One day left. Analyse von Guy Maddins "The heart of the world"


Hausarbeit, 2007

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Die Entstehungsfaktoren von Maddins Filmen
2.1 Guy Maddins Arbeitsweise
2.2 Das visuelle Filmkonzept
2.3 Besonderheiten der Schauspielführung

3. Filmanalyse: The Heart of the World
3.1 Bild
3.2 Ton

4. Themen, Motive und Inhalte in The Heart of the World

5. Schlusswort

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Vorwort

Guy Maddins Filme sind einzigartig. Es ist kaum möglich, seine Werke innerhalb des kanadischen Filmschaffens, geschweige denn innerhalb internationaler Produktionen, filmwissenschaftlich einzuordnen. Grund hierfür ist die eigenwillige Art, mit der Maddin seine Filme gestaltet. Sowohl der Produktionsprozess als auch das Aussehen des Endproduktes unterscheiden sich wesentlich von etablierten filmischen Formen. In dieser Arbeit soll deshalb zunächst Maddins Arbeitsweise, insbesondere mit dem filmischen Look, wie auch seine Arbeit mit den Schauspielern untersucht werden. Besonders auffällig ist die eigenständige Ästhetik der Filme. Maddin lässt das Filmmaterial künstlich altern, damit es dem heutigen Aussehen früher Filme gleicht. Er verwendet allerdings moderne Erzähl- und Montagetechniken, die den Filmen eine mehr als nur postmoderne oder popkulturelle Ausstrahlung verleihen.

Maddins Filmästhetik soll in der vorliegenden Arbeit an seinem Kurzfilm The Heart of The World analysiert werden. Sowohl bei Festivalpublikum als auch bei Kritikern findet der Film großen Anklang und wird von Maddin selbst als perfekt umgesetztes Werk bezeichnet.[1] Am Beispiel dieses Films ist es möglich, ein relativ exaktes Bild von Maddins filmischen Visionen zu erhalten. Im Fokus dieser Arbeit steht deshalb die eigenständige Analyse auf visueller und akustischer Ebene. Durch die detaillierte Betrachtung des schnell montierten Kurzfilms sollen schließlich mögliche Intentionen und Aussagen des Filmemachers offengelegt werden.

Von großer Hilfe für die vorliegende Analyse sind in diversen Publikationen erschienene Interviews mit dem Regisseur und Kritiken zu seinen Filmen. Zudem hat einer der Schauspieler aus The Heart of The World, Caelum Vatnsdal, eine Abhandlung über Maddins Filme geschrieben.[2] Auch dieser Bericht aus erster Hand hilft der vorliegenden Arbeit mit vielfältigen Denkansätzen.

2. Die Entstehungsfaktoren von Maddins Filmen

2.1 Guy Maddins Arbeitsweise

Aus der Erkenntnis heraus, dass ihm für die Arbeit als Schriftsteller benötigte dramaturgische Konzepte sowie Durchhaltevermögen fehlen würden, beschließt Guy Maddin Filme zu machen.

I’d write half a page and then go have a nap, and then get up so I could go to bed. Or I’d go out and celebrate for about a month that I had written half a page, come back to it, hate it, and throw it out. I’ll credit myself with being smart enough to know that I could never have written a book.[3]

Bereits durch diese paradoxe Entscheidung ist Maddins ungewöhnliche Herangehensweise an Projekte ersichtlich. So erfordert die Entstehung eines Films schließlich einen vielfach größeren personellen Aufwand und ein unwiderlegbares Mehr an Planung als die Entstehung eines Buches. Besonders hier zeigt sich, dass für Maddin zwischen narrativem, schriftstellerischem Erzählen und Filmemachen ein großer Unterschied liegt.

Guy Maddin besucht nie eine Filmschule, in der er sich konventionelles Filmemachen angeeignet hätte. Als Autodidakt erlernt er durch das Sichten zahlreicher, verschiedenartiger Werke filmisches Wissen. Die „Winnipeg Film Group“, eine anfangs lose Gruppierung von Filmbegeisterten, bietet ihm einerseits Zugriff auf zahlreiche Filmkopien und Videos.[4] Andererseits kann er dort auch das Gesehene reflektieren, sich mit Freunden über Filme austauschen und Kontakte für seine ersten Filmproduktionen knüpfen. Eine herausragende Rolle in seinem Freundeskreis spielt beispielsweise Steve Snyder von der University of Manitoba, der immer wieder als Mitwirkender in seinen Filmproduktionen zu finden ist. Auch unter den Schauspielern verlässt sich Maddin auf ein vertrautes Casting. Darsteller wie Kyle McGulloch oder Caelum Vatnsdal tauchen vermehrt in seinen Filmen auf, selbst wenn in neueren Werken gleichfalls bekannte Stars wie Shelley Duvall oder Isabella Rossellini mitspielen. Maddin dreht seine Filme zudem fast ausschließlich in seiner Heimatstadt Winnipeg und mangels eines Studios in ausgedienten Lagerhäusern, die zu Filmsets umgebaut werden. Ebenso bei der Entwicklung seiner Drehbücher widersetzt sich Maddin den in der Filmindustrie gängigen Gesetzen. Seine Scripts entsprechen keinesfalls dem Standard, eine Drehbuchseite in eine Minute Film umzusetzen; vielmehr besteht beispielsweise sein Drehbuch zu Tales From the Gimli Hospital (CAN 1988) lediglich aus sechs Post-its mit Charakterbeschreibungen. Ironischerweise wurde gerade dieser Film für den kanadischen Genie-Award als bestes Originaldrehbuch nominiert.[5]

Caelum Vatnsdal beschreibt die Eindrücke, die Maddins Filme hervorrufen:

A Maddin movie is a gallery of film references to the cinephile, a picture book of deliciously wild imagery to the aesthete, a minefiled of over-the-top dementia to the armchair psychoanalist, and a fascinating, provocative curio for everyone else. Engaging, melodramatic plotlines swirl together with spurious world history and obsessively precise (if fragmented and eccentric) film history; and the results are unfailingly unique, compelling, and beautiful to look at.[6]

Auf den ersten Blick zeigt sich Maddin als ein widersprüchlicher Filmemacher, der sich in einer befremdlichen Art der kommerziellen Filmindustrie widersetzt, indem er nach seinem eigenwilligen Geschmack mit selbst vorgegebenen Entstehungsbedingungen produziert. Dementsprechend sind Maddins Zeit- und Budgetpläne chaotisch, selbst filmische Inhalte ergeben sich zufällig. „‚I really like letting a picture grow organically at its own rate, and I’ll let other things spur me on than schedules and producers.’“[7] Die Filme entwickeln sich demnach während der Dreharbeiten selbstständig. Seine ersten Filme sind nicht einmal gestoryboardet, Kameraeinstellungen werden beim Dreh Maddins direkten Entscheidungen überlassen (da er selbst die Kamera bedient), wodurch dann im Schnitt teilweise Einstellungen fehlen, bzw. ungewöhnliche Perspektiven gewählt werden. Durch diese organische Entstehungsweise entwickelt sich eine eigenwillige Dynamik und Ästhetik der Filme. Aufgrund ungeplanter Einstellungen und hoher Experimentierfreudigkeit ist es Maddin möglich, auch neue Ideen zu gewinnen. „‚So many of the things I’ve filmed I accidentally discovered just by looking through the viewfinder. I’d see the actors or the set framed in a certain way and I’d say ‚freeze,’ and do the shot just like that.“[8]

Zudem sind Maddins Werke von zahlreichen biografischen Elementen durchzogen. „[N]o matter how fictional and exotic the director’s landscapes may seem, they are often fused with pieces of his own autobiographical history.“[9] Immer wieder tauchen Motive wie künstliche Beine, Blindheit eines Auges oder die Thematisierung von Geschlechterrollen auf. Aus Maddins Biografie ist bekannt und vielfach zitiert, dass er in zwei gegensätzlichen Welten aufwuchs: Der extrem maskulinen Welt seines Vaters, der als Coach und Manager der kanadischen Nationalmannschaft arbeitete, und der extrem femininen Welt seiner Mutter, die einen Schönheitssalon besaß.[10] Maddins Vater wurde im Kindesalter durch einen Unfall ein Auge mit der Nadel einer Brosche ausgestochen.[11] Das Sehen wird im Allgemeinen in Maddins Filmen thematisiert, die Geschichte von der Brosche insbesondere in Careful (Lawinen über Tolzbad, CAN 1992). In seinem ersten Film, The Dead Father (CAN 1986), sieht Burkhard Röwekamp die Rekonstruktion einer individuellen Biographie, „eine auf Filmlänge verdichtete nachträgliche Wahrnehmung des Vaters durch den Sohn.“[12] Die biografischen Züge in Maddins Filmen belegen die persönliche und individuelle Betrachtungsweise, mit der diese entstehen.

2.2 Das visuelle Filmkonzept

Maddins Filme haben einen ungewöhnlichen Look. Ihr Aussehen erinnert immer an den Zustand älterer Filme aus den 1920er und 1930er Jahren. Maddin nimmt die Filme mit primitiver Kameratechnik auf und verwendet viele nostalgisch anmutende Effekte, wie Doppel- und Dreifachbelichtungen, Weichzeichner, Rückprojektionen, Schattenrisse, uvm.. Zudem lässt er das Filmmaterial künstlich altern, er fügt den Negativen Kratzer oder Staub hinzu und verändert die Tonspur durch Synchronisation der Dialoge und die Einfügung von Tonfehlern. Dabei gibt Maddin an, die Filme aus Bequemlichkeit nachsynchronisieren zu lassen.

‚I didn’t want to fuss with a synchronized sound track,’ he says. ‚It’s so much simpler making a movie without sound, creating the sound track later in a studio where it’s really clean. You don’t have to worry about excluding a take because the sound is bad.’[13]

Die fertigen Filme sehen so aus, als würden sie schon 80 Jahre lang gespielt und von einer schlechten Vorführkopie gezeigt werden. „Maddin’s film appears at once a genuine relic of the 1920s, having survived countless screenings over several decades, and yet at the same time, he infuses an ironic, late-twentieth century sensibility into the presentation of narrative.“[14] Erzähl- und schnitttechnisch verwendet Maddin jedoch moderne Strategien, die keinesfalls vor 80 Jahren angewendet wurden. Durch Kamerafahrten, teils schnelle Schnitte und eine ungewöhnliche Dramaturgie erhalten die Filme etwas Irreales. Dieses Gefühl wird durch die merkwürdigen Erzählinhalte und Motive Maddins verstärkt. Ob sich eine Bierbaronin mit Bier gefüllte Glasbeine bauen lässt (The Saddest Music in the World, CAN 2003), oder im Ersten Weltkrieg kanadische Soldaten im Schützengraben von weißen Kaninchen überrascht werden (Archangel, CAN 1990) – die absurden Geschichten gehören eindeutig in die aus unserer Zeit stammende Phantasie Maddins. Aus dieser Symbiose von Altem und Neuem entstehen Filme, die sich weder als popkulturell noch postmodern oder gar retrospektiv einordnen lassen. Die Filme sind keiner kulturellen Kategorie zuordenbar, denn Maddin ist in seinem Filmemachen einzigartig; kein anderer Filmemacher stellt vergleichbare Produktionen her und es gibt auch in keiner anderen Kunstrichtung eine mit Maddins Schaffen vergleichbare Strömung. Zwar zitiert Maddin auf postmoderne Weise Filmklassiker und kombiniert verschiedene Stile, Epochen und Ideen miteinander, Maddins künstlerische Arbeitsweise ist jedoch zu eigenständig, um sich mit der Anwendung etablierter Muster vergleichen zu lassen. Durch die neuartige Konzeptionierung der Filme sind diese keinesfalls rein retrospektiv, denn etablierten Sehgewohnheiten wird widersprochen. Caelum Vatnsdal beschreibt die Ästhetik von Maddins Filmen:

In considering Maddin’s work, it’s important to understand that his real inspiration comes not only from the creaky, aged movies he so admires, but also from their age itself: the decay and decrepitude apparent in every frame of any ancient motion picture.[15]

Vatnsdal erwähnt den entscheidenden Punkt, dass Maddin an alten Filmen nicht nur der Film selbst, sondern auch dessen Alterungsprozess interessiert. Allein unter Betrachtung dieses Aspektes ist die Entwicklung von Maddins Filmästhetik verständlich. Burkhard Röwekamp sieht in Maddins Filmen „Erinnerungsbilder“[16], auf die sich Maddin mit seinen ästhetischen Verfahren zurückbesinnt. Maddin schafft somit keine Kopien existenter Bilder, sondern die Abbildungen von Erinnerungen an diese Bilder. Durch den Rückgriff auf eine Vielzahl persönlicher Erfahrungen wird der Charakter von Maddins Filmen als Erinnerungsbilder um eine weitere Ebene ergänzt. Maddin kombiniert Erinnerungen an Filme mit Erinnerungen aus seinem Leben. Im Kopf des Betrachters wecken Maddins Bilder Assoziationen, die sich mit zeitgenössischen Erfahrungen mischen. „Kollektives Bild und individueller Traum verschmelzen zu surrealen Bildphantasien.“[17] Röwekamp bezeichnet Maddin als „Retro-Avantgardisten“, der – wie der widersprüchliche Terminus schon andeutet – in keinerlei Stil oder Epoche einzuordnen sei.[18] Pierre Véronneau erkennt in Maddins Filmen Einflüsse des deutschen Expressionismus, des Surrealismus, der Nouvelle Vague und der Punk-Kultur.[19] Maddin wird immer wieder mit so verschiedenen Filmemachern wie Fritz Lang, Louis Buñuel, Sergei M. Eisenstein, David Lynch oder sogar Ed Wood verglichen. Aus dieser Vielzahl von nahe liegenden Vergleichen ist ersichtlich, dass Maddin sich von zahlreichen Stilen inspirieren lässt. „Cela prouve à quel point les films de Maddin sont et resteront difficiles à rattacher à quelque courant que ce soit.“[20]

[...]


[1] Maddin in Church 2006, 14. „The one movie I made that turned out exactly as I planned was The Heart of The World.“

[2] Siehe Vatnsdal 2000.

[3] Vatnsdal 2000, 29.

[4] Siehe Röwekamp 1998, 69.

[5] Siehe Vatnsdal 2000, 47.

[6] Vatnsdal 2000, 10.

[7] Maddin in Vatnsdal 2000, 37.

[8] Maddin in Posner 1993, 177.

[9] Woloski 2003, 2.

[10] Siehe Woloski 2003, 2.

[11] Siehe Woloski 2003, 2.

[12] Röwekamp 1998, 72.

[13] Maddin in Posner 1993, 176. Sound track bezeichnet hier die Tonspur, nicht den Soundtrack im Sinne von Filmmusik.

[14] Woloski 2003, 5.

[15] Vatnsdal 2000, 20.

[16] Siehe Röwekamp 1998, 70.

[17] Röwekamp 1998, 75.

[18] Siehe Röwekamp 1998, 80.

[19] Siehe Véronneau 1991, 158.

[20] Véronneau 1991, 158.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
One day left. Analyse von Guy Maddins "The heart of the world"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Filmwissenschaft/ Mediendramaturgie)
Veranstaltung
Neues Kanadisches Kino
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
26
Katalognummer
V78284
ISBN (eBook)
9783638830881
ISBN (Buch)
9783638832434
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Analyse, Maddins, Neues, Kanadisches, Kino
Arbeit zitieren
Julius Pöhnert (Autor:in), 2007, One day left. Analyse von Guy Maddins "The heart of the world", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78284

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