Warum gibt es heute in Deutschland keinen Wettbewerb auf dem Strommarkt?

Eine Fallstudie zur Regulierung des Stromsektors anhand des Rational Choice Institutionalismus und der Theorie des kollektiven Handelns


Hausarbeit, 2007

54 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.2 Vorgehen

2. Soziologische Erklärungen
2.1 Das handlungstheoretische Modell
2.1.1 Die ‚Logik der Situation’
2.1.2 Die ‚Logik der Selektion’
2.1.3 Die ‚Logik der Aggregation’
2.1.4 Zusammenfassung
2.2 Die Handlungstheorie
2.2.1 Was heißt Handeln?
2.2.2 Intentionalerklärungen
2.2.3 Webers Handlungstypologien
2.3 Die Rational Choice Theorie
2.3.1 Die Entwicklung des Rationalitätsbegriffs
2.3.2 Der Homo Oeconomicus
2.3.3 Der Homo Sociologicus
2.3.4 ‚bounded rationality’

3. Die Besonderheiten Strommarktes

4. Kollektivgüter/ Öffentliche Güter

5. Der Rational Choice Institutionalismus
5.1 Die Principal-Agent-Theorie
5.2 Die Transaktionskostentheorie
5.3 Die Theorie der Verfügungsrechte (‚property rights’)
5.3.1 Die Regulierungsformen
5.3.2 Das Gefangenendilemma
5.3.3 Vom Kooperations- zum Koordinationsdilemma durch institutionelle Regeln
5.3.4 Das Kooperationsspiel
5.4 Die regulierte Selbstregulierung
5.5 Fazit

6. Die Public Choice Theorie
6.1 Mancur Olsons Theorie des kollektiven Handelns
6.1.1 Die Organisationsgröße
6.1.2 Das Rentenstreben
6.1.3 „Aufstieg und Niedergang der Nationen“
6.2 Interessengruppen im Regulierungsprozess

7. Bewertung der Theorien

8. Die Regulierung des Stromsektors seit 1998
8.1. relevante Akteure und ihre Ziele
8.2 informelle Beziehungen zwischen Stromlobby und Politik
8.3 Der formal institutionelle Rahmen der Regulierung des Strommarktes seit 1998 und die Entwicklung des Marktes

9. Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Die Stromversorgung ist von entscheidender Bedeutung für die Lebensqualität jedes Einzelnen und für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, da große Teile der Industrie auf Energie angewiesen sind. Überhöhte Strompreise führen immer wieder zu öffentlichen Diskussionen. Die Arbeit untersucht aus politikwissenschaftlicher Sicht, warum sich seit der Liberalisierung des Strommarktes 1998 kein Wettbewerb eingestellt hat und die Preise entsprechend hoch sind.

Die Bedeutung des Gemeinschaftsgutes Strom und strukturelle Besonderheiten des Stromsektors - das Stromnetz als natürliches Monopol, vertikal verflochtene Unternehmen - machen eine Regulierung des Strommarktes nötig (vgl. Adam 1992: 45). Die Regulierung kann auf unterschiedliche Arten erfolgen, wobei die kooperative Regulierung zwischen staatlichen und privaten Akteuren die allgemeinwohlförderlichste ist. Die individuelle Rationalität der Akteure und die daraus resultierenden ungleichen Machtverhältnisse verhindern ein allgemeinwohlförderliches Regulierungsergebnis.

In der Politik sind Kooperation und Gemeinwohl zentrale Themen. Es geht dabei allgemein um die Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Kooperative Politik zeichnet sich durch die Einbindung gesellschaftlicher Akteure in formelle oder informelle Verhandlungssysteme politischer Institutionen aus (‚Polity’). Gesellschaftliche Akteure sind dabei Organisationen oder Vertreter dieser Organisationen, die freiwillig im Prozess der Entscheidungsfindung und der Zielumsetzung mitwirken. Organisationen bestehen aus mehr als zwei Personen und sind Zweckgründungen (gemeinsames Interesse), um öffentliche Güter für ihre Mitglieder (eine bestimmte Akteursgruppe) zu erwerben bzw. zu produzieren (vgl. Braun 1999: 105). Die Institutionen bestimmen die ‚Spielregeln’ der Interaktionen. Sie sind auf Dauer angelegt und regeln soziales und politisches Verhalten, indem sie einen gemeinsamen Handlungsrahmen schaffen. Handlungsoptionen können sanktioniert oder ermöglicht werden. Sie bilden, zusammen mit sozialen und natürlichen Voraussetzungen, die Umwelt- oder Rahmenbedingungen, an denen sich die Akteure bei Entscheidungen in einer Wahlsituation orientieren (vgl. Braun 1999: 235). Ihre Handlungsstrukturen enthalten formelle Regeln (Verbote, Vorschriften, Erlaubnisse) und informelle Normen und Werte. Institutionen reagieren auf äußere Einflüsse, die Anpassung erfolgt jedoch unterschiedlich schnell (vgl. Ostrom 1996: 2-3). Sie strukturieren den Handlungsspielraum, determinieren ihn aber nicht. Die Akteure haben individuell-egoistische Ziele, die sie nach den ‚Spielregeln’ ausrichten (vgl. Braun 1999: 236-237). Institutionen sind also gleichzeitig sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis politischer Handlungsprozesse (‚Politics’) und den zustande gekommenen Politikinhalten (‚Policy’) (vgl. Faust/Lauth 2003: 289).

Wenn politische Akteure (Wähler, Politiker, Parteien, Bürokraten, Interessengruppen) kooperieren, dann geschieht das, weil sie ihre eigenen Ziele dadurch besser erreichen können als durch einseitiges Handeln. Wie Marktteilnehmer tauschen sie knappe Güter, z. B. Informationen. Optimalerweise entsteht dabei ein pareto-effizientes Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, welches beide Tauschpartner besser stellt und das kollektiv optimale Ergebnis ist (vgl. Braun 1999: 53-54). „Das Zustandekommen und der Bestand von Kooperation oder Gemeinwohlvereinbarungen sind unter dieser Annahme höchst voraussetzungsvoll …“ (Braun 1999: 49). Es stellt sich die Frage, ob und wie allgemeinwohlförderliche Ergebnisse zustande kommen können.

Der Rational Choice Institutionalismus thematisiert die formellen und informellen Entscheidungsspielräume, die unterschiedliche Regulierungsformen zulassen, und ihre Regelungsfähigkeiten. Das ist die Makro- oder Strukturebene, auf die das Erkenntnisinteresse zielt. Die Public Choice Theorie thematisiert die damit eng zusammenhängenden Entscheidungsmotivationen der Akteure, die das Zustandekommen von Regulierungsformen erklären. Dies ist die Mikro- oder Prozessebene, auf der die eigentliche Handlung stattfindet.

Die Outputbewertung als zu erklärende Variable kann theoretisch am Nettonutzen der Regulierungsmaßnahme erfolgen. Für die empirische Kosten-Nutzen-Abschätzung ist vor allem der Strompreis, aber auch eine normative Bewertung, relevant. Ziel ist es, zu analysieren, warum die Regulierung des liberalisierten Strommarktes bisher keinen Wettbewerb erzeugt hat.

1.1 Vorgehen

Zunächst werde ich auf die theoretischen Grundlagen soziologischer Erklärungen eingehen. Ein Schema verdeutlicht, wie die Erklärung der Fragestellung erfolgt. Dann stelle ich das der interdisziplinären Rational Choice Theorie zugrunde liegende Menschenbild vor und kontrastiere es mit dem von der Soziologie oft verwendeten Menschenbild. Modifizierte Annahmen des homo oeconomicus bilden die Grundlage der Untersuchung.

Dann folgt die Problemdarstellung - zuerst anhand des Fallbeispiels, danach theoretisch abstrahiert. Im zweiten Abschnitt werden der Rational Choice Institutionalismus und die Theorie des kollektiven Handelns erläutert und anschließend diskutiert. Auf die theoretischen Erkenntnisse aufbauend folgt im dritten Abschnitt die theorieorientierte Fallstudie. Analysiert werden das Modell des verhandelten Netzzugangs und die Bundesnetzagentur mit dem Modell des geregelten Netzzugangs als Koordinationsformen der Regulierung. Außerdem werden die Motive der Akteure und ihre Konstellationen beschrieben.

Für die qualitative Fallstudie habe ich wissenschaftliche Materialien, (Ländervergleichende) Studien über den Energiesektor, Zeitungsartikel, Pressemitteilungen, Gesetzestexte und Richtlinien, sowie Dokumente der EU, des Bundestages und der Aufsichtsbehörden Monopolkommission und Bundeskartellamt verwendet. Anschließend werden die Theorien auf ihr Erklärungspotenzial hin beleuchtet. Als Ausblick beschreibe ich die Ausgestaltung der kooperativen Regulierung.

2. Soziologische Erklärungen

Soziologische Erklärungen haben es „mit drei, eng aufeinander bezogenen und sich wechselseitig bedingenden Sachverhalten zu tun: die Produktion der Gesellschaft durch das Handeln der Menschen; die Objektivierung der Gesellschaft als eine dem Handeln der Menschen unverrückbar und objektiv gegenüberstehende Wirklichkeit; und die Konstitution der Menschen als psycho-soziale Wesen durch die von ihnen selbst konstruierte Wirklichkeit“ (Esser 1999: 1).

Um die Frage, welche Methode diese Sachverhalte korrekt und vollständig erfasst, gab es lange Zeit zwei Auffassungen. Anhänger der Makrosoziologie, wie Funktionalisten und Struktur-Funktionalisten, wollten einheitliche Kausalerklärungen finden, die gesamtgesellschaftliche Wirkungszusammenhänge ohne jedes Einzelinteresse oder individuelle Interaktionen erklären. „Die klassische Makrosoziologie hat [… jedoch] weder die nötigen allgemeinen Gesetze für ihre Erklärung gefunden, noch hat sie verständlich machen können, wie die Gesellschaft als ‚Produkt’ des sinnhaften Handelns der Menschen entsteht“ (Esser 1999: 5).

Als Gegenreaktion auf diese Schwächen entwickelten sich in den 50er und 60er Jahren das interpretative Paradigma und die verhaltenstheoretische Soziologie. Beide mikrosoziologischen Richtungen betonten die Bedeutung des menschlichen Handelns für das Verständnis sozialer Prozesse, vernachlässigten dabei aber die Makroebene (vgl. Esser 1999: 9).

Beide Ansätze können also nicht zufrieden stellend erklären, wie soziale Zusammenhänge und Prozesse entstehen. Daher muss es nach Hartmut Esser „… eine Verbindung zwischen Strukturen der Gesellschaft und dem Handeln der Menschen geben“ (Esser 1999: 5).

2.1 Das handlungstheoretische Modell

Der Philosoph Thomas Hobbes (1588 bis 1679) war der erste, der diese Verbindung über einen handlungstheoretischen Ansatz herstellte. In seinem Hauptwerk „Leviathan“ begann er seine Überlegungen zum Naturzustand beim Menschen und schloss über die Handlung als treibende Kraft auf kollektive Zustände. David McClelland und James S. Coleman griffen die methodische Vorgehensweise Hobbes - die Erklärung von Zusammenhängen gesellschaftlicher Phänomene auf Makroebene über die Beschreibung individuellen Handelns auf Mikroebene - auf und entwickelten ein handlungstheoretisches Modell. Dieses wurde von Hartmut Esser weiter ausgearbeitet (vgl. Braun 1999: 22).

Dem Modell liegen zwei Thesen zugrunde. Die erste Annahme betrifft das Erklärungsinteresse. Diese liegt in der Soziologie und der Politikwissenschaft in der systematischen Analyse kollektiver Phänomene, wie z. B. Wettbewerb. Die zweite Annahme betrifft die theoretische Erklärung kollektiver Phänomene. Sie kann nur über die individuelle Akteursebene gelingen, da sich ausschließlich hier kausale Gesetze, und zwar die Gesetze der Selektion des Handelns, finden lassen (vgl. Esser 1999: 14-15).

Das handlungstheoretische Modell verbindet beide Annahmen über drei miteinander verknüpfte Schritte. Diese sind: die ‚Logik der Situation’, die ‚Logik der Selektion’ und die ‚Logik der Aggregation’. Die Analyserichtung ist dabei von der Makro- zur Mikround zurück zur Makroebene (vgl. Esser 1999: 14 und Braun 1999: 24).

2.1.1 Die ‚Logik der Situation’

Mit der Logik der Situation ist die „… typisierende Beschreibung der Situation gemeint, in der sich die Akteure befinden“ (Esser 1999: 15). Die Brückenhypothese stellt dabei den Zusammenhang zwischen der objektiven Situation auf der Makroebene und den subjektiven Motiven und Wissenselementen der Akteure auf Mikroebene her. Zuerst erfolgt eine Situationsanalyse. Diese untersucht die typischen Anpassungen der Akteure an die aktuelle äußere Situation, die mit Restriktionen verbunden sein kann (Institutionen, Sitten, Werte). Der Akteur bewertet die möglichen Ergebnisse und bildet anhand seiner Interessen Präferenzen aus. Damit ist die Ausgangsbedingung für die ‚Logik der Selektion’ geschaffen (vgl. Esser 1999: 15 - 16).

2.1.2 Die ‚Logik der Selektion’

Die ‚Logik der Selektion’ ist die eigentliche kausale Handlungstheorie (vgl. Esser 1999: 16). Das heißt, sie kann das spezifische Handeln der Akteure erklären und vorhersagen, indem sie Regeln und Präferenzen aufzeigt, nach denen die Akteure ihre Handlungswahl treffen. Rationale Akteure präferieren dabei die effizienteste, individuell nützlichste Alternative. Das Ergebnis der Handlung wird als ‚individueller Effekt’ bezeichnet. Dieser muss jetzt noch in das kollektive Ereignis übersetzt werden (vgl. Braun 1999: 24 und Esser 1999: 16).

2.1.3 Die ‚Logik der Aggregation’

Diese Übersetzung erfolgt über Transformationsregeln (auch Aggregationsregeln genannt). Sie geben an, unter welchen Bedingungen individuelle Effekte kollektive Sachverhalte erzeugen können. Diese Bedingungen können institutionelle Regeln sein, die durch formale Modelle formuliert werden. Die Spieltheorie ist solch ein Situationsmodell (vgl. Esser 1999: 16). Sie vermag es, strategische Interdependenz zwischen Akteuren zu beschreiben und eine Verhaltensprognose anzugeben (vgl. Diekmann/Voss 2003: 22-23).

2.1.4 Zusammenfassung

In der folgenden Abbildung sind die drei Schritte zusammengefasst. Die Analyse beginnt bei der sozialen Situation, die empirisch beobachtet werden kann. Über die Brückenhypothese kommt man vom kollektiven Ereignis zum individuellen Ausgangspunkt der Handlung. Über die Handlungstheorie kann man nun kausale Hypothesen über das Handeln des Akteurs aufstellen. Die individuelle Handlung wird schließlich über Transformationsregeln aggregiert. Jetzt ist das Explanandum, also der zu erklärende kollektive Effekt, durch die ersten drei Schritte, das Explanans, beschrieben. Damit schafft es Hartmut Essers Modell, die fehlende Verbindung zwischen der Makro- und Mikroebene herzustellen. Es kann kollektive Phänomene erklären.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Das handlungstheoretische Modell.

Um die ‚Logik der Selektion’ verstehen zu können, wird im Folgenden auf die Handlungstheorie selbst, ihre Methode und die Rational Choice Theorie als Spezialfall der Handlungstheorie eingegangen.

2.2 Die Handlungstheorie

Die Handlungstheorie ist eine mikrosoziologische Theorie, die den methodologischen Individualismus anwendet. Das bedeutet, dass gesellschaftliche, kollektive Ereignisse sich durch die Eigenschaften und das nach bestimmten Regeln strukturierte Handeln von Individuen erklären lassen (vgl. Braun 1999: 18). „Handlungstheorien werden also grundsätzlich zur Beschreibung von Akteursmodellen eingesetzt …“ (Braun 1999: 27).

2.2.1 Was heißt Handeln?

Handeln ist bewusstes, zielorientiertes, zeitlich und logisch strukturiertes Verhalten oder auch bewusstes Unterlassen. Handeln bezeichnet also absichtsvolles Verhalten. Absichten gehen dem Handeln bewusst voran. Die Handlung wird vom Akteur mit einem subjektiven Sinn verbunden. Handeln setzt voraus, dass einem Menschen Absichten bewusst sind, die sich vom Verhalten unterscheiden lassen (vgl. Esser 1999: 178 und Meyers Taschenbuchlexikon online 2007).

2.2.2 Intentionalerklärungen

Individuelles Handeln ist demnach immer das Ergebnis von Absichten, auch intendierte Konsequenz genannt. Die Handlungstheorie beruht also auf Intentionalerklärungen. Die Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen Intention und Handlung ist kein allgemeines Gesetz, sondern beruht auf erklärungsbedürftigen Akteursentscheidungen. Dazu verwendet die Intentionalerklärung zwei Annahmen. Erstens unterstellt sie dem Akteur Zweckrationalität. Zweitens müssen der Handlung, ganz im Sinne der Definition, Absichten vorausgehen und sie muss bewusst ausgeführt werden, also auf einer Willensentscheidung beruhen. Aus diesen Annahmen über die Beziehung zwischen Absicht der Handlung und der Handlung selbst lassen sich kausale Hypothesen ableiten. Durch sie kommt man zu plausiblen Wahrscheinlichkeitsaussagen und damit probabilistischen Erklärungen (vgl. Braun 1999: 27-28).

2.2.3 Webers Handlungstypologien

Die Handlungstheorie beruht auf Max Webers vier Idealtypen. Diese sind:

1. Affektuelle Handlungen sind eng an die momentane Befindlichkeit des Akteurs gebunden und kommen spontan und emotional zustande.
2. Bei traditionellen Handlungen wird gehandelt, weil schon immer so gehandelt wurde. Daher wird die Handlung als gültig und selbstverständlich akzeptiert.
3. Beim wertrationalen Handeln steht die Bedeutung der Werte im Vordergrund. Sie sind so wertvoll, dass unbedingt nach ihnen gehandelt werden muss.
4. Bei zweckrationalen Handlungen wägt das Individuum Ziele und die notwendigen Mittel zum Zweck ab und sucht den direktesten Weg zur Erreichung des obersten Ziels (vgl. Thiery 2003: 229).

Die Zweckrationalität ist die vorteilhafteste Typologie, weil sie klar zu konzeptualisieren ist und deutlich gegen nicht-zweckrationales Handeln abgegrenzt werden kann. Der Idealtyp ist dabei nur ein Deutungsschema, um die Wirklichkeit erfassen zu können, und kein Naturgesetz (vgl. Weber 2005: 130).

2.3 Die Rational Choice Theorie

Die Rational Choice Theorie ist ein Sammelbegriff für verschiedene Ansätze der Handlungstheorie. Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie den handelnden Akteuren zweckrationales Verhalten zuschreiben (vgl. Braun 1999: 36). Dieses Menschenbild entwickelte sich jedoch erst im Laufe der Zeit.

2.3.1 Die Entwicklung des Rationalitätsbegriffs

Rationalität wird oft mit Vernunft gleichgesetzt. In der Rational Choice Theorie hat Vernunft aber eine ganz bestimmte Bedeutung, nämlich bewusstes, den Eigennutz maximierendes, Entscheiden und Handeln (vgl. Braun 1999: 36).

Bei Platon (427 bis 347 v. Chr.), Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) und später Kant (1724 bis 1804) war Vernunft vor allem am Allgemeinwohl orientiertes Handeln. Bei Aristoteles ist der Mensch ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen.

Thomas Hobbes (1588 bis 1679) stellt in seinem „Leviathan“ die Frage nach der Vereinbarkeit von individuellem Eigennutz und kollektiver Wohlfahrt. Der Mensch ist dabei Ausgangspunkt seiner Überlegung. Im Naturzustand herrscht „… Krieg eines jeden gegen jeden …“ (Hobbes 2002: 96). Der Mensch ist ein Wolf, der bereit ist, andere zu schädigen, um seinen eigenen Vorteil zu wahren oder zu erlangen. Der Naturzustand ist damit Ausgangspunkt eines kollektiven Dilemmas (vgl. Braun 1999: 19). Mit Hobbes erfolgte eine Verengung des Vernunftbegriffes, da der Mensch zum ersten Mal als Bedürfniswesen gesehen wird. Ethik und Moral gehen bei dieser Sichtweise weitgehend verloren. Der Mensch ist kein ‚zoon politikon’ mehr wie bei Aristoteles.

Utilitaristen, wie Jeremy Bentham (1748 bis 1832) und der Moralphilosoph Adam Smith (1723 bis 1790), gehen von eigennützigem und subjektiv vernünftigem Verhalten der Individuen aus. Allerdings handeln die Akteure innerhalb ihres ethischen Gefühls, wodurch automatisch das gesellschaftliche Glück maximiert wird (vgl. Braun 1999: 29 bis 30).

Die neoklassische Wirtschaftswissenschaft wandte am Ende des 19. Jahrhunderts den verengten Rationalitätsbegriff auf das Individuum als Wirtschaftssubjekt an. Nach empirischen Erfolgen der Rational Choice Theorie in der Ökonomie wurde sie auch für politikwissenschaftliche Analysen re-importiert (vgl. Thiery 2003: 230). Für die Politikwissenschaft bedeutete dies einen enormen Fortschritt. Makrophänomene, wie große gesellschaftliche Gruppen, konnten sich durch die Mikrotheorie gut erklären lassen. Mit dem massiven Aufkommen ökonomischer Erklärungen und gestiegenem Interesse daran kamen gleichzeitig Kritiken an der vollständigen Rationalität und dem einseitigen Denken auf (vgl. Thiery 2003: 237).

2.3.2 Der homo oeconomicus

Das Menschenbild des homo oeconomicus ist ein „… Subtypus zweckrationalen Handelns“ (Thiery 2003: 230). Der homo oeconomicus setzt seine Nutzenvorstellung autistisch und ohne Gefühle um. Dabei ist er völlig unabhängig von anderen Menschen. Beziehungen unterhält er nur, wenn sie wertäquivalent sind. Die soziale Situation ist - je nach Art der Interdependenz beim Tausch - durch die zwei Pole Kooperation und Konflikt gekennzeichnet (vgl. Esser 1999: 145-146).

Der homo oeconomicus handelt immer egoistisch und ist ein Nutzenmaximierer, das heißt, er will die maximale Befriedigung seiner Bedürfnisse bei minimalen Kosten. Es sind immer verschiedene Handlungsalternativen vorhanden. Die Präferenzbewertung ist rein rational, denn der ökonomische Mensch hat keine Sozialisation durchlaufen, bei der er gesellschaftliche Werte, Normen oder soziale Rollen verinnerlicht hat. Da er vollständig über alle Handlungsalternativen und über die Ergebnisse dieser Alternativen informiert ist, kann er den Nutzen verschiedener Handlungen miteinander vergleichen. (vgl. Braun 1999: 34-41).

Die Mitmenschen sind Konkurrenten um knappe Güter. Es können nicht alle Ziele gleichzeitig erreicht werden. Der Verzicht verursacht Opportunitätskosten. Das sind Kosten für den entgangenen Nutzen, der bei mehreren Alternativen durch die Entscheidung für die eine und gegen die andere Möglichkeit entsteht. Der Akteur wägt den erwarteten Nutzen einzelner Güter gegeneinander ab. In seine Nutzenkalkulation bezieht der homo oeconomicus auch Handlungsrestriktionen, wie institutionelle Regeln, ein.

In jedem Fall berechnet der Akteur den Netto-Nutzen der Präferenz. Dieser ergibt sich aus der Bedürfnisintensität abzüglich der Kosten, die für die Befriedigung aufgebracht werden müssten. Der rationale Akteur wird aus Effizienzgründen nur die Präferenz mit dem höchsten Wert ausführen (vgl. Braun 1999: 41).

Die Präferenzordnung wird ordinal skaliert; das bedeutet, dass die Ziele einen Erwartungswert zugewiesen bekommen und nach Rangfolge geordnet werden. Die Abstände dieser Skala müssen dabei aber nicht gleich groß sein.

Wichtig für die Rangordnung sind aus methodischen Gründen drei Konsistenzbedingungen: Für das Aufstellen der Rangordnung muss der homo oeconomicus alle Güter oder Handlungsalternativen gegeneinander abwägen können und sich entscheiden, welches Gut er einem anderem vorzieht oder ob er es als gleich gut bewertet (Konnektivität). Die aufgestellte Ordnung muss logisch, also in sich widerspruchsfrei, sein (Transitivität). Die letzte Bedingung ist die der Kontinuität: Wenn zwei Güter einander ähneln, müssen sie gleich bewertet sein (vgl. Braun 1999: 33-34). Die Bedingungen des homo oeconomicus gelten für alle Menschen (vgl. Braun 1999: 41).

2.3.3 Der homo sociologicus

Im Gegensatz zum homo oeconomicus kann der homo sociologicus nicht anders handeln, als er es tut. Er hat durch seine Sozialisation Normen und Werte verinnerlicht und er weiß, dass die Gesellschaft ein bestimmtes Verhalten von ihm erwartet. Weicht er von dieser Norm ab, wird sein Verhalten sanktioniert. Außerdem schämt er sich bei unmoralischem Handeln. Es besteht eine soziale Interdependenz. Er ist auf andere Menschen angewiesen. Daher besteht ein hoher Abschreckungseffekt, der dazu führt, dass er sich entsprechend gesellschaftlichen Forderungen verhält. Bei diesem Menschenbild wird nach den gesellschaftlichen Strukturen gefragt, die den Akteur zwingen, etwas zu tun. Individuelle Entscheidungen werden dadurch unwichtig. Der Mensch hat eine Rolle oder Funktion, die er erfüllen muss (vgl. Braun 1999: 41).

2.3.4 ‚Bounded rationality’

Das Menschenbild der in dieser Arbeit verwendeten Theorien beruht auf Modifikationen des homo oeconomicus. Das heißt, die Stärke einer nachvollziehbaren und überprüfbaren Handlungstheorie wird genutzt, jedoch wird von ‚beschränkter Rationalität’, oder ‚bounded rationality’ ausgegangen. Die Informationsaufnahme- und Verarbeitungskapazitäten der Akteure sind beschränkt. Daher versuchen die Akteure nicht immer, ihren Nutzen zu maximieren, sondern geben sich nach dem Erreichen eines bestimmten Nutzenniveaus mit diesem zufrieden (‚satisfycing’) (vgl. Braun 1999: 236).Damit wird eine realistische Brücke zwischen dem neoklassischen, isolierten und dem ‚übersozialisierten’ Menschenbild geschaffen.

3. Die Besonderheit des Strommarktes

Bis zur Liberalisierung 1998 war der Stromsektor von Gebietsmonopolen auf allen Versorgungsstufen1 geprägt. Diese Monopole waren vom Wettbewerbsrecht ausgenommen, weil das Stromnetz als natürliches Monopol2 (genauer als natürliches Oligopol) Marktversagen verursacht und die gesamte Marktnachfrage am effizientesten durch einen einzigen Anbieter oder wenige bedient wird3 (vgl. Borrmann/ Finsinger 1999: 123 und Bundeskartellamt 1997: 8). Die Monopole wurden schon immer staatlich reguliert und kontrolliert. Die Gebietsmonopole wurden durch gesetzliche Marktzutrittsschranken gesichert, die Marktmacht der Anbieter wurde durch Preis- und Gewinnregulierung diszipliniert und es gab Auflagen zur flächendeckenden Versorgung, um die Versorgungssicherheit4 in diesem wichtigen Sektor zu gewährleisten und überhöhte Monopolpreise zu verhindern (vgl. Adam 1992: 45)

Die Neoklassik geht - in Bezug auf das Coase-Theorem - davon aus, dass eine effiziente Güterverteilung (Allokation) knapper Ressourcen auf konkurrierende Verwendungsmöglichkeiten erreicht werden kann, wenn die Eigentums- oder Nutzungsrechte an dem Gut eindeutig spezifiziert und vollständig zugeteilt sind (vgl. Braun 1999: 242-243).

Die optimale Lösung ist aufgrund der Eigenschaft des natürlichen Monopols, Marktversagen auszulösen, nicht erreichbar. Der Monopolist wird durch den Monopolpreis besser gestellt, indem andere schlechter gestellt werden, weil sie von der Nutzung ausgeschlossen werden bzw. überhöhte Preise zahlen müssen. Der Stromnetzpreis wird nicht gleich den tatsächlichen Kosten für Betrieb und Wartung sein. Daher wird die zweitbeste Alternative gewählt: damit die Versorgung mit Strom gewährleistet werden kann, wird ein Monopolpreis in Kauf genommen. Der Nutzen wird optimiert, indem das Übel, nicht versorgt zu werden, dadurch minimiert wird, dass der Staat für die Internalisierung der negativen externen Effekte, also des Monopolpreises, sorgt. Nach dem Wirtschaftswissenschaftler Walter Eucken ist es die Aufgabe des Staates, den Wettbewerb zu sichern, indem er - bei einem unvollkommenen Markt - sein Gewaltmonopol wahrnimmt und sich gegen die nach Eigennutz strebenden Unternehmen durchsetzt, um Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen (vgl. Adam 1992: 45-47).

Die gesamte Stromversorgung als natürliches Monopol anzusehen, ist mittlerweile einer differenzierteren ökonomischen Betrachtung gewichen. Zumindest in der Stromerzeugung und dem Stromhandel ist ein Wettbewerb mit mehreren Anbietern möglich (vgl. Monopolkommission 2004: 436).

[...]

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Details

Titel
Warum gibt es heute in Deutschland keinen Wettbewerb auf dem Strommarkt?
Untertitel
Eine Fallstudie zur Regulierung des Stromsektors anhand des Rational Choice Institutionalismus und der Theorie des kollektiven Handelns
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Veranstaltung
Rational Choice in der Politikwissenschaft
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
54
Katalognummer
V81349
ISBN (eBook)
9783638851671
Dateigröße
632 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Warum, Deutschland, Wettbewerb, Strommarkt, Rational, Choice, Politikwissenschaft
Arbeit zitieren
Gesine Liersch (Autor:in), 2007, Warum gibt es heute in Deutschland keinen Wettbewerb auf dem Strommarkt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81349

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