insbesondere mit Blick auf die Einschränkungen der Inhaftiertenin Bezug auf Interaktions- und Beziehungsmöglichkeiten, einen wesentlichen Beitraghierbei leisten.

Allerdings spielen körper- und bewegungsbasierte Verfahren und Interventionen im Strafvollzug bislang eine untergeordnete Rolle (vgl. Spöhr, 2009: 39-51). Infolgedessen werden die Effekte und Wirkprozesse dieser Maßnahmen mit Straftätern in den sozialwissenschaftlichen-, medizinischen- und psychologischen Forschungen wenig diskutiert. Um diese Forschungslücke zu schließen, richtet sich das Interesse dieser Studie auf die Darstellung und Analyse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen innerhalb des Strafvollzugs mit männlichen Inhaftierten. Das Ziel ist, ein umfassendes Bild über Einsatzmöglichkeiten, über Effekte und Wirkprozesse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen zu geben.

Die vorliegende Studie gliedert sich neben der Einleitung (Teil A) in drei Hauptteile: Theorie (Teil B), Empirie (Teil C) und Diskussion (Teil D).

Im Zuge der theoretischen Einordnung (Teil B) werden in Kapitel B.1. die struktu-rellen Bedingungen und Gegebenheiten des Strafvollzugs, in denen körper- und bewe-gungsbasierten Interventionen angeboten werden könnten, expliziert. Diese Kontextebeeinflussen den Körperbezug und die Bewegungsformen der Gefangenen und damitdie von körper- und bewegungsbasierten Interventionen angestoßenen Prozesse. Imzweiten Kapitel des Theorieteils (B.2.) werden körper- und bewegungsbasierte Interven-tionen in ihrer Genese und im Kontext unterschiedlicher wissenschaftlicher Begrün-dungszusammenhänge, die in der Regel zu ihren Legitimationen herangezogen wer-den, beschrieben.

Im empirischen Teil (Teil C) der Arbeit werden körper- und bewegungsbasierte Interventionen aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven betrachtet.

Nach einer methodischen und methodologischen Gesamtverortung der Studie wird in Kapitel C.2., basierend auf den Ergebnissen einer systematischen Übersichtsarbeit, ein Überblick gegeben, welche körper- und bewegungsbasierten Interventionen im Vollzug stattfinden und welche Erfahrungen expliziert werden.

Anhand einer kontrollierten Evaluationsstudie im pre/post Design des Anti-Gewalt-Training (AGT) nach e|m|o processing® werden in Kapitel C.3. die Effekte einer körperund bewegungsbasierten Intervention vorgestellt.

Da Ergebnisse von Studien abhängig von der Passung mit dem methodologischen Vor-gehen sind, stellt sich die Frage, welche Messinstrumente für die Erforschung körper - und bewegungsbasierter Methoden geeignet sind. In Kapitel C.4. wird, wiederum basierend auf einer systematischen Übersichtsarbeit, ein vergleichender Überblick über die wichtigsten Erhebungsinstrumente für Bewegungsprozesse gegeben.

Der Fokus liegt in der Fachliteratur auf den Methoden und den Effekten von körper-und bewegungsbasierten Interventionen. Wenig Evidenz gibt es im Bereich der Wirk-prozesse. Diese werden in Kapitel C.5. auf der Basis einer rekonstruktiv-hermeneu-tischen Analyse (vgl. Kruse, 2014: 472-574) von 23 wissenschaftlichen Publikationenbetrachtet.

Im letzten Teil der Studie - Diskussion (Teil D) - werden die verschiedenen Forschungsperspektiven verschränkt, deren Ergebnisse zusammengeführt und unter Bezugnahme auf sozialwissenschaftlichen Theorien und vor dem Hintergrund der Limitationen dieser Studie diskutiert.

B. THEORETISCHE EINORDNUNG

1. Gegebenheiten des Strafvollzugs und die Implikationen für körper- und bewegungsbasierte Interventionen

Körpersprachliches Verhalten und Bewegungsmuster stehen im engen Zusammen-hang mit der äußeren Umgebung (vgl. Trautmann-Voigt & Voigt, 2009: 3-4): Demzu-folge ist es ein Unterschied, ob man in einer offenen Therapiegruppe, in einem verord-neten Training oder im geschlossenen Vollzug körper- und bewegungsbasiert arbeitet.Das heißt, die besonderen kontextuellen Gegebenheiten des Strafvollzugs haben Ein-fluss auf die Etablierung und Realisierung von körper- und bewegungsbasierten Inter-ventionen. Für die vorliegende Studie bilden a) die Struktur des Strafvollzugs und b) die Einbettung in pädagogische oder therapeutische Begleitungsmaßnahmen den Kontext für körper- und bewegungsbasierte Interventionen.

Diese kontextuellen Bedingungen und deren Implikationen für körper- und bewegungsbasierte Interventionen werden in den folgenden Kapiteln der theoretischen Einordnung expliziert.

1.1 Der Strafvollzug im Spannungsfeld von Sicherung undResozialsierung

Im Kern von allen Überlegungen zur Gestaltung von Vollzugsstrukturen steht das systemimmanente Spannungsverhältnis zwischen Sicherung und Resozialisierung der Inhaftierten. Dieses Spannungsfeld wird im Folgenden am Beispiel des bundesdeutschen Strafvollzugs näher erläutert. Mit Hinblick auf die internationalen Quellen, die für diese Studie herangezogen werden, wird impliziert, dass in anderen demokratischen Ländern vergleichbare Diskurse (wenn auch mit nationalen Unterschieden) die Ausgestaltung vollzuglicher Maßnahmen prägen.

2014 waren 71800 männliche Gefangene und Sicherungsverwahrte in den deutschenJustizvollzugsanstalten (vgl. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, 2015: 5) unterge-bracht. Alle Aspekte des Verbleibs des Gefangenen unterliegen gesetzlichen Regelun-gen: die Länge der Haft, die Ausgestaltung des Alltags und die möglichen resoziali-sierenden Begleitungsmaßnahmen. Bis zur Föderalismusreform aus dem Jahre 2006unterlag diese Regelung der Haftzeit dem „Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafeund der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung“, kurz demStrafvollzugsgesetz (StVollzG). In § 2 StVollzG werden die „Aufgaben des Vollzuges“wie folgt definiert:

„Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ (ebd., 1976: 8).

§ 2 StVollzG unterscheidet eindeutig zwischen dem Ziel und der Aufgabe des Vollzug(e)s. Das gesetzlich verankerte Ziel ist die Resozialisierung des Gefangenen: er soll während - oder durch die Haft befähigt werden, nach der Entlassung ein straffreies Leben zu führen. Wobei unter Resozialisierung alle Behandlungsmaßnahmen wie Arbeit, Ausbildung, Lockerung, Training oder pädagogische bzw. therapeutische Angebote zusammengefasst werden. Die Aufgabe des Vollzuges ist es, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Auch wenn es im Gesetzestext eine Unterscheidung zwischen Ziel und Aufgabe, respektive zwischen Resozialisierung und Sicherung gibt, ist von einer Gleichrangigkeit beider Aspekte des Vollzugs auszugehen, was in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes, BT-Ds 15/778 Anlage 2 von 2003 deutlich wird:

„Die in § 2 Satz 2 Strafvollzugsgesetz festgelegte Vollzugsaufgabe, die Allge-meinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, verpflichtet den Strafvollzug,durch sichere Verwahrung, sorgfältige Aufsicht und strenge Prüfung vollzug-söffnender Maßnahmen (z. B. Vollzugslockerungen) eine Gefährdung der Allge-meinheit zu verhindern. Hierbei handelt es sich jedoch bereits begrifflich nichtum ein Vollzugsziel, sondern um die dem Freiheitsentzug immanente Verpflich-tung, dafür zu sorgen, dass die Gefangenen während der Zeit des Vollzugs keineStraftaten begehen. Der Schutz der Allgemeinheit ist somit schon heute nichtdem Resozialisierungsziel nachgeordnet, sondern eine gleichrangige Aufgabedes Strafvollzuges“ (ebd., 2003:7).

Mit der Übertragung der Verantwortung auf die Länder im Jahre 2006 entstanddie Möglichkeit das Verhältnis zwischen Sicherung und Resozialisierung auf Län-derebene neu auszuloten. In Baden-Württemberg benennt das 2010 in Kraft getre-tene Strafvollzugsgesetz in § 1 JVollzGBIII (vgl. Gesetzbuch über den Justizvollzugin Baden-Württemberg) das Resozialisierungsgebot als alleiniges Vollzugsziel. Ähn-lich lautet § 1 des Strafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen (vgl. StVollzG NRW) vom 13.Januar 2015 des nordrheinwestfälischen Landtags. In Artikel 2 des bayrischen Strafvollzugsgesetz (vgl. BayStVollzG) dient der Vollzug hingegen „dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Er soll die Gefangenen befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Behandlungsauftrag)“ (ebd., 2007: 6).

Auch wenn die Gleichrangigkeit von Sicherung und Resozialisierung länder-übergreifend nicht als gegenläufige Ziele betrachtet werden, fördern bestimmteAkzentuierungen eine mehr oder weniger restriktive Praxis, die den Kontext fürresozialisierende Maßnahmen allgemein und damit auch für körper- und bewe-gungsbasierte Interventionen bildet. So werden z.B. für den sächsischen Vollzug in§18 dezidiert psychologische Interventionen und Psychotherapie im Maßregelvoll-zug erwähnt:

„Psychologische Intervention und Psychotherapie im Vollzug dienen insbeson-dere der Behandlung psychosozialer Faktoren und psychischer Störungen desVerhaltens und Erlebens, die in einem Zusammenhang mit der Straffälligkeitstehen. Sie werden durch systematische Anwendung wissenschaftlich fundier-ter psychologischer und psychotherapeutischer Methoden mit einem oder meh-reren Gefangenen durchgeführt“ (Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt,2013: 255). Zudem sieht das sächsische Strafvollzugsgesetz in § 7 (3) ein standardisiertes Diagnoseverfahren vor, das sich auf „die Persönlichkeit, die Lebensverhältnisse, die Ursachen und Umstände derStraftat sowie alle sonstigen Gesichtspunkte, deren Kenntnisse für eine ziel-gerichtete und wirkungsorientierte Vollzugsgestaltung und die Eingliederungnach der Entlassung erforderlich ist“ (Sächsisches Gesetz- und Verordnungs-blatt, 2013: 253). richtet. Ebenso ist in Sachsen, anders als in anderen Bundesländer gesichert, dassGefangene, die durch Teilnahme an Maßnahmen, die für die Erreichung des Vollzugs-ziels als zwingend erforderlich erachtet werden, keine Arbeit ausüben können, eineVergütung der Maßnahme im Rahmen der sog. finanziellen Anerkennung erhalten.

Es liegt auf der Hand, dass begleitende pädagogische oder therapeutische Maßnahmen,die in allen Kontexten des bundesdeutschen Strafvollzugs, d.h. Regelvollzug, Maß-regelvollzug und Sozialtherapie - wenn auch limitiert - stattfinden (vgl. Woessner,2010: 328), zwangsläufig den Regelungen der jeweiligen Strafvollzugsgesetze unterlie-gen. Dadurch werden sie im Spannungsfeld von Sicherung und Resozialisierung ver-ortet, d.h. ihre Implementierung, Durchführung und wissenschaftliche Begleitungsind nicht von den jeweiligen vollzuglichen Bestimmungen und systemimmanentenStrukturen zu trennen. Begleitende Maßnahmen, die nicht dem klassischen Behand-lungskanon angehören, sind davon besonders beeinflusst, da sie weder in den gesetz-lichen Regelungen Erwähnung finden und zudem unter räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten stattfinden, die nicht immer mit den anstaltsinternen Abläufen konform gehen.

Diese kontextuellen Gegebenheiten sind somit bei der Analyse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen immer mit zu berücksichtigen.

1.2 Varianten begleitender Maßnahmen im Vollzug

Im Rahmen der vorliegenden Studie sind unter begleitenden Maßnahmen sowohl pädagogische als auch therapeutische Angebote zu verstehen. Diese können in der Praxis unterschiedliche Ausprägungen im Sinne ihrer Zielsetzung, Methode und Durchführung haben. Eine begleitende Maßnahme unterliegt nicht dem Zufall. Sie folgt einer festgelegten Zielorientierung und wird über ihre räumliche und zeitliche Regelhaftigkeit institutionalisiert. Innerhalb dieser Analyse werden pädagogische und therapeutische Maßnahmen, wenn es die Darstellung von einzelnen Verfahren bzw. Interventionen erfordert, sprachlich differenziert und ansonsten unter ‚begleitenden Maßnahmen bzw. Begleitungsmaßnahmen’ subsumiert.

Verschiedene Autoren weisen darauf hin, dass unterschiedliche begleitende Maß-nahmen im Strafvollzug angeboten werden. Morawietz (vgl. 2012: 15-22) differen-ziert in ihrer Dissertation zur „Behandlungswirksamkeit bei Gewalt- und Sexu-alstraftätern“ bezogen auf baden-württembergischen Justizvollzugsanstaltenzwischen drei Behandlungsangeboten: das Behandlungsangebot für Sexualstraftä-ter (BPS) (vgl. Rehder, Wischka & Foppe, 2013: 418-454), das Behandlungsangebotfür Gewaltstraftäter (BPG) (vgl. Morawietz & Dölling, 2013: 209) und das Anti-Ge-walt-Training (AGT) (vgl. ebd., 2013: 209). Manzinger (vgl. 2010: 26-88) führt in ihrerDissertation zu „Einstellungsänderung (deliktspezifisch) von Sexualstraftäterndurch psychotherapeutische Behandlungskonzepte in sozialtherapeutischenAbteilungen“ in einem nationalen Vergleich zusätzlich noch das Anti-Aggressivi-tätstraining für Gewalttäter (AAT) (vgl. Schanzenbächer 2003: 51-71), das „Anti-Se-xuelle-Aggressivitäts-Training“ (ASAT) (vgl. Steffes-enn, 2005: 245-259) und das SexOffender Treatment Programm (SOTP) (vgl. Fuchs & Mann, 2007: 33-45) auf. Auchwenn sich die verschiedenen Programme auf unterschiedliche Aspekte wie z.B.Gewalt oder sexuelle Aggression festlegen, gibt es deutliche inhaltliche und metho-dische Überschneidungen zwischen den einzelnen Programmen. In diesen Arbei-ten wird deutlich, dass die meisten begleitenden Maßnahmen modular aufgebauteGruppenangebote sind, die dem kognitiv-behavioralen Behandlungsansatz, dersich vor allem auf die Veränderung der inneren Denk- und Bewertungskonstruk-tionen richtet (vgl. Rehder, Wischka & Foppe, 2013: 425), zuordnen lassen. Für die Präferenz für modular aufgebaute und damit thematisch abgegrenzte Behandlungsprogramme spricht, dass sie insbesondere in der Begleitung von Sexualstraftätern effektiv zu sein scheinen, da therapeutische Zielsetzungen stringenter verfolgt werden (vgl. Mann, 2009: 129).

Beispiele für alternative Behandlungsangebote, die offener konzipiert und nicht auf bestimmte Teilaspekte von delinquentem Verhalten ausgelegt sind, findet man eher außerhalb der BRD. Urbaniok (vgl. 2003: 21) und Urbaniok und Stürm (vgl. 2006: 120-122) beschreiben z.B. in dem deliktorientierten Therapieansatz des Zürichers PPD Modell eine „umfassendere Behandlungsphilosophie“ (Urbaniok, 2003: S.1) und unterstreichen die Notwendigkeit, auf individuelle Delinquenzdispositionen einzugehen. Auch Longo plädiert für einen ganzheitlich ausgerichteten Behandlungsansatz in der Begleitung von jugendlichen Sexualstraftätern:

„When practioners see a person with many facets, many of which are damaged parts, then they are better able to understand the complex nature of what must be treated“ (Longo, 2004: 212).

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich begleitende Maßnahmen im Vollzug in den inhaltlichen Ausrichtungen, den formal methodischen Aspekten und in den kontextuellen Rahmenbedingungen, in denen sie durchgeführt werden, durchaus unterscheiden und damit differenziert betrachtet werden müssen.

1.3 Effektivität von Behandlungsmaßnahmen im Vollzug

Vor der Frage, welche begleitenden Maßnahmen im Vollzug durchgeführt werden,steht die generelle Frage, ob diese überhaupt sinnvoll und effektiv sind. Die Effektivi-tät von Maßnahmen wird seit mehreren Jahrzehnten am Beispiel der therapeutischenBehandlungen von Straftätern diskutiert. Dieser Diskurs bezieht zwar pädagogischeMaßnahmen nicht mit ein, ist aber für die vorliegende Forschungsfrage dennoch rele-vant, da körper- und bewegungsbasierte Interventionen häufig im therapeutischenKontext eingesetzt werden.

Im wissenschaftlichen Diskurs ist hier eine deutliche Entwicklung hin zu einer positiven Haltung gegenüber Tätertherapien festzustellen. Der im Jahre 1974 von Robert Martinsons gestellten pessimistischen Frage „Does nothing work?“ (ebd., 1974: 27) folgte aufgrund wissenschaftlicher Evaluationen die Erkenntnis „Rehabiliation works, punishment does not“ (Cullen, 2012: 97-99). Heute steht dagegen die Frage „What works how for whom under which conditions?“ im Zentrum des Diskurses (vgl. Endrass, Rossegger, Noll & Urbaniok, 2008: 8).

Diese positive Haltung gegenüber Tätertherapien wird von folgenden wissenschaft-lichen Studien gestützt, welche die Effektivität von Tätertherapien nahelegen. 2008evaluierten Schmucker und Lösel (vgl. 2008: 12-15) in ihrer systematischen Metaana-lyse die Effektivität von Behandlung von Sexualstraftätern auf der Basis von achtzigkontrollierten Studien. Sie stellten eine Verminderung der Rückfallquote um 37 % festund identifizierten kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme alserfolgsversprechender gegenüber z.B. medikamentösen Behandlungen. Körper- undbewegungstherapeutische Behandlungsansätze wurden innerhalb der achtzig Stu-dien nicht evaluiert. Auch Lipsey und Cullen (vgl. 2007: 297-320), belegen in ihrer sys-tematischen Übersichtsarbeit nicht nur die Effektivität von Tätertherapien, sondernzudem erhöhte Rückfallraten durch Nicht-Behandeln im Vollzug. Dies bestätigen auchEndrass et al., die bei jugendlichen Straftätern bei einer Haft ohne Therapie auf eineErhöhung des Rückfallrisikos verweisen (vgl. ebd., 2012: 55). In der Studie von Lipseyund Cullen zeigte sich eine hohe Variabilität der Ergebnisse, abhängig davon, wel-che Interventionen oder Maßnahmen mit welcher Tätergruppe angewendet wurden.Deutlich wird hier der Zusammenhang zwischen Maßnahmen und Täterprofil und diedaraus folgende Notwendigkeit, Täterbehandlung auf unterschiedliche Tätergruppenanzupassen bzw. genau zu prüfen, welche Therapie- oder Trainingsprogramme fürwelche Straftäter geeignet bzw. ungeeignet sind (vgl. Lipsey & Cullen, 2007: 311). Zueinem ähnlichen Schluss kommt auch Lübcke-Westermann, die unterschiedliche kog-nitiv-behaviorale Behandlungsprogramme zum Training von Opferempathie unter-sucht hat und konkludiert, dass für bestimmte Täterkreise diese Programme kontrain-duziert sind (vgl. ebd., 2007: 25). Olver et al. untersuchten in einer Follow-Up-Studie 472behandelte und 282 nicht behandelten Sexualstraftäter, um die Effektivität des Clear-water Sex Offender Treatment Programs zu evaluieren. Hier zeigt sich ein signifikan-ter Rückgang der Rückfallraten auch noch zehn Jahre nach der Behandlung (vgl. Olver,Wong & Nicholaichuk, 2008: 531). Zu einer ähnlich positiven Haltung in Bezug auf The-rapieeffektivität bei Straftätern kommen u.a. auch Fiedler (vgl. 2004: 103), Urbaniokund Stürm (vgl. 2006: 105) sowie Cooper, Eslinger und Stolley (vgl. 2006: 537).

Allerdings wird die Effektivität von Tätertherapien insbesondere vor dem Hintergrundder Wissenschaftlichkeit der jeweiligen Studien in Frage gestellt. Eher und Pfäfflin kri-tisieren die Ergebnisse einiger Studien vor dem Hintergrund der Heterogenität undden unzureichenden wissenschaftlichen Standards der herangezogenen Primärstu-dien (vgl. ebd., 2011: 4). Endrass et al. (2012) diskutieren unterschiedliche Metaanaly-sen vor dem Hintergrund des methodischen Designs und stellen fest, dass wenn dieangewendeten Untersuchungsmethoden zu heterogen sind, „(...) laufen die Untersu-cher Gefahr, dass der größte Teil der Varianz durch die Untersuchungsmethode erklärtwird“ (ebd., 2012: 53).

Die Kritik an Übersichtsarbeiten aufgrund der methodischen Voraussetzungen wurdeallerdings von Lipsey und Cullen entkräftet, die in ihrem Vergleich zwischen Unter-suchungen mit starkem bzw. schwachem Design keinen Unterschied feststellenkonnten:

„In all cases, however, the unpublished studies show mean positive effects, and the differences between published and unpublished studies are not large enough to account for the generally positive overall effects“ (ebd. 2007: 304).

In der Auseinandersetzung mit der bereits zitierten Frage „What works how for whom under which conditions?“ liegt es nahe, dass versucht wird grundsätzliche und nicht behandlungsspezifische Parameter für Begleitungs- und Behandlungsangebote für Straftäter zu entwickeln. Das ursprünglich 1990 von Andrews et al. formulierte Risk-Need-Responsitivity-Modell (RNR) basiert auf der Unterscheidung zwischen „static risk factors“ wie z. B. Alter oder Geschlecht und „dynamic risk factors“ (Bonta & Andrews, 2007: 5). Letztere sind Faktoren, die direkt an delinquentes Verhalten gebunden und potentiell veränderbar sind (vgl. ebd.: 2007: 5-7; Cullen, 2012: 114). Die drei RNR Prinzipien für Täterbehandlungen lassen sich in Kürze wie folgt zusammenfassen (vgl. Bonta & Andrews, 2007: 7; Endrass et al, 2012: 57):

- Risk-Prinzip: Die Intervention soll dem Rückfallrisiko der Täter entsprechen, d.h. Täter mit hohem bzw. geringem Rückfallrisiko sollten nicht gemeinsam behandelt werden. Intensive Behandlungsprogramme sollten ausschließlich für Täter mit hohem Rückfallrisiko angeboten werden.
- Need-Prinzip: In der Behandlung soll auf die spezifische Veränderung der „dynamic risk factors“ - der dynamischen Risikofaktoren - abgezielt werden.
- Responsivity Prinzip: Interventionen sollten den persönlichen Möglichkeiten der Täter angepasst werden.

Basierend auf den Erkenntnissen der Metaanalyse von Smith et al. (2009) und Han-son et al. (2009) gibt es deutliche Evidenz, dass Täterbehandlungen, die basierend aufdem RNR Paradigma durchgeführt werden, erfolgversprechend sind (vgl. Endrass etal., 2012: 57). Die RNR-Prinzipien bieten drei Perspektiven an, die auf den ersten Blickvereinfachend wirken, aber in der praktischen Umsetzung eine differenzierte Vorge-hensweise ermöglichen.

Auch Antonowicz und Ross formulierten auf der Basis einer Metanalyse von 44 Studien, die zwischen 1970 und 1991 publiziert wurden verschiedene Parameter, welche die Effektivität von Tätertherapien beeinflussen (vgl. ebd., 1994: 98-102):

- Deutlicher konzeptueller Behandlungsansatz, insbesondere in Bezug auf kriminelles Verhalten.
- Interdisziplinäre Methoden, um die Heterogenität der Klientengruppe zu errei-chen.
- Zielsetzung auf die Faktoren, die mit delinquentem Verhalten in Verbindungstehen.
- Anpassung der Vermittlungsmethoden an die Fähigkeiten der Straftäter.
- Therapeuten fungieren als Rollenmodelle; genauso werden methodische Ansätze als besonders effektiv betrachtet, die Rollenspiele einsetzen.
- Training der sozialen und kognitiven Kompetenzen. Sowohl die RNR Prinzipien wie auch die Parameter von Antonowicz und Ross geben einen methodenunabhängigen Rahmen für die Entwicklung und Implementierung von Behandlungsansätzen für Straftäter.

Obwohl die Effektivität von Täterbehandlung immer wieder kontrovers diskutiert wird, kann festgestellt werden, dass es einen immer breiteren Konsens über deren Notwendigkeit gibt. Zudem scheinen die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Effektivität von therapeutischen Bemühungen bei Straftätern zumindest teilweise die Etablierung von begleitenden Maßnahmen generell zu stützen.

1.4 Klientenspezifische Voraussetzungen

In der Diskussion um die Effektivität von Begleitungsmaßnahmen besteht dieGefahr, den Blick zu allgemein auf die Gruppe der Täter zu richten und zu unter-stellen, dass Straftäter eine homogene Gruppe wären. Das Gegenteil ist der Fall:Innerhalb des Strafvollzugs ist eine große Varianz an psychiatrischen Diagnosen,Persönlichkeitsmerkmalen und Handlungsmotivationen zu finden. Ferner wirdStraftätern ein hohes Aggressionspotenzial (vgl. Roth, Lück & Strüber, 2006: 55),Gewaltbereitschaft (vgl. Konicar, Veit & Birbaumer 2012: 332), Widerstand und Abwehr(vgl. Wischka, 2012a: 535), Gehemmtheit bzw. Impulsivität (vgl. Pfäfflin 1997: 63) oderunterschiedliche Persönlichkeitsstörungen (vgl. Konicar et al., 2012: 332) zugeschrieben.

Einen Eindruck über die Gesamtpalette möglicher Störungsbilder erhält man beider Betrachtung der Risikofaktoren für Erstdelinquenz. Laubacher et al. führt hier-bei Schizophrenie, Substanzmissbrauch, Persönlichkeitsstörungen und belastendeMissbrauchs-Erfahrungen auf (vgl. Laubacher, Gerth, Gmür & Fries, 2012: 34). Roth et al. konstatierte bei Vielfach-Gewalttätern zudem neurophysiologische Defizite, deren Entstehung schon bis in die frühe Kindheit zurückreichen kann und eine besondere Vulnerabilität bilden.

„In Kombination mit negativen psychosozialen Faktoren wie defizitäre Bindungserfahrungen (z.B. Vernachlässigung durch die Bezugsperson), körperlicher Misshandlung, sexuellem Missbrauch und Gewalterfahrungen in der nahen sozialen Umgebung führen sie aber mit hoher Wahrscheinlichkeit zu chronischer Gewalttäterschaft“ (Roth et al., 2006: 58).

Basierend auf den Bindungstheorien von Bowlby sieht Renn (vgl. ebd., 2006: 21-22) den Ursprung von gewalttätigem Handeln ebenfalls in Störungen früher Bindungserfahrungen, die sich in destruktiven Beziehungs- und Handlungsmustern im Erwachsenenalter äußern können.

Traumatische Erfahrungen werden ebenso in Verbindung mit Straftätern diskutiert (vgl. Sinason, 1996: 371). Stiels-Glenn (vgl. 2003: 29) spricht von möglichen „komplexen Traumata“ in der Lebensgeschichte von Straftätern. Wischka (vgl. 2012: 525) beschreibt einen „Kreislauf der Gewalt“, in dem frühere Opfer zu Täter werden. Laut einer Studie von Rossegger et al. haben 13% der Sexualstraftäter Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und sie legen nahe, „dass sexuelle Missbrauchserfahrung zu einem erhöhten und chronifiziertenRisiko für Kindesmissbrauchstäterschaft führen“ (Rossegger et al., 2011: 869).

Allerdings sind nicht nur Folgeerscheinungen von frühen traumatisierenden Erfah-rungen in der Kindheit bei Straftätern zu beobachten. Kilvinger, Rossegger, Arnold,Urbaniok und Endrass untersuchte 2011, inwieweit das eigene Delikt traumatisierendeFolgen haben kann. Sie stellten fest, dass für 10% der Täter das Delikt eine belastendeErfahrung sei, 6% dieses als traumatisch erlebten und das Delikt deshalb „geeignet ist,um eine posttraumatische Belastungsstörung auszulösen“ (ebd., 2011: 260).

Es zeigt sich, dass die Gruppe der Straftäter eine stark heterogene Gruppe ist, die eine große Bandbreite von Themen und Symptomatiken aufweist. Zumeist bestimmen diese die individuellen Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung und haben damit Einfluss auf jede Art von begleitenden Maßnahmen.

1.5 Institutionelle Voraussetzungen

Die soziale Welt des Gefangenen ist das soziale System des Gefängnisses. Diesen Zusammenhang expliziert u.a. der Soziologe Erving Goffmann 1973 in seinem Standardwerk „Asyle“, wo er das Gefängnis als „totale Institution“ beschreibt:

„Jede Institution nimmt einen Teil der Zeit und der Interessen ihrer Mitglieder in Anspruch und stellt für sie eine Art Welt für sich dar: kurz, alle Institutionen sind tendenziell allumfassend!“ (ebd., 1973: 15).

In diesem allumfassenden Charakter regelt das Gefängnis für den Gefangenen Existentielles: den Raum, die Zeit, die Arbeit, die Bedürfnisse, die sozialen Kontakte. Welche Einflüsse diese institutionellen Strukturen auf die Inhaftierten haben, beschreibt Viggiani (2007) in seiner Studie „Unhealthy prisons: exploring structural determinants of prison health“ und konkludiert:

„The research participants had to adapt and cope with a compulsory, paterna-listic and authoritarian structured way of life and assimilate with institutio-nal norms and procedures reflected in the prison code. The institution, with itsregime and traditions, brought significant deprivations for prisoners, given thatthey experienced alienation, loss of privacy, loss of independence, heightenedsurveillance, competition for wages and divisive rules and strategies inherentwithin the regime and evident within the conduct of prisons officers“ (De Vig-giani, 2007: 128).“

Neben der institutionellen Struktur (die man als ‚offiziellen Kultur’ bezeichnen kann) wird die Welt des Gefangenen zusätzlich durch die Subkultur des Gefängnisses d.h. durch die sozialen und kulturellen Strukturen der Gefangenengemeinschaft geprägt. De Viggiani (vgl. 2006: 77-82) untersuchte die subkulturellen Strukturen in britischen Gefängnissen und identifizierte u.a.

- Oberflächlichkeit und Täuschung in sozialen Kontakten
- Emotionale Unterdrückung
- Reputation - der Versuch sich einen höheren Status zu sichern, über das Angeben mit den eigenen Straftaten
- Heterosexismus
- Rassismus
- Ausbeutung und andere Formen von Gewalt als wesentliche Teile, die das subkulturelle System, in welchem sich der Gefangene bewegt, ausmachen.

1.6 Zusammenfassung

Die Strukturen des Gefängnisses und der Justiz stellen in ihren unterschiedlichen Aspekten einen Teil des Kontextes für Begleitungsmaßnahmen und damit auch für körper- und bewegungsbasierte Interventionen dar. Die Ursache dafür, dass dieser Kontext trotz aller Ambivalenzen und Spannungsfelder in seinen strukturellen Gegebenheiten überdauert, führt der Philosoph Michel Foucault in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ auf eine einfache Tatsache zurück:

„Man kennt alle Nachteile des Gefängnisses: dass es gefährlich ist, dass es vielleicht sogar nutzlos ist. Und dennoch „sieht“ man nicht, wodurch es ersetzt werden könnte“ (ebd. 1994: 296).

Den anderen Teil des Kontextes von Begleitungsmaßnahmen bildet die Heterogenität der Klienten mit ihren unterschiedlichen Täterprofilen und möglichen pathologischen Symptomatiken. Diese Faktoren wirken sich ebenfalls auf die Umsetzung und Effektivität der Begleitungsmaßnahmen aus.

Auch Forschungsprojekte, die sich im Vollzug realisieren, werden von diesen klientenspezifischen und institutionellen Parametern tangiert und beeinflusst (vgl. Endrass et al., 2012: 49 & Endrass et al. 2008: 8). Auf diesen Aspekt wird im Kapitel C.3.4.1. vertiefend eingegangen.

2. Ursprung und Bedingungen von körper- und bewegungs- basierten Interventionen

Körper- und bewegungsbasierte Interventionen haben ihre Wurzeln in unterschied-lichen pädagogischen und therapeutischen Feldern, wie z.B. in der Tanz- und Bewe-gungstherapie, der Sportpädagogik, der Körperpsychotherapie, den Bewegungsküns-ten oder den Entspannungstechniken. Körper- und bewegungsbasierte Interventionenwerden als eigenständige Maßnahme angeboten (z.B. Theatertherapie, Körperpsycho-therapie oder Autogenes Training) oder sie sind als Teilaspekte in zumeist sprachba-sierten Maßnahmen integriert (z.B. Rollenspiele innerhalb einer Gesprächstherapie).Unabhängig von der theoretischen oder strukturellen Einbettung dieser Interventi-onen werden sie vor allem mit Blick auf die Verbindung zwischen körperlicher Akti-vität und innerem Erleben eingesetzt: Entspannungstechniken zielen darauf ab, dieKlienten mit Ruhe in Kontakt zu bringen, bewegungstherapeutische Explorationenversuchen erstarrte Emotionen in Bewegung zu bringen, oder ein Rollenspiel in einerKonfliktsituation soll das Erleben der eigenen Haltung bzw. die Wahrnehmung für dieHaltung des Anderen vertiefen.

Im Folgenden werden unterschiedliche Begründungszusammenhänge von körper-und bewegungsbasierten Interventionen und damit verbundene theoretische Kern-konzepte expliziert. Der Schwerpunkt liegt auf dem Bereich der Körperpsychothera-pie, der Embodimentforschung und der Tanz- und Bewegungstherapie, da in diesenBereichen seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts empirische Forschungs-projekte realisiert werden und ein fundierter theoretischer Diskurs existiert.

2.1. Genese

Der Ursprung körper- und bewegungsbasierter Verfahren reicht bis zu den Reformbe-wegungen in Gymnastik (z.B. Else Gindler (1885-1961)) und Tanz (z.B. Rudolf von Laban(1879-1958)) und bis in die Entwicklung der Psychoanalyse zurück (vgl. Geuter, 2006:17). So explizierte der Psychiater und Psychoanalytiker Wilhelm Reich schon in derersten Hälfte des letzten Jahrhunderts verschiedene Haltungstypen im Zusammen-hang mit „charakterlichen Panzerungen“ (Reich, 1973: 106), die sich aufgrund chroni-fizierter Abwehrvorgänge herausbilden. In der von ihm entwickelte „Vegetotherapie“versuchte Reich über die Arbeit an körperlichen Blockaden diese Charakterpanzerungzu lösen (vgl. ebd. 1973: 226-272; Trautmann-Voigt & Voigt, 2009: 11). Reichs Ideen undImpulse wurden über die Jahrzehnte aufgegriffen und finden sich in veränderter Formin körpertherapeutischen Schulen, wie z.B. der Bioenergetik, der Core-Energetik oderdem Hakomi (vgl. Geuter, 2006: 21) wieder.

Die Wechselwirkung zwischen körperlichen Prozessen bzw. Bewegungsmustern und inneren Vorgängen wurden von den körper- und bewegungsbasierte Verfahren in den letzten hundert Jahren für Veränderungsprozesse instrumentalisiert. Ruegg nennt diese Wechselwirkung somatopsychisch, da „nicht nur unser Geist auf den Körper, sondern umgekehrt auch unser bewegter Körper auf Seele und Geist einzuwirken vermag“ (ebd., 2006: 164).

Trautmann-Voigt und Voigt (2007) schreiben körper- und bewegungsbasierten Interventionen im Zusammenhang mit psychotherapeutischen Prozessen eine „vermittelnde Funktion zwischen einem tiefenpsychologischen oder einem anderen Beziehungsmodell und dem medizinischen Behandlungsmodell“(ebd., 2007: 42).

zu. Es sind vor allem diese vermittelnden Funktionen zwischen verschiedenen menschlichen Bereichen (körperlich, emotional, psychisch oder sozial), auf die sich körperbezogene Verfahren traditionell berufen.

Das Potenzial dieser Vermittlungsfunktionen machen sich zunehmend auch andere -insbesondere sprachbasierte - Therapieformen zunutze. Laut Trautmann Voigt und Voigt(vgl., 2009: 17) gibt es seit der Jahrtausendwende z.B. ein verstärktes Interesse an körper-und bewegungsbasierten Ansätzen aus dem verhaltenstherapeutischen Bereich. Dieslässt sich deutlich daran erkennen, dass verhaltenstherapeutische Schulen entwederkörper- und bewegungsbasierte Interventionen direkt integrieren (z.B. Entspannungs-verfahren als Teil von verhaltenstherapeutischen Verfahren) oder körperliche Prozesseinnerhalb der methodischen Konzeption eine Rolle spielen (z.B. in der Schematherapie).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wechselwirkung zwischen körperlichen und intrapsychischen Vorgängen seit Beginn der Entwicklung von körperbasierten Verfahren theoretisch herangezogen bzw. erweitert, empirisch erforscht und in der Praxis genutzt werden.

2.2. Theoretische Fundierung von körper- und bewegungs-basierten Interventionen

Körper- und bewegungsbasierte Interventionen stützen sich theoretisch auf unterschiedliche Wissensgebiete, die im Folgenden expliziert werden. Die Darstellung dieser theoretischen Bezüge folgt nicht dem zeitlich-historischen Verlauf ihrer Entstehung, sondern orientiert sich an der inhaltlichen Stringenz.

2.2.1. Die Perspektive der Neurowissenschaften

Aus der Sicht der Neurowissenschaften, die u.a. das innerphysische Zusammenspiel von neuronalen Prozessen, Wahrnehmung und Verhalten erforschen, sind Körperund Bewegungsprozesse hinsichtlich verschiedener Aspekte relevant.

Laut Hüther (vgl., 2006: 91-95) erfolgen neuronale Festlegungen auf der Basis früherkörperlicher Erfahrungen, welche in der Folge die individuellen Wahrnehmungs-und Handlungsmuster bestimmen. Nur über neue körperliche, taktile oder senso-motorische Signale ist es möglich, alternative neuronale Verschaltungen herzustel-len und damit andere Handlungskompetenzen zu entwickeln. An anderer Stelle legtHüther noch eine engere Verbindung zwischen körperlichen Prozessen und Verhal-tensmuster:

„Körperliche Haltungen sind in der körperlichen Struktur verankerte („embodied“) Erfahrungen. Diese Haltungen sind es, die die Wahrnehmung von und in der Welt und das eigene Handeln bestimmen“ (ebd., 2011: 70).

Vor dem Hintergrund körperlicher Erfahrungen beschreibt Bauer den direkten Zusam-menhang zwischen körperlichen und neuronalen Prozessen: Verletzungen oder Trau-mata verändern hirnphysiologische Strukturen. Sie werden im Körper gespeichertund bestimmen zukünftige Verhaltensmuster der Klienten (vgl. ebd., 2011: 79).

Das Zusammenspiel zwischen körperlichen und inneren Vorgängen wurde durch dieEntdeckung der Spiegelneurone untermauert und um eine intersubjektive Dimensionerweitert. Gallese und Rizzolatti konnten 1996 in Tierversuchen die Existenz der Spie-gelneuronen nachweisen. Sie werden in der gemeinsamen Bewegung aktiviert undermöglichen, dass die Bewegung des anderen nacherlebt und reproduziert werdenkann. Auch bereits in der Beobachtung der Bewegung eines anderen werden neuronaleVorgänge stimuliert, d.h. über Bewegung stellt sich auf neuronaler Ebene Resonanz,Verbindung und in der Folge eventuell das ‚Verstehen des anderen’ ein (vgl. Gallese &Sinigaglia, 2011: 133-136; Gallese, 2003: 173 -174; Gallese et al. 2003: 323-337)

Diese in körperlichen Vorgängen verwurzelte neuronale Einstimmungsmöglichkeitnutzen körper- und bewegungsbasierte Interventionen in gemeinsamen Bewegungs-dialogen:

„In der Ko-Regulation kommunizieren die Gehirne von Therapeutin und Patientin über kinästhetische, akustische, taktile und visuelle Spiegelungsprozesse miteinander. Auf diese Weise werden neue Elemente des affektiven und motorischen Repertoires ausgebildet und führen langfristig zur Kompetenz der Selbstregulation“ (Eberhard-Kächele, 2009: 251).

Diese Erkenntnisse der Neurowissenschaften stützen und erweitern die Konzeptionder Wechselwirkung zwischen körperlichen und inneren Prozessen, auf die sich kör-per- und bewegungsbasierte Verfahren zumeist berufen. Allerdings sind diese neuro-logischen Vorgänge und die daraus resultierende Intersubjektivität nicht allein als einehirnorganische Funktion zu konzeptualisieren. Fuchs und De Jaegher argumentieren,dass die Funktionen der Spiegelneuronen (wie Simulation und Resonanz) sich nur ent-falten, wenn diese im Kontext von bedeutungsvollen Interaktionen und gegenseitigerVerkörperung stattfinden (vgl. Fuchs & De Jaegher, 2009: 469). In diesen Interaktio-nen zweier Körper entstehen für das Verstehen von körper- und bewegungsbasier-ten Interventionen relevante Phänomene der Interkorporalität bzw. der Zwischenleib-lichkeit. Über die interagierende Bewegung zweier Körper wie z.B. Gesichtsausdruck,Stimme oder Gestik entsteht ein gemeinsamer körperlicher Zustand:

„Their body schemas and body experiences expand, and in a certain way, incorporate the perceived body of the other. This creates a dynamical interplay which forms a particular phenomenal basis of social understanding and which we will describe as „mutual incorporation““ (ebd., 2009: 472).

2.2.2. Die Perspektive des Embodiments

Körper- und bewegungsbasierte Interventionen werden deutlich von Erkenntnissen aus dem Bereich der Embodiment-Forschung gestützt. Embodiment wird zumeist mit Verkörperung übersetzt, wobei Koch (vgl. 2011: 18) in ihrer Übersetzung den Begriff mit „Leiblichkeit“ erweitert und sich damit deutlich auf den Phänomenologen Merleau-Ponty bezieht.

Tschacher skizziert das Konzept des Embodiment wie folgt:

„Unter Embodiment (deutsch etwa „Verkörperung“) verstehen wir, dass der Geist (also: Verstand, Denken, das kognitive System, die Psyche) mitsamt dem Organ, dem Gehirn immer in Bezug zum gesamten Körper steht. Geist / Gehirn und Körper wiederum sind in die restliche Umwelt eingebettet. Das Konzept Embodiment behauptet, dass ohne diese zweifache Einbettung der Geist / das Gehirn nicht intelligent arbeiten kann“ (ebd., 2006: 15).

Auch Koch unterstreicht diese Wechselseitigkeit von körperlichen Prozessen mit ande-ren leiblichen Teilbereichen. Nicht nur drückt der Körper etwas bzw. sich aus (Unidi-rektionalität), sondern körperliche Prozesse haben ihrerseits direkte Wirkung auf z.B.Kognition und Affekt (ebd., 2011: 19). Die Embodiment-Ansätze gehen demnach voneiner engen Verbindung zwischen körperlichen, inneren und sozialen Prozessen aus.

Zentral für die Analyse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen ist dievon der Embodiment-Forschung beschriebene Bi- oder Multidirektionalität zwischenMotorik und Affekt bzw. Kognition. Demzufolge drückt sich ein Affekt bzw. einebestimmte Kognition nicht nur im (Bewegungs-)Verhalten aus, sondern Bewegung hatauch direkten Einfluss auf Affekt und Kognition (vgl. Fuchs, 2014: 14; Koch, 2009: 233;Koch & Fuchs, 2011: 276; Storch, 2006: 48). Dieser Zusammenhang legt für die Arbeitmit körper- und bewegungsbasierten Interventionen nahe, dass jede Bewegung desKlienten eine Verbindung zu einem Affekt oder einer Kognition hat. Im Rückschlußbedeutet dies, dass über die Organisation des Bewegungsrepertoires eine Neu-Struk-turierung im affektiven und kognitiven Bereich bewirkt werden kann.

Ein weiterer relevanter Aspekt aus der Embodiment-Forschung für körper- undbewegungsbasierte Interventionen ist das Konzept der Einbettung (Embeddedness)von Verkörperungen in die Umwelt, das auch in Tschachers Definition zu finden ist:

„Geist/ Gehirn und Körper wiederum sind in die restliche Umwelt eingebettet“ (ebd. 2006: 15).

Kognition, Affekt und Verhalten konstituieren sich demnach durch konkrete Verkörperungen innerhalb der direkten Umgebung und „das Geistige besteht vielmehr in der Interaktion von Körper und Welt“ (Fingerhut, Hufendiek & Wild, 2013: 92).

Für alle soziale Interaktionen legen Tschacher und Storch nahe, dass „in der Interaktion eine systemische Synchronie emergiert, die auf dem individuellen Embodiment aufbaut“ (ebd., 2012: 265).

Damit untermauern sie (genau wie die Neurowissenschaften), dass körperliche Prozesse, insbesondere die in Bewegung stattfindenden Einstimmungs- oder Resonanzphänomene konstitutiv für zwischenmenschliche und demnach auch für therapeutische Beziehungen sind (vgl. Tschacher, Tomicic, Martinez & Ramseyer, 2012: 46-50). Schwerdtner (vgl. 2010: 426) expliziert ähnliche Synchronisationen in der therapeutischen Situation und legt deren positiven Effekte, die auf der Basis der wiederholten Aktivierungen des Systems der Spiegelneuronen durch spezielle Handlungs- bzw. Bewegungsabfolgen entstehen, nahe.

Die Embodimentforschung schreibt dem Körper auch in der Wissensgenese und Wissensrepräsentation eine wichtige Rolle zu:

„Jedes ursprüngliche Erleben beinhaltet zunächst die Speicherung von sensorischen, motorischen und erlebnisorientierten Zuständen. Wird später die Erinnerung an dieses Erleben relevant, so wird das ursprüngliche Erleben teilweise körperlich simuliert“ (Koch, 2011: 48).

In der Konsequenz heißt dies, dass der Körper das Erfahrene als individuelles Wissenverwahrt, welches über Erinnerung oder über Bewegung wieder abgerufen werdenkann und dann zur Verfügung steht. Demnach ist auch das Aktivieren von Erinnerungund Gedächtnisinhalten gebunden an körperliche Vorgänge (vgl. Tschacher, 2006: 32).Dies deckt sich mit dem Konzept des Körpergedächtnisses, das vor allem für Interven-tionen aus dem Bereich der Tanz- und Bewegungstherapie und der Körperpsychothe-rapie relevant ist.

„Das Körpergedächtnis geht auf multimodale sinnliche Erfahrungen zurückund beinhaltet Erinnerungsspuren der Reflextätigkeit ebenso wie andere moto-rischen Aktionen und Reaktionen.“ (Trautmann-Voigt & Voigt, 2009: 101)

Diese „Erinnerungsspuren“ können durch körper- und bewegungsbasierte Interventionen aktiviert und im Sinne der therapeutischen oder pädagogischen Zielsetzung genutzt werden.

2.2.3. Die Perspektive der Leibphänomenologie

Die Diskurse der Embodiment-Forschung und den körpertherapeutischen Theoriensind nicht zu trennen von grundsätzlichen Überlegungen zur Konstruktion des Kör-pers, die u.a. in der Leibphänomenologie und Soziologie zu verorten sind. Zentral dabeisteht die Frage nach dem Körper als Subjekt bzw. Objekt und der Doppeldeutigkeit desbewegenden Körpers.

Merleau-Ponty leitet die Doppeldeutigkeit des Körpers anhand des Vergleichs zwischeneinem Gegenstand und dem Körper her: während man den Gegenstand erforschen,unterschiedliche Perspektiven einnehmen oder sich davon entfernen kann impliziertder Körper eine „Ständigkeit“ (vgl. Merleau-Ponty, 1966: 115-118), die Merleau-Ponty wiefolgt beschreibt:

„Die Ständigkeit des eigenen Leibes aber ist von ganz anderer Art: Er ist nichtLimes einer offenen endlosen Erkundung, er entzieht sich vielmehr jeder Durch-forschung und stellt sich mir stets unter demselben „Blickwinkel“ dar. SeineStändigkeit ist keine solche der Welt, sondern Ständigkeit „meinerseits““ (ebd.,1966: 116).

Folgt man Merleau-Ponty ist der Blick auf den Körper nie objektiver Natur: er vereint Körperliches und Leibliches und ihm bleibt aufgrund der Untrennbarkeit des physischen und wahrnehmenden Körpers grundsätzlich ein Teil verborgen.

Die Doppeldeutigkeit des Körpers beschreibt Merleau-Ponty auch für den bewegenden Körper und die damit verbundene körperliche und leibliche Erfahrung.

„Doch ihn (den Leib, d.Verf.) selbst bewege ich unmittelbar, ich finde ihn nicht an einem Punkt des objektiven Raumes vor und führe ihn zu einem anderen hin, ich muß ihn nicht erst suchen, er ist schon bei mir - und ich muß ihn selbst nicht zum Ziel der Bewegung erst hinführen, er berührt es von Anbeginn, und er selbst ist es, der sich ihm entgegenwirft.“ (ebd., 1966: 119)

Bei Merleau-Ponty ist der Körper gleichzeitig bewegender und bewegter Körper oderam Beispiel der Eigenberührung gleichzeitig berührter und berührender Körper (vgl.1966: 115). Diese Doppeldeutigkeit des Körpers ist also ein wesentlicher Bestandteiljeder Bewegungserfahrung. Fuchs (2010) beschreibt dieses Zusammen-Sein wie folgt:

„Alles bewusste Erleben ist daher nicht nur an den physiologischen Körper alsseine biologische Basis gebunden, sondern auch den subjektiven Leib. Gemeintist damit weniger der erlebte als der im Hintergrund „gelebte“ Leib als der Ortdes diffusen Befindens, Behagens und Unbehagens, der Vitalität, der Frischeoder Müdigkeit, des Schmerzens, Hungers und Durstes; weiter der Leib als Reso-nanzraum aller Stimmungen und Gefühle, die wir empfinden; und schließlichder Leib als Zentrum und zugleich Wahrnehmungen, Bewegungen und Hand-lungen (ebd., 2010: 97). “

Mit Rekurs auf Merleau Ponty unterstreichen Dornberg und Fetzner zudem noch dieZwischenleiblichkeit, die in der gemeinsamen Bewegung entsteht. Der Körper ist inein „übergreifendes intersubjektives System“ eingebettet, das sich über gemeinsame - bewusste und unbewusste - leibliche Erfahrungsmomente konstitutioniert (vgl. Dornberg & Fetzner, 2015:22).

In seinen soziologischen Analysen beschreibt Gugutzer das Verbunden-Sein von kör-perlichen und leiblichen Aspekten als eine „Einheit aus spürbarem Leib-Sein undgegenständlichem Körperhaben“ (ebd., 2004: 152) und sieht diesen Doppelaspekt alskonstitutiv für jede Handlung. Der Aspekt des Körper-Habens ist insbesondere mitBlick auf die Situation von Inhaftierten interessant und wird in Kapitel D. 1.2. näherexpliziert werden.

Die Dualität von Körper und Leib, die Unmittelbarkeit der Bewegungserfahrung und das Eingebettet-Sein von Körpern in sozial interagierende Zusammenhänge sind als primäre Vorannahmen und theoretische Grundlagen für die Entwicklung und Erforschung von körper- und bewegungsbasierten Verfahren anzusehen.

2.2.4. Die Perspektive der Körperpsychotherapie und der Tanz- und Bewegungstherapie

Körper- und bewegungsbasierte Interventionen werden u.a. von den zumindest anfänglich mehrheitlich in der Praxis erworbenen Erkenntnissen der Körperpsychotherapie und der Tanz- und Bewegungstherapie gestützt. Für beide Wissensgebiete bilden die in Kapitel 2.2.2 beschriebenen multidirektionalen körperlichen Vorgänge die Grundlage von Theorie und Praxis. Röhricht sieht die Wirksamkeit von Bewegungsprozessen in der komplexen „zentralnervösen Integration sensibel-sensorischer, motorischer, affektiver und kognitiver Prozesse und Schemata“ (ebd., 2000: 25) begründet und unterstreicht damit das Ineinanderwirken mehrerer Ebenen des Mensch-Seins.

Caldwell stellt den Zusammenhang zwischen dem individuellen Bewegungsverhal-ten und der Selbstwirksamkeit her. Über das erfolgreiche Erlernen entwicklungs-bedingter Bewegungsmuster in der Kindheit etabliert sich die Erfahrung, dass überdie eigene Art, sich zu bewegen, individuelle Ziele erreicht werden können (vgl. ebd.,2006: 440).

Auch die Tanz- und Bewegungstherapie, bei der die gemeinsame Bewegung (als Gruppeoder in der Dyade) und der gestalterische Prozess im Zentrum stehen, fußt auf derMultidirektionalität von Körper- und Bewegungsprozessen. Bereits 1983 untersuch-ten Tanz- und Bewegungstherapeuten die Beziehung zwischen körperlicher Synchro-nisation und empathischer Verbindung (vgl. Fraenkel, 1983: 44-47) und sprachen imZusammenhang mit körperlichen Resonanzphänomenen z.B. von „movement empa-thy“ (Siegel 1995: 125-127). ‚Movement empathy’ oder ‚kinesthetic empathy’ beschreibtdie körperlich gestalteten intersubjektiven Räume, die während tanz- und bewe-gungstherapeutischen Bewegungsdialogen entstehen und die für den therapeuti-schen Prozess genutzt werden und stellt ein zentrales Element in der tanz- und bewe-gungstherapeutischen Theorie und Praxis dar (vgl. Hervey, 2007: 98). 1985 beschreibtSchmais unter Bezug auf Albert E. Scheflen, rhythmische, räumliche und dynamische Synchronität, um die Beziehung in der Dyade und dem Kollektiv zu fördern (vgl. Schmais, 1985: 19). Die Wechselseitigkeit im Prozess der ‚kinesthetic empathy’ unterstreicht Sandel (1993) wie folgt:

„Empathic reflection is both a means of acquiring information and a method of intervening. As such it requires the therapist’s sensitivity and perceptiveness to several coexisting dimension of overall movement expereince [...] Empathic reflection is, however, a multidimensional process, including a variety of interactions, only one of which may be mirroring“ (ebd., 1993: 98).

Hervey (2007) beschreibt ein breites Instrumentarium von tanz- und bewegungstherapeutischen Interventionen, die Spiegelungsprozesse innerhalb der gemeinsamen Bewegung zwischen Therapeut und Klient beschreiben:

„Empathic reflection, somatic countertransference, synchrony, mirroring, echoing and attuning are embodied methods by dance/ movement therapists that engage and support empathy“ (ebd., 1993: 99).

Bewegungsdialoge sind also nicht nur einfaches „Bewegung Nach- oder Mitmachen“,sondern basieren auf unterschiedliche Techniken und Interventionsmöglichkeiten.

Eberhard-Kächele (2009: 254-255) beschreibt die Operationalisierung von Spiegelungs-modalitäten entlang eines entwicklungspsychologischen Paradigmas. Sie betont, dassdie Spiegelungsprozesse differenziert eingesetzt werden müssen, um nicht kontrapro-duktiv zu wirken.

„Spiegelungsabläufe, die sich entweder ständig wiederholen, eskalieren oder zur Erstarrung führen, bedeuten eine neuronale Verarmung, da stets die gleichen Schaltwege im Gehirn genutzt und andere vernachlässigt werden. Dieses führt ebenfalls zu einer Verarmung auf kognitiver, affektiver und motorischer Ebene und zu einer Störung der Selbstregulation (ebd., 2009: 262).“

Die Effektivität von tanz- und bewegungstherapeutischen Methoden wird in vielenVeröffentlichungen nahegelegt. Demgegenüber stehen allerdings nur wenige, metho-dologisch nicht angreifbare Studien, die deren Effektivität belegen (vgl. Tschacher etal., 2014: 173). Jedoch untermauern Koch, Kunz, Lykou und Cruz in ihrer Metaana-lyse aus 2014 die Effekte der tanz- und bewegungstherapeutischen Behandlungenund beschreiben eine Verbesserung in dem Bereich Körperbild, in der Behandlungvon Depression und Angststörung und in der Förderung der subjektiven Lebensqua-lität (vgl. ebd., 2014: 56-60). Für den methodisch verwandten Bereich der körperpsy-chotherapeutischen Behandlungen mit schizophrenen Menschen konnten Röhricht und Priebe in ihrer randomisierten und kontrollierten Studie eine Verbesserung im Bereich der Negativsymptomatik belegen (vgl. ebd., 2006: 673).

Die theoretische Erweiterung der Tanz- und Bewegungstherapie durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Embodimentforschung und deren Implikationen für die Praxis wurden u.a. von Berrol (vgl. 1992 & 2006), Winters (vgl. 2008) und Koch & Fischman (vgl. 2011) beschrieben.

2.3. Zusammenfassung

Körper- und bewegungsbasierte Interventionen stützen sich theoretisch auf Erkennt-nisse unterschiedlicher Forschungsbereiche, insbesondere aber auf Erkenntnisse derKörperpsychotherapie, der Neurowissenschaften, der Embodimentforschung, derPhänomenologie und den Sozialwissenschaften. Grundkonzepte zum Verständnisvon körper- und bewegungsbasierten Interventionen und ihrer Analyse innerhalb vor-liegender Studie sind:

1. Körper- und Bewegungsprozesse haben immer eine vermittelnde Funktionzwischen unterschiedlichen Funktionsbereichen des Menschen.
2. Körper- und Bewegungsprozesse vereinen immer körperliche und leiblicheAspekte.
3. Über Interaktion entsteht zwangsläufig Zwischenleiblichkeit und körperlicheIntersub-jektivität. Diese zeigt sich in körperlichen Resonanzen undSimulationen, die u.a. neurophysiologisch begründet sind, aber ihre Relevanzerst in der sozialen Interaktion entwickeln.
4. Bewegungsprozesse und Verkörperungen sind immer eingebettet in sozialeund kulturelle Umweltbedingungen.
5. Über Bewegung und Verkörperung entsteht eine gegenseitige Beeinflussungvon körperlichen, affektiven und kognitiven Prozessen.

Basierend auf diesen Ausführungen und im Sinne der Trennschärfe werden in der weiteren Analyse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen drei unterschiedliche Begrifflichkeiten in der Beschreibung von Körper- und Bewegungsprozessen gebraucht, die körperliche und leibliche Aspekte gleichermaßen beinhalten: ‚Körpersprache/ körpersprachlich’, ‚nonverbal’ und ‚Bewegungsprozess/e’. Laut Trautmann-Voigt und Voigt umfasst ‚Körpersprache/ körpersprachlich’ „unterschiedliche Verhaltens- und Interaktionselemente, die in ihrer Gesamtheit die Körpersprache bilden. Dazu gehören Körperkontakt und Berührungselemente, Gebärden, Gestik, Haltung, Mimik, Stimmmodulation, Sprechtempo und Sprachmelodie, die äußere Erscheinung als Gesamtbild, Tonfall, Körperausdrucksprozesse in mehr oder weniger langen und mehr oder weniger strukturierten Bewegungsfolgen und vieles mehr. (ebd., 2009: 1)

Innerhalb dieser Forschungsarbeit wird die Formulierung ‚Körpersprache/ körper-sprachlich’ in dem von Trautmann-Voigt und Voigt formulierten umfassenden Sinneingesetzt.

‚Nonverbal’ wird im Kontext der vorliegenden Arbeit dann gebraucht, wenn Bewegungsprozesse unabhängig oder getrennt von lautlicher oder sprachlicher Parallelität expliziert werden.

In Abgrenzung dazu beschreibt der Term ‚Bewegungsprozesse’ jene Bewegungs-sequenzen, die innerhalb der Arbeit mit körper- und bewegungsbasierten Interven-tionen entstehen. Diese können vorgegeben und damit strukturiert sein, oder in dertherapeutischen oder pädagogischen Arbeit reaktiv im Klienten entstehen und unter-schiedlichen Ursprung (z.B. physischen, emotionalen oder gestalterischen) haben.

C. EMPIRIE

1. Methoden und Forschungsprozess

Körper- und bewegungsbasierte Interventionen werden in vorliegender Forschungsarbeit in einer Sequenz von vier Teilstudien mit jeweils unterschiedlichen Forschungsperspektiven untersucht. Die jeweiligen forschungsleitenden Fragen und Forschungsmethoden werden im Folgenden expliziert.

1.1. Fokussierung des Forschungsgegenstandes

Die vorliegende Arbeit grenzt die Fragestellung geschlechtsspezifisch ein und kon-zentriert sich auf körper- und bewegungsbasierten Interventionen mit männlichenStraftätern.

Die soziale Konstruktion von Geschlecht, Geschlechterrollen und Habitus wurden imsozialwissenschaftlichen Diskurs hinreichend diskutiert. Körperliche Prozesse undkörpersprachliches Handeln sind damit eng verbunden, da sie eine bedeutende Rolleals Informations- und Handlungsagent spielen (vgl. Butler, 1988: 520-529, Butler: 2009:35-71, Bourdieu, 1987: 306-307, Fuchs-Heinritz & König, 2011: 135-139). Demzufolge sindGenderunterschiede und Prozesse von Habitualisierung in Bezug auf Körperkonzepte,Bewegungskultur und Bewegungsinterventionen eine wichtige und nicht zu vernach-lässigende Variable. Es ist zu mutmaßen, dass körper- und bewegungsbasierte Interven-tionen abhängig vom biologischen und sozialen Geschlecht anders rezipiert werden,demzufolge unterschiedlich konzipiert werden müssen, unter Umständen andere Wir-kungen entfalten und eventuell nicht vergleichbar sind. Diese Differenz könnte durchdie Tatsache, dass der Strafvollzug nach Geschlechtern trennt, noch verstärkt werden.

Ein weiteres Argument für die Eingrenzung auf männliche Gefangene zugunsten höherer Vergleichbarkeit sind die strukturellen Haftbedingungen von Männern bzw. Frauen, die schon allein aufgrund der unterschiedlichen Anzahl von Inhaftierten (2014 waren in der BRD 4381 Frauen und 76181 Männer inhaftiert) nicht gleichzusetzen sind (vgl. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, 2014: 5). Die Ergebnisse dieser Studie sind insofern nicht uneingeschränkt auf weibliche Gefangene übertragbar.

Die Fokussierung des Forschungsgegenstandes und ein Teil des methodischen Vorgehens sind von dem Umstand geprägt, dass ich seit 2000 in verschiedenen Kontextendes bundesdeutschen Strafvollzugs als Bewegungstherapeut mit männlichen Straftä-tern arbeite. So wurde das Anti-Gewalt-Training nach e|m|o processing®, das im Kontext dieser Untersuchung evaluiert wird (siehe Kapitel C.3.) von mir entwickelt und durchgeführt. Diese Synthese von Praktizieren und Forschen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen werden in Kapitel C.3.4. diskutiert.

1.2. Teilstudien und Forschungsperspektiven

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 - Übersicht Forschungsdesign/ Gesamtstudie

Teilstudie und Forschungsperspektive 1

Die erste Teilstudie gibt mittels einer systematischen Übersichtsarbeit einen Überblick über den Einsatz von körper- und bewegungsbasierten Interventionen im Strafvollzug.Auf der Basis einer systematischen Datenbankrecherche werden 23 Fachpublikationenextrahiert und vergleichend besprochen. Forschungsleitende Fragen hierbei sind:

I. Welche körper- und bewegungsbasierten Interventionen werden im Strafvollzug bei männlichen Straftätern eingesetzt?

II. Welche Erfahrungen und Effekte sind dokumentiert?

Teilstudie und Forschungsperspektive 2

In der zweiten Teilstudie wird eine körper- und bewegungsbasierte Intervention (Anti-Gewalt-Training/ AGT von e|m|o processing®) im Hinblick auf mögliche Effekte evaluiert. In einem pre/post Design (n=47) werden quantitative Erhebungen, Bewegungsbeobachtungen (Kestenberg Movement Profile/ KMP) und Fokusgruppengespräche durchgeführt und die quantitativen Daten statistisch ausgewertet. Die forschungsleitende Fragestellung hierbei ist:

I. Was sind die Effekte von körper- und bewegungsbasierten Inter- ventionen am Beispiel des Anti-Gewalt-Trainings von e|m|o processing® in den Bereichen emotionaler Kompetenz, Körperwahrnehmungund Umgang mit Aggression?

Teilstudie und Forschungsperspektive 3

Die dritte Teilstudie untersucht verschiedene methodische Ansätze, um Bewegungsprozesse zu evaluieren. Auf der Basis einer Datenbankrecherche werden die wichtigsten Erhebungsinstrumente vergleichend beschrieben. Die forschungsleitende Fragestellung hierbei ist:

I. Welche Erhebungsmethoden sind geeignet für die Beschreibung und

Evaluation von Bewegungsprozessen?

Teilstudie und Forschungsperspektive 4

Teilstudie 4 richtet sich auf die Wirkprozesse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen. Die 23 Fachpublikationen der systematischen Übersichtsarbeit werden in einer rekonstruktiv-hermeneutischen Analyse auf die Wirkprozesse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen untersucht.

Forschungsleitende Fragen hierbei sind:

I. Was sind die Wirkprozesse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen?

II. Worauf richten sich körper- und bewegungsbasierte Interventionen?

Die methodologischen Überlegungen und das methodische Vorgehen der einzelnen Teilstudien wird im Kontext der einzelnen Studien in den Kapiteln C.2.2., C.3.4., C.4.3. und C.5.2. erläutert.

1.3 Methodische Einordnung

Die Analyse von körper- und bewegungsbasierten Interventionen ist zumeist anbestimmte pädagogische oder therapeutische Schulen gebunden. Es gibt keine Studien,die körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Strafvollzug ‚Schulen-über-greifend’ untersuchen. Das methodische Vorgehen der vorliegenden Gesamtstudie solleine Erforschung von körper- und bewegungsbasierten Interventionen unabhängigvon ihrem theoretischen Hintergrund ermöglichen und eine Lücke im wissenschaft-lichen Diskurs schließen.

Unter wissenschaftsmethodischen Gesichtspunkten ist die vorliegende Forschungsar-beit, aufgrund der Kombination von qualitativen und quantitativen Forschungsmetho-den als eine „Mixed-Methods Studie“ einzuordnen (vgl. Schreier & Odag, 2010: 263).Auch wenn der Methodenstreit zwischen quantitativer und qualitativer Forschungeinen anderen Eindruck hinterlässt, ist historisch die Kombination dieser Forschungs-paradigmen seit Beginn des letzten Jahrhunderts keine Seltenheit (vgl., ebd. 2010: 263-265).

Der Begriff ‚Mixed-Methods Studie’ wird im wissenschaftlichen Diskurs nicht immer trennscharf zu Begrifflichkeiten wie z.B. ‚Multiple-Methods Studie’ oder ‚Blended Research’ gebraucht (vgl. Schreier & Odag, 2010: 265, Morse & Cheek, 2014: 3). Bei vorliegender Studie orientiere ich mich an einer allgemeinen Definition von Schreier und Odag, die Mixed-Methods Studien global als „die Kombination von Elementen eines quantitativen und eines qualitativen Forschungsansatzes innerhalb einer Untersuchung oder mehrerer aufeinander bezogener Untersuchungen“ (ebd., 2010: 263) definieren.

Greene et al. (vgl. 1989: 258-260) unterscheiden für Mixed-Methods Studien fünf unterschiedliche Funktionen: Konvergenz, Komplementierung, Initiierung, Entwicklung und Erweiterung. Bei Mixed-Methods Studien mit dem Ziel der Erweiterung richten sich die verschiedenen Forschungsmethoden auf unterschiedliche Bereiche des Forschungsgegenstandes, die allerdings eng miteinander verbunden sein müssen. Hier zielt der Einsatz der verschiedenen Design-Komponenten darauf ab, ein möglichst breites Bild des Forschungsgegenstandes zu geben:

„Expansion seeks to extend the breadth and range of the inquiry by using different methods for different inquiry components (ebd., 1989: 259).“

Analog dazu intendiert die vorliegende Studie durch die Verschränkung der vier Teilstudien und ihrer Forschungsperspektiven ein Gesamtbild über körper- und bewegungsbasierte Interventionen zu geben.

2. Körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Vollzug

Nachdem im letzten Kapitel (C.1.) ein Überblick über die methodische Herangehens-weise der Gesamtstudie gegeben wurde, widmet sich das folgende Kapitel (C.2.) der ers-ten Teilstudie. Dieser erste Forschungsschritt gibt mittels einer systematischen Über-sichtsarbeit einen Überblick über den Einsatz und die dokumentierten Effekte vonkörper- und bewegungsbasierten Interventionen im Strafvollzug. Nach der Beschrei-bung des methodischen Vorgehens werden im Folgenden sowohl der Ablauf der Studieals auch die Ergebnisse expliziert und am Ende des Kapitels diskutiert.

2.1 Einführung in Teilstudie 1

Im bundesdeutschen Strafvollzug sind körper- und bewegungsbasierte Behandlungsund Begleitungskonzepte kaum vertreten (vgl. Niemz, 2013: 27-30). Die Mehrheit, der in den verschiedenen Kontexten des Strafvollzugs etablierten pädagogischen oder therapeutischen Angebote sind sprachbasiert und haben eine überwiegend kognitiv-be-haviorale Ausrichtung (vgl. Spöhr, 2009: 36-42; Morawietz, 2012: 14-22).

Dahingegen zeigen insbesondere internationale Studien, dass körper- und bewegungsbasierte Interventionen eine sinnvolle Maßnahme im Strafvollzug sein können.

Batcup (2013) argumentiert in ihrer Übersichtsarbeit „A discussion of the DanceMovement Psychotherapy literature relative to prisons and medium secure units“für tanz- und bewegungstherapeutische Interventionen vor dem Hintergrund mögli-cher Störungsbilder, die vermehrt im Vollzug vorkommen. Folgt man Batcup, hat sichTanz- und Bewegungstherapie als geeignete Maßnahmen im Umgang mit Persönlich-keitsstörungen, mit posttraumatischen Belastungsstörungen und Suchtproblematikerwiesen, die einen positiven Einfluss insbesondere auf das Selbstwertgefühl habenkönnen (vgl. ebd., 2013: 6-8). Blatt sieht das Potenzial von tanz- und bewegungsthera-peutischen Interventionen darin, dass die therapeutische Beziehung schneller und aufmehreren Ebenen etabliert werden kann (vgl. Blatt, 1996: 567-569). Seibel beschreibtaus ihrer Praxis eine deutliche Förderung der kommunikativen und sozialen Kompe-tenzen (vgl. Seibel, 2008: 109).

Jennings (1996) beschreibt den Einsatz von Bewegungsritualen im Kontext von dramatherapeutischer Behandlung mit Inhaftierten wie folgt:

„Therefore participants can move from individual or gang destructive ritualiz-ation to the group performance of dramatic ritual which has shared meaning“(ebd.: 557).

Im beschriebenen dramatherapeutischen Prozess werden Bewegungsformen im Zusammenhang mit Gewalt und Delinquenz genutzt und im körperlichen Prozess transformiert. Milliken (2002) beschreibt eine vergleichbare Neuorganisation des Bewegungsverhaltens am Beispiel der Tanz- und Bewegungstherapie.

„Old anti-social behaviors, reflected in movement metaphors such as impulsive, harsh actions, loss of control, withdrawal can be traded in for new behavior and responses, practiced in movement structures such as slow motion action, deliberate eye contact, regulated tension release discovered here and explored, reinforced by the group energy and attitude“ (ebd., 2002: 206).

Meekums und Daniel (2011) untersuchten in ihrer systematischen Übersichtsarbeit verschiedene künstlerische Interventionen, darunter auch Theater und Tanz und unterstrichen deren Nützlichkeit hinsichtlich emotionaler Kompetenz und Lebensqualität. (vgl. ebd., 2011: 234)

Rossegger, Endrass und Borchard (2012) wiederum stellen den Zusammenhang zwischen visueller Vorstellung, Körperreaktion und Verhaltensmuster her.

„Physiologische Reaktionen mediieren den Zusammenhang zwischen Vorstellung und Handlungsmotivation: Je stärker ausgeprägt die auf einer Vorstellung folgende physiologische Reaktion ist, desto wahrscheinlicher wird eine Handlungsmotivation“ (ebd., 2012: 235).

Aber auch im bundesdeutschen Strafvollzug gibt es vereinzelt Erfahrungen mit kör-per- und bewegungsbasierten Interventionen im Strafvollzug. Dönisch-Seidel (vgl.1994: 115) schreibt den Kreativtherapien (zu denen z.B. Theatertherapie oder Tanz- undBewegungstherapie zählen) ein hohes Maß an Akzeptanz und Wertschätzung vonSeiten der Klienten zu. Eckert und Junker (vgl. 2005: 278) beschreiben körper- undbewegungsbasierte Interventionen - basierend auf ihren Erfahrungen aus dem kre-ativ-therapeutischen Programms der Rheinischen Kliniken Bedburg-Hau - als geeig-nete Maßnahme sowohl für die Langzeit- als auch für die Kurzzeitintervention.

Auch innerhalb der deliktorientierten Behandlung von Sexual - und Gewaltstraftätern können körper- und bewegungsbasierte Interventionen von Bedeutung sein. Nellissen erachtet (vgl. 1998: 105-125) körper- und bewegungsbasierte Interventionen als angezeigt, um deliktrelevante Probleme zu bearbeiten.

Dass körper- und bewegungsbasierte Verfahren selten im bundesdeutschen Strafvollzug zu finden sind, ist im engen Zusammenhang mit der Personalstruktur innerhalbdes Strafvollzugs zu sehen: Im Strafvollzug findet man vorwiegend die ‚traditionellen’ Berufsgruppen auf den Feldern der Psychologie oder der Sozialen Arbeit. Körpertherapeuten oder Kreativtherapeuten sind eher selten zu finden. Dies bestätigt auch Spöhr, die zur Situation in den Sozialtherapien feststellt, dass es „selten weitere Stellen für fachärztliche, pädagogische und therapeutische Fachdienste“ (ebd., 2009: 44) gebe. Da in der Regel nur das untersucht wird, was (häufig) zur Anwendung kommt, ist auch der wissenschaftliche Diskurs und der Forschungsstand im Hinblick auf körper- und bewegungsbasierte Interventionen überschaubar.

Ziel dieser Teilstudie ist es darum, Erkenntnisse über körper- und bewegungsbasierte Interventionen aus der Theorie und der Praxis zusammenzuführen, um damit den rudimentären Stand der Forschung zu erweitern.

Vor diesem Hintergrund werden folgende Forschungsfragen untersucht:

I. Welche körper- und bewegungsbasierten Interventionen werden im Straf- vollzug bei männlichen Straftätern eingesetzt?
II. Welche Erfahrungen und Effekte werden dokumentiert?

2.2. Methodisches Vorgehen

Die methodischen Vorüberlegungen und Entscheidungen basieren auf einer Vorre-cherche innerhalb des Forschungsfeldes, die ergab, dass nur eine überschaubare Mengean sehr heterogenen Studien und Publikationen in Bezug auf das Forschungsinteresseexistieren. Es werden eine Breite Palette an körper- und bewegungsbasierten Interven-tionen beschrieben und unterschiedliche qualitative und quantitative Forschungs-methoden eingesetzt. Ein Großteil des vorhandenen Wissens über körper- und bewe-gungsbasierte Interventionen entstammt Erfahrungswerten aus der therapeutischenoder pädagogischen Praxis und in der Mehrheit der Publikationen nehmen Fall- oderPraxisbeschreibungen einen großen Raum ein. Ziel des methodischen Vorgehens ist esdie Heterogenität der Studien und Publikationen abzubilden und das vorhandene Wis-sen möglichst breit zu sammeln.

Methodisch ist Teilstudie 1 als systematische Übersichtsarbeit einzuordnen (vgl. Res-sing, Blettner & Klug, 2009: 463; Timmer und Richter, 2008: 137-139) in der nach demsystematischen Procedere von Transparent Reporting of Systematic Reviews and Meta-analysis/ PRISMA vorgegangen wird, dabei aber unterschiedliche Studientypen inklu diert werden. Durch die Systematik und Transparenz des Suchprocedere grenzt sich das methodische Vorgehen dieser Teilstudie von narrativen Reviews ab, die in ihrer Literaturauswahl unsystematisch und subjektiv vorgehen (vgl. Ressing et al., 2009: 456-457). Da das Ziel der Teilstudie 1 nicht das Erstellen von quantitativen Vergleichsdaten ist, rechtfertigt sich die Inklusion aller thematisch relevanten Publikationen vor dem Hintergrund einer hohen Aussagekraft über körper- und bewegungsbasierten Interventionen im Strafvollzug.

2.3. Ablauf der Studie

Die Grundlage dieser systematischen Übersichtsarbeit bildet eine systematische Lite-raturrecherche in den Datenbanken Embase, ERIC, Medline, PsycInfo, Psyndex, undSocialSciSearch (Suchzeitraum: November 2013 bis Februar 2014). Basierend auf derVermutung, dass Publikationen zu den Forschungsfragen vermehrt innerhalb der kre-ativtherapeutischen Theoriebildung erschienen sind, wurden die Datenbanken derrelevanten Berufsverbände (American Dance Therapy Association/ ADTA, Berufsver-band der TanztherapeutInnen Deutschlands/ BTD und der Deutschen Gesellschaft fürTheatertherapie/ DGfT) und die Datenbank für Kunsttherapie/ Arthedata hinzugezo-gen. Um auch andere Buchpublikationen zu erfassen, wurde eine intensive Internet-recherche durchgeführt.

Die Recherche wurde mit Kombinationen aus Schlagwörtern aus folgenden drei Bereichen durchgeführt:

- Population (Sexualstraftäter bzw. Gewaltstraftäter)
- Kontext (Forensik bzw. Strafvollzug)
- Intervention (Therapie, Körper, Bewegung, Tanztherapie, Bewegungstherapie, Theatertherapie, Dramatherapie, Körpertherapie, deliktpräventive Therapie, Kreativtherapie, Tatrekonstruktion bzw. Deliktrekonstruktion)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1 - Suchkombinationen und Treffer/ Teilstudie 1

Um englisch- und deutschsprachige Publikationen zu erfassen, wurde bilingualrecherchiert. Es sollten Publikationen aller Evidenzgrade, die nach 1980 erschienensind, inkludiert werden. Der gesamte nachfolgende Auswahlprozess basierte auf vorabdefinierten Ein- bzw. Ausschlusskriterien und ist in folgender Grafik visualisiert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2 - Systematisches Suchprocedere Teilstudie 1

Aus der Suche in den oben genannten Datenbanken und der Internetrecherche ergaben sich 2908 (n=2616 + n=292) Treffer. Nach der Entfernung der Duplikate blieben 2011 Publikationen übrig. In einem 1. Reduktionsschritt wurden diese Publikationen, basierend auf den Titeln, nach körper- und bewegungsbasierten Interventionen im Strafvollzug durchsucht. Titel, die auf eine Relevanz für die Forschungsfrage hinwiesen, wurden inkludiert; z.B. wurden themenfremde Publikationen zu kriminologischen - oder körpermedizinischen Inhalten exkludiert. In dieser Phase des Suchprozesses wurden 1855 Publikationen ausgeschlossen.

Im 2. Reduktionsschritt wurden die Zusammenfassungen der verbliebenen 156 Publikationen auf der Basis folgenden Inklusionskriteriums gesichtet:

‚Die Publikation behandelt begleitende, pädagogische oder therapeutische Prozesse, dieeine körperliche Dimension aufweisen und im Kontext des Strafvollzugs stattfinden’.

Nach dem zweiten Reduktionsschritt erfüllten 96 Artikel das Inklusionskriterium, die sodanwn im Volltext bestellt wurden. Sechs dieser Volltexte waren vergriffen. Selbst über die bibliothekarischen Dienste mehrerer Hochschulen oder über den Direktkontakt mit Autoren waren sie nicht erhältlich.

Um jene Publikationen herauszufiltern, die Prozesse in Zusammenhang mit kör-per- und bewegungsbasierten Interventionen beschreiben, wurde im 3. Redukti-onsschritt eine neuerliche Fokussierung der Inklusionskriterien erforderlich. Kör-per- und bewegungsbasierte Interventionen werden im wissenschaftlichen Diskursvon verschiedenen Blickwinkeln aus beschrieben. Zumeist werden sie im Kontext vonKörper-/ Bewegungsempfindung, Körper-/ Bewegungsverhalten, Methodik der kör-per- und bewegungsbasierten Intervention oder Effekte der körper- und bewegungs-basierten Intervention expliziert. Für die Durchsicht der verbliebenen 90 Volltexte unddem damit verbundenem dritten Reduktionsschritt wurden dann folgende Inklusi-onskriterien definiert:

Auf die in der Publikation beschriebenen begleitenden Interventionen musste minimal eine der folgenden vier Aussagen zutreffen:

- in der Studie werden Körper-/ Bewegungsempfindungen beschrieben
- in der Studie wird Körper-/ Bewegungsverhalten beschrieben
- in der Studie werden körper- und bewegungsbasierte Interventionen beschrie-ben
- es werden Effekte beschrieben, die durch Körper-/ Bewegungsprozesse entstanden sind oder sich dort manifestieren

Darüber hinaus musste die Studie vor allem mit männlichen Straftätern durchgeführt worden sein.

Im Ergebnis zeigte sich, dass 20 der Studien Interventionen beschreiben, 18 Autoren Effekte erwähnen, zehn Mal Körper-/ Bewegungsverhalten expliziert und in drei Studien auf Körper-/ Bewegungsempfinden näher eingegangen wird.

Auf der Basis dieses dritten Reduktionsschrittes wurden 23 Studien identifiziert, wel-che die Einschlusskriterien erfüllten und in die Studie aufgenommen werden konnten.

2.4. Zusammenfassung der Ergebnisse

Die 23 Publikationen wurden basierend auf den Empfehlungen der ‚Strengthening theReporting of Observational Studies in Epidemiology Initiative’ / STROBE (vgl. Von Elm,Altman, Egger, Pocock, Gøtzsche, Vandenbroucke, 2007: 575) anhand der Begriffe

- Erscheinungsjahr
- Autor/en
- Erscheinungsland
- Studienteilnehmer (inkl. Kontrollgruppe ja/nein)
- Art der körper- und bewegungsbasierten Intervention
- Zweck der Studie und ggf. Hypothese
- Design inkl. Forschungsinstrumente
- Konklusionen

systematisiert und zu einer Übersichttabelle zusammengefasst (vgl. Anhang Nr.1, S. 247-256).

Diese adaptierte Form der STROBE Kategorien stellt zwischen den unterschiedlichgelagerten Publikationen eine Vergleichsebene in den Kernpunkten her. Aus Grün-den der Übersichtlichkeit wurde für den Vergleich der Effekte eine gesonderte Tabelleerstellt (vgl. Tabelle 3, S.66-70). Auf weitere Analysen und Effektschätzer wurde ver-zichtet. Die sich daraus ergebenden möglichen Verzerrungen werden am Ende diesesKapitels diskutiert.

Die ausgewählten 23 Publikationen setzen sich aus

- empirischen Studien, die sich quantitativer und/oder qualitativer Messinstrumente bedienen (n=9)
- theoretische Abhandlungen (n=5)
- Erfahrungsberichte & Fallvignetten (n=9)

zusammen. Sie wurden als Artikel in Fachzeitschriften (n=16), als Buchbeiträge (n=4), als Forschungsbericht (n=1), als Dissertation (n=1) und als MA Thesis (n=1) veröffentlicht. (vgl. Tabelle 2, S. 54-55).

Erscheinungsjahr und Ort

Eine der 23 Studien ist im Zeitraum zwischen 1980 und 1990 erschienen, sieben im Zeitraum zwischen 1990-2000, ebenfalls sieben im Zeitraum zwischen 2000 und 2010, und acht sind zwischen 2010 und 2013 publiziert worden.

Die in die Übersicht aufgenommen Studien sind aus der BRD (n=10), den USA (n=4), den Niederlanden (n=3), aus Großbritannien (n=3), der Schweiz (n=2), Neuseeland (n=1). Forschungsaktivitäten zu dieser Fragestellung finden sich hauptsächlich im mitteleuropäischen und amerikanischen Raum. Aus Süd- und Osteuropa bzw. Asien oder Afrika liegen keine Arbeiten vor.

Verortung körper- und bewegungsbasierter Interventionen

Es konnten fünf Hauptgebiete identifiziert werden, in denen körper- und bewegungsbasierte Interventionen verortet sind und eingesetzt werden:

1. künstlerische Therapieformen (n=9)
2. körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Kontext von psychothera-peutischen Ansätzen (n=5)
3. künstlerische Projekte (n=3)
4. Interventionen aus dem Bereich der Bewegungs-/ Sportpädagogik (n=3)
5. Weitere nicht zu kategorisierende Bewegungsinterventionen (n=3)

Methodische Vielfalt

In den 23 Studien werden 16 unterschiedliche Methoden oder Behandlungsansätze beschrieben, in welchen körper- und bewegungsbasierte Interventionen eine Rolle spielen. Diese kommen in Einzel- und Gruppenbegleitungen zum Einsatz, werden in vielen Bereichen des Strafvollzugs eingesetzt, in pädagogische, künstlerische oder therapeutische Kontexte integriert und innerhalb unterschiedlicher transkultureller Rahmenbedingungen ausgeübt.

Körper- und bewegungsbasierte Interventionen als Primärinterventionen oder als flankierende Maßnahme

Die Interventionen werden von Tanz- und Bewegungstherapeuten (n=5), Psychologen(n=5), Künstler (n=3), Pädagogen (n=3), Musiktherapeuten (n=2), Psychiatern (n=2), Kör-perpsychotherapeuten (n=1) und Theatertherapeuten (n=1) durchgeführt. Die Berufs-gruppenverteilung gibt einen Hinweis darauf, ob körper- und bewegungsbasierteInterventionen als primäres oder als unterstützendes therapeutisches Instrumenteingesetzt werden. In den kreativtherapeutischen Settings, den künstlerischen Pro-jekten und bei Shorinji Ryu wird der Körper und Bewegung als Hauptmedium einge-setzt. Diese Angebote oder Projekte werden hauptsächlich von Mitarbeitern durchge-führt, die ihre primäre Ausbildung in einem Berufsfeld erworben haben, in welchemhauptsächlich körper- und bewegungsbasierte Interventionen für therapeutische oderbegleitende Prozesse eingesetzt werden.

In den anderen Maßnahmen werden körper- und bewegungsbasierte Interventionen innerhalb eines psychoedukativen oder therapeutischen Settings unterstützend eingesetzt. Diese Angebote werden zumeist von Mitarbeitern oder Honorarkräften durchgeführt, die ihre Kenntnisse über körper- und bewegungsbasierte Interventionen in einer Zusatzausbildung erworben haben.

Vollzugliche Rahmenbedingungen

Die Mehrheit der Studien (n=16) bezieht sich auf Angebote innerhalb geschlossener Institutionen des Vollzugs. Zwei Studien berichten von gelockerten Maßnahmen (z.B. Freigang) -- eine Studie bezog sich auf beide Kontexte. Die anderen vier Autoren machten zu dem vollzuglichen Kontext keine Angaben. Auch wenn die vollzuglichen Rahmenbedingungen und deren rechtlichen Grundlagen international nicht zu vereinheitlichen sind, kann man feststellen, dass körper- und bewegungsbasierte Interventionen in den unterschiedlichen Settings realisierbar sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2 - Übersicht inkludierte Studien/ Teilstudie 1

Deliktaufarbeitung

In vier der empirischen Studien berichten die Autoren, dass Körper- und Bewegungsprozesse explizit für die Deliktaufarbeitung eingesetzt werden. Deliktaufarbeitungimpliziert einen therapeutischen Auftrag, d.h. in den 14 Publikationen, die therapeuti-sche Prozesse beschreiben, beschäftigt sich knapp ein Drittel mit Deliktaufarbeitung.

2.4.1. Ergebnisse der Einzelstudien

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Einzelstudien entlang ihrer Hauptgebiete vor-gestellt.

2.4.1.1 Körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Kontext von künstlerischen Therapieformen

Von den 23 Veröffentlichungen, die in die systematische Übersichtsarbeit aufgenommen wurden, nehmen die Publikationen aus dem Bereich der künstlerischen Therapien, insbesondere der Tanz- und Bewegungstherapie und der Theatertherapie, den größten Raum ein (n=9). Unter diesen neun Publikationen finden sich fünf Studien und vier theoretische Abhandlungen mit Fallbeispielen.

2001 untersuchte McNamara in ihrer kontrollierten klinischen Studie (EG n=9 & KGn=7) die Effekte von tanz- und bewegungstherapeutischer Behandlung bei Gefange-nen mit dualer Diagnose auf deren individuelles Gewaltpotenzial. Nach acht Wochen(16 Treffen) tanz- und bewegungstherapeutischer Behandlung zeigte sich, bezogenauf die Erhebung mittels des Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) eine Reduktion derallgemeinen Symptomatik und insbesondere der Symptomatik, die mit Selbst- oderFremdgefährdung assoziiert wird. Bei drei Klienten, die mittels des „Overt AggressionScale“ (OAS) als aggressiv eingestuft wurden, zeigte sich gegenüber drei Klienten ausder Kontrollgruppe eine Reduktion aggressiver Verhaltensweisen. Dem gegenüber ste-hen die Ergebnisse, die sich aus dem Past Feelings and Acts of Violence Scale (PFAV)ergaben: dort war der erwartete Rückgang des Gewaltpotenzials signifikant nicht fest-stellbar (vgl. McNamara, 2001: 61-73).

Van den Broek et al. untersuchten 2011 in einer randomisierten kontrollierten Pilot-studie die Effektivität von künstlerischen Therapieformen (Theater und Kunst) undpsychomotorische Therapie einerseits und Schematherapie andererseits in Bezug aufdas Aktivieren emotionaler Prozesse. Besonders künstlerische Therapieformen basie-ren und legitimieren ihren Ansatz zumeist darauf, dass künstlerische Ausdrucksfor men eng verbunden sind mit der Aktivierung von Emotionen und Gefühlen (vgl. ebd.,2011: 326) . Van den Broek et al. nutzten in ihrer RCT Studie folgende Messinstrumente:Mode Observation Scale (MOS) und Therapy Integrity Scale (TIS). In Bezug auf künstle-rische Therapieformen ließ sich feststellen, dass künstlerische Therapien effektiver inder Aktivierung von positiven bzw. negativen Emotionen sind als herkömmliche psy-chotherapeutische Behandlungen. In Bezug auf die Schematherapie zeigte sich bei denKlienten eine Häufung von Kind-Schemata, die mit Verletzlichkeit in Zusammenhanggebracht werden kann. Die Hypothese, dass Schematherapie die emotionale Anbin-dung fördert, konnte allerdings nicht bestätigt werden (vgl. Van den Broek et al., 2011:328-330).

Das Anti-Gewalt-Training (AGT) von e|m|o processing® ist eine, auf bewegungs- undtheatertherapeutischen Methoden basierende fünftägige Kurzintervention, die seit2005 in verschiedenen deutschen Haftanstalten durchgeführt wird (vgl. Lutz, 2008: 53).In der kontrollierten Mixed-Methods-Studie, die sich aus quantitativen (State-Trait-Ärgerausdruckinventar (STAXI), aus Fragebogen zu Kompetenz- und Kontrollüber-zeugung (FKK), Heidleberg State Inventory (HSI), aus der Kurzform des Buss-PerryAggression Questionaire (BPAQ-SF), aus Aggression IAT & Fragebogen zu Wirksam-keit von Tanz- und Ausdruckstherapie (FTT)), aus qualitativen Methoden (Fokusgrup-pengespräch) und Bewegungsbeobachtungen (Kestenberg Movement Profile (KMP))zusammensetzt, untersuchten Koch et al. die Effektivität des AGTrainings von e|m|oprocessing® im Hinblick auf den Umgang mit Aggression, Körperwahrnehmung undemotionaler und sozialer Kompetenz (vgl. 2015: 42-43). In der Auswertung der Bewe-gungsbeobachtung und des Prozessevaluationsbogen zeigte sich sowohl eine Verbes-serung in den Bereichen soziale Kompetenz und der Körperwahrnehmung als auchein Anstieg der Involviertheit in das Training und eine Flexibilisierung in dem indivi-duellen Bezug zu Aggression. In der Auswertung der Bewegungsbeobachtung (KPM)zeigte sich eine Zunahme jener Bewegungsrhythmen, die darauf hinweisen, dass dieTeilnehmer am Ende des Trainings deutlicher ihre Bedürfnisse äußern. Die Auswer-tung des Hauptfragebogens (STAXI, FKK & HSI) und des IAT konnte diese Veränderun-gen allerdings nicht belegen (vgl. Koch et al., 2014: 43-46).

Smeijsters und Cleven untersuchten in ihrer 2006 durchgeführten Studie „The treatment of aggression using arts in therapies in forensic psychiatrie“ die künstlerischenTherapieformen (Tanz/Bewegung, Theater, Musik, Bildende Kunst) im Hinblick aufderen therapeutische Praxis (Indikationen, Zielsetzungen, Interventionen & Effekte)allgemein und im Umgang mit aggressivem Verhalten im Besonderen. Ziel der Studiewar es, ein Überblick über Methoden und Effekte künstlerischer Therapieformen zugeben. An der qualitativen Studie nahmen 31 Therapeuten teil, deren Expertisen ausder therapeutischen Praxis über Fragebögen, Interviews und Fokusgruppengespräche erhoben wurden (vgl. ebd., 2006: 45). Smeijsters und Cleven unterstreichen die Effek-tivität dieser vier künstlerischen Therapieformen im Strafvollzug, da sie Spannungs-regulation, Impulskontrolle, Empathievermögen und Interaktion fördern können.Insbesondere tanz- und bewegungstherapeutische Interventionen ermöglichen es denKlienten unterdrückte Aggressionen in einer sozial adäquaten Form auszudrückenund alternative Handlungsstrategien zu entwickeln. Körperliche Darstellungsformen,die z.B. in der Theatertherapie genutzt werden, fördern durch das körperliche Spiel dieRegulierung aggressiver Impulse und schaffen Distanz, um in der Folge individuellekognitive Konstruktionen in Bezug zu Aggression analysieren zu können (vgl. ebd.,2006: 50-53).

2011 erschien der Bericht über die erste Phase der qualitativen Studien von Smeijsterset al., die sich mit der Evaluation von Interventionen aus den verschiedenen künstleri-schen Therapien in der Arbeit mit jugendlichen Gewaltstraftätern beschäftigt. Anhandeines vergleichbaren methodischen Vorgehens wie in der Studie aus 2006 identifizier-ten sie vier „Hauptgebiete“, in denen künstlerische Therapien und damit auch kör-per- und bewegungsbasierte Interventionen angesetzt werden können: Selbstbild,Emotionen, Interaktion und Kognition. Zudem stellten sie fest, dass künstlerischeTherapieformen tendenziell den Fokus auf problematische Kerngebiete (anstatt aufPathologien) ausrichten und dementsprechend eher die Ursachen als die Ausformungdelinquenten Verhaltens thematisieren (vgl. Smeijsters et al., 2011: 44-45).

In ihrem Buchbeitrag „From transitional object to symbol: Spiderman in a drama-therapy group with metally disordered offenders“ legt McAllister (vgl. 2011: 145-156)ihr Hauptaugenmerk auf den symbolischen Aspekt des bewegenden Körpers im the-atertherapeutischen Prozess. Ihre Analyse basiert auf dem Grundgedanken, dassStraftäter ein Defizit in der Fähigkeit aufweisen, symbolische Räume aufzubauen.Dieses Unvermögen führt dazu, dass sie innere Konflikte ausagieren müssen, anstattdiese auszuhalten. Im theatertherapeutischen Prozess bietet der Körper und die Roll-endarstellung einen externen (Rolle) und internen (Körper) symbolhaften Übergangs-raum (im Sinne des von Winnicott explizierten „potential space“ (Winnicott, 1994:102-103)), der destruktive - bzw. deliktspezifische Verhaltensmuster begrenzt und inden therapeutischen Prozess integriert. Klienten können dadurch ihre individuellenThemen gleichzeitig körperlich erfahren und Distanz nehmen. Der darstellende Kör-per wird zum Container, der es ermöglicht, emotionale Reaktionen auszuhalten undzu thematisieren. Als Effekte dieser symbolischen Verkörperung innerhalb des dra-matherapeutischen Prozesses beschreibt McAllister eine erhöhte Therapiemotivationund eine größere Bereitschaft, deliktspezifisches Material im therapeutischen Prozesspreiszugeben (vgl. McAllister, 2011: 153-156).

Blatt (1996) beschreibt aus ihrer tanz- und bewegungstherapeutischen Arbeit mit Straffälligen, wie Bewegungsprozesse es den Klienten ermöglichen, sich über die symbolische Ebene des Nonverbalen auszudrücken und zu interagieren:

„This metaphor surfaced on a nonverbal level during a movement session. Itpermitted Simon to examine his previously inaccessible emotions without averbal association. During the session, Simon physically moved through theimage. This process allowed him to recreate his experience on a sensory levelbringing to conscious awareness his painful experience“ (ebd., 1996: 569).

Über die interagierenden Prozesse von ‚Bewegung’ und ‚Aufbauen von inneren Metaphern’ bieten tanz- und bewegungstherapeutische Interventionen einen Zugang zu den inneren Gefühlswelten der Klienten und helfen Abwehrmechanismen zu umgehen (vgl. ebd., 1996 568-567).

Auch Dalessi (1998) beschreibt diesen Prozess, dass Klienten sich mehr oder wenigerunwissentlich zunächst nonverbal über Bewegung mit persönlichen Inhalten ausei-nandersetzen. In der Bewegung kommen Themen an die Oberfläche, die „in ersterInstanz (...) nur auf der Körperebene bewußt“ (Dalessi, 1998: 128) sind. Ähnlich wieMcAllister und Blatt beschreibt Dalessi Bewegung auch als Container - allerdings imSinne eines Schutzraumes, der den Tätern ermöglicht, Widerstände abzubauen unddelikt-spezifische Themen zu bearbeiten. Zudem werden in der konkreten körperli-chen Auseinandersetzung (mit sich oder anderen) Beziehungsstrukturen und Verhal-tensmuster deutlich, die im Zusammenhang mit den Delikten stehen. Diese werdenin Bewegung verkörpert und fassbar gemacht. Die deliktspezifischen Themen werdenaktualisiert, ohne dass das Delikt erneut begangen werden muss (vgl. ebd., 1996: 134-137).

Milliken (2008) bringt körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Kontext vonTanz- und Bewegungstherapie mit dem Herstellen eines Schutzraumes in Verbindung:

„A „space“ is created among group member, that is safe enough for individuuals to remember and talk about situations in their lives that have been sources of deep shame“ (ebd., 2008: 19).

Milliken erachtet körper- und bewegungsbasierte Interventionen als hilfreich für Straftäter in der Identifikation und Bearbeitung von Suchtthemen, Gewaltproblematik und traumatischen Erfahrungen. Sie konkludiert, dass Gefangene über Bewegungsprozesse ein Gefühl für Balance und Kraft erlangen und als Folge konstruktive Beziehungsformen und Verantwortungsgefühl entwickeln können (vgl. ebd., 2008: 18-22).

2.4.1.2 Körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Kontext von psychotherapeutischer Behandlungen

Aus dem Bereich der psychotherapeutischen Begleitung sind vier theoretische Abhandlungen und ein Bericht aus der Praxis in die systematische Übersicht inkludiert. Drei der Publikationen beschreiben körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Kontext von deliktspezifischen Behandlungsprogrammen.

Das Langefelder Modell (CH) ist ein stationäres Behandlungssetting für Sexualstraftä-ter, das innerhalb der Deliktbearbeitung Körper-/ Bewegungsinterventionen vor allemzur Förderung der Wahrnehmung von Gefühlen und inneren Prozessen einsetzt.Eine verbesserte Selbstwahrnehmung wird als Grundlage zur Erkennung „risikorei-cher Entwicklungen“ gesehen, die ein Rückfallrisiko verringern können (vgl. Urba-niok,1995: 163).

Basierend auf den Erfahrungen des Langenfelder Modells expliziert Urbaniok Vorgehens- und Verfahrensweisen der deliktorientierten Psychotherapie. Im Kontext der Deliktrekonstruktion und bei der Bearbeitung von Deliktmotivationen können Körper- und Bewegungsinterventionen eine Rolle spielen:

„Gefühle, Kognitionen, Sinnes- und Körperwahrnehmungen aus der Tatsituation werden aktualisiert“ (Urbaniok, 2012: 195).

Während der Deliktrekonstruktion wird z.B. über gezieltes Erfragen der Körper-wahr-nehmungen ein körperlicher und sensomotorischer Bezug hergestellt, der zum„Zustand des Wiedererlebens (anstelle eines kognitiven Erinnerns)“ (ebd., 2012: 195)beitragen soll.

Auch Christoffel und Schönfeld beziehen sich mit ihrer Veröffentlichung auf die deliktpräventive Psychotherapie mit Straftätern auf den Psychiatrisch-Psychologi-schen Dienst (PPD) des Justizvollzugs im Kanton Zürich. Hier werden Körper- und Bewegungsinterventionen eingesetzt, um die Wahrnehmung für innere Blockaden und Abwehrstrategien, aber auch für Bedürfnisse nach Nähe, Distanz und Grenzen zu fördern. Vergleichbar mit den Studien von Mc Allister, Blatt und Dalessi beschreiben die Autoren, dass die Körperarbeit das Herstellen von Schutzräumen ermöglicht, in welchen Klienten eigene „Störungsmuster“ (Christoffel & Schönfeld, 2008: 10) und Beziehungs-unterbrechungen besser erkennen können.

Unabhängig von den Delikt aufarbeitenden Prozessen beschreiben Weine (1987) und Radandt (2006) zwei unterschiedliche Behandlungsmodelle, in welchen die Körperund Bewegungsebene als primäre Interventionsebene konzeptualisiert wird.

Weine (1987) schreibt Bewegung innerhalb der von ihr angeleiteten körperorientierten Selbsterfahrung einen therapeutischen Effekt vor allem in dem Bereich der Selbsterfahrung zu. Über Bewegung werden eigene Grenzen und die Konsequenzen des eigenen Handelns erfahren und Verhaltensmuster rekonstruierbar gemacht (vgl. ebd., 1987: 272). In ihren Fallbeispielen demonstriert sie, wie sich Bewegung positiv auf Spannungsabbau, auf die Veränderung von Bewegungsmustern und auf die soziale Kompetenz auswirken kann (vgl. ebd., 1987: 273)

Innerhalb der von Radandt explizierten Pesso-Therapie (PBSP), steht das Wahrnehmendes eigenen Bewegungsverhaltens im Mittelpunkt. Körperliche und kognitive Prozessewerden innerhalb der Pesso-Therapie verbunden: Die „idiosynkratrischen Bedeutun-gen körperlicher Phänomene“ (vgl. Radandt, 2006: 204) werden im therapeutischenProzess nutzbar gemacht. Dadurch erfahren die Klienten neue Erfahrungsräume undHandlungskompetenzen.

2.4.1.3 Körper- und bewegungsbasierte Interventionen imKontext künstlerischer Projekte

Zwei klinische Studien erforschten die Effekte künstlerischer Projekte im Strafvollzug.Reiss et al. untersuchten in einer unkontrollierten klinischen Studie eines fünftägigenTheater-Workshop der Geese Theatre Company die Effekte im Bereich von Aggressions-management und Impulskontrolle. Basierend auf zwei Vorstellungen der Geese Thea-tre Company, die Gewalt, Ärger und Aggression thematisierten, entwickelten die Teil-nehmer (zwölf Sexual- und Gewaltstraftäter) eigene theatrale Gestaltungen. Erhobenwurden die Daten (pre/ post/ follow-up) anhand des State-Trait-Ärgerausdruckinven-tars (STAXI) und einer modifizierten Novaco Skala von 1975, die eine allgemeine Dis-position zu Aggressionen testen (vgl. Reiss et al., 1998: 145-146). Zusätzlich bewertetendie Teilnehmer nach Ablauf der fünf Tage den Workshop. Die Ergebnisse aus dem Fra-gebogen zur individuellen Disposition zu Aggression zeigten signifikante Verbesse-rung im Bereich der Intensität von und im Umgang mit Aggression. Dieser Effekt warnach drei Monaten noch messbar. Die Ergebnisse des STAXI ergaben ein gemischtesBild: es gab keine signifikanten Veränderungen auf der S-Anger-Skala (wie ärgerlichder Klient im Moment ist). Allerdings gab es eine Verbesserung auf der T-Anger- Skala(wie ärgerlich der Klient generell ist) zwischen dem Pre-test und dem Follow-up. In derallgemeinen Bewertung äußerten sich die Gefangenen positiv über die Interventionund bezeichneten sie als hilfreich fürs Erlernen anderer Handlungsalternativen (vgl.Reiss et al., 1998: 146-150).

Brown et al. untersuchten über den Zeitraum von zwei Jahren mit ihrem Team die Kurz- und Langzeiteffekte eines Tanzprojektes des Motionhouse Dance Theaters. DieMitglieder des Motionhouse Dance Theaters arbeiten im körperlichen und gestalte-rischen Prozess mit Kontaktimprovisation, einer Tanztechnik, bei welcher die Teil-nehmer sich zumeist in körperlichem Kontakt miteinander bewegen (vgl. Brown et al.2004: 29-32). Innerhalb der zwei Jahre wurde ein fünftägiger Workshop realisiert, imAnschluss daran ein Tanzstück entwickelt und dieses öffentlich aufgeführt. Die MixedMethods Studie teilte sich in vier Teilstudien. Sie bediente sich vorwiegend qualita-tiver (teilnehmende Beobachtung, Bildinterpretation, Interviews und Fokusgruppen-gespräche) und quantitativer Messinstrumente (psychometrische Testreihen). Getes-tet wurden die Effekte auf das Selbstkonzept, auf die emotionale Kompetenz und aufdie Selbstwahrnehmung der Gefangenen (vgl. ebd., 2004: 9-11). Auch hier zeigten dieErgebnisse ein widersprüchliches Bild: während die qualitativen Erhebungen auf posi-tive und nachhaltige Veränderungen in die gewünschten Richtungen hinweisen, zei-gen die quantitativen Erhebungen keine signifikanten Veränderungen. Auch wenn dieTeilnehmer über intensive emotionale Erfahrungen berichteten und ein höheres Maßan emotionaler Kompetenz bei sich wahrnahmen, konnten im Vergleich zur Kontroll-gruppe (n=6) keine Effekte im Bereich Umgang mit Emotionen oder Reflektionsfähig-keit bestätigt werden (vgl. ebd., 2004: 41-49).

2000 realisierte Dowling das interdisziplinäre Tanz-/Performance-projekt „59 Places“,das innerhalb von 6 Monaten mit 11 Straftätern in einem amerikanischen Gefängnisrealisiert wurde. Die Zielsetzung des Projektes war es, Klienten an der Schnittstelle zwi-schen Vollzug und Resozialisierung zu unterstützen, um die Kluft zwischen Gefange-nen und Gesellschaft zu überbrücken (vgl. Dowling, 2000: 78). Dowling beschreibt dieaus der performativen Kunst entwickelten bewegungs- und körperbasierten Interven-tionen als unterstützend zur Förderung von Körperwahrnehmung, Körpergrenzen,zur Bearbeitung biographischer Themen und als Hilfestellung während der Resoziali-sierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft (vgl. ebd., 2000: 70-79).

2.4.1.4 Körper- und bewegungsbasierte Interventionen im Kontext von Bewegungs- & Sportpädagogik

In seiner unkontrollierten Mixed-Methods Studie von 1992 evaluierte Wolters das im Kampfsport zu verortende Shorinji-Ryu „als ein delikt- und defizitspezifisches Behandlungsangebot zum Abbau der Gewaltbereitschaft und Aggressivität bei inhaftierten Körperverletztern im Jugendstrafvollzug“ (Wolters, 1992a: 184).

Wolters expliziert drei Lernbereiche, die durch die Bewegungsinterventionen erreicht werden sollen: den physischen, sozialen und mentalen Bereich. Anhand dieser drei Aus-richtungen strukturieren und differenzieren sich die Bewegungsangebote mit demZiel der Körper- (körperlich), Situations- (sozial) und Selbstbeherrschung (mental).Die Studie kombinierte quantitative Forschungsinstrumente (Fragebogen zur Erfas-sung von Aggressivitätsfaktoren (FAF) und Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI- R) im pre-post-Design) mit problemzentrierten, leitfadengestützten Interviews (vgl.Wolters, 1992a: 316-317, Wolters, 1992b: 237). Anhand der Ergebnisse der testpsycho-logischen Evaluation zeigt sich eine sehr signifikante Reduktion der Aggressivitäts-werte in den Bereichen allgemeine Aggressivität, spontane Aggressivität und reaktiveAggressivität. Es sind keine messbaren Veränderungen in den Bereichen Offenheit,Erregbarkeit, Aggressionshemmung und Selbstaggression nachweisbar. Die Tester-gebnisse des FPI-R zeigen einen signifikanten Anstieg in der sozialen Orientierungund eine signifikante Abnahme der Aggressivität, der Gehemmtheit, der körperlichenBeschwerden und der Emotionalität bzw. des Neurotizismus. Die qualitativen Erhe-bungen stützen die Hypothese, dass Shorinji-Ryu sich positiv auf die Einstellung zuGewalt und auf den Umgang mit Aggression auswirkt: In den Interviews berichtetendie Gefangenen, dass sie ruhiger wurden, ihre Wut besser kontrollieren - und provo-zierende Situationen besser entschärfen könnten und eine andere Haltung zu Gewaltentwickelt hätten (vgl. Wolters, 1992a: 251)

Auch Asselborn und Lützenkirchen beschreiben ihre Erfahrungen mit Bewegungsinterventionen, die dem sportpädagogischen Kontext entstammen, als überwiegend positiv (vgl. Asselborn & Lützenkirchen, 1991: 269-274). Die jugendlichen Delinquenten, die das Angebot inhaltlich selber planten und die Durchführung in einem Gruppenprozess reflektierten, zeigten im Verlauf positive Entwicklungen in den Bereichen Selbstbewusstsein, Autonomie und Gruppenfähigkeit (vgl. ebd., 1991: 274). Ambivalente Erfahrungen wurden vor allem bei Bewegungsinterventionen aus dem Bereich Entspannung wahrgenommen. Dies sehen die Autoren in Zusammenhang mit der Möglichkeit, dass in der Entspannungsphase die Klienten mit Gefühlen von Trauer, Wehrlosigkeit oder Verzweiflung in Berührung kommen, die aber zunächst von den Teilnehmern abgewehrt werden (vgl. ebd., 1991: 272).

Krott beschreibt 1991 in seiner Untersuchung der progressiven Muskelentspannungnach Jacobson bei Gefangenen mit erhöhter Gewaltbereitschaft die Vorteile eines aktiven Bewegungsangebotes gegenüber passiven Verfahren (wie z.B. Entspannungstech-niken). Erstere hätten eine höhere Akzeptanz bei den Gefangenen, da diese eher denBedürfnissen der Klienten entgegenkämen. Krott sieht die positiven Effekte in der Lin-derung von Unruhezuständen, der Erleichterung bei allgemeinen Belastungsgefühlenund im Anstieg der individuellen Ausgeglichenheit bei gleichzeitiger Förderung von Impulskontrolle. Anhand eines Einzelfalles legt der Autor nahe, dass die progressive Muskelentspannung bei der Reduktion von Psychopharmaka unterstützend wirkt (vgl. Krott, 1991: 226-228).

[...]

Ende der Leseprobe aus 265 Seiten

Details

Titel
Bewegung im Vollzug
Untertitel
Körper- und bewegungsbasierte Interventionen in der Begleitung männlicher Straftäter
Hochschule
Universität Witten/Herdecke
Note
magna cum laude
Autor
Jahr
2016
Seiten
265
Katalognummer
V354836
ISBN (eBook)
9783668406506
ISBN (Buch)
9783668406513
Dateigröße
15326 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Strafvollzug, Bewegung, körperbasiert, bewegungsbasiert, Intervention, männliche Straftäter, Männer, Straftäter, Therapie, Sport, Studien
Arbeit zitieren
Fabian Chyle (Autor:in), 2016, Bewegung im Vollzug, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354836

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Bewegung im Vollzug



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden