Liebe und Sexualität als Darstellungsgegenstand im modernen Adoleszenzroman


Examensarbeit, 2000

101 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der moderne Adoleszenzroman im Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung
2.1 Zur Geschichte und Entwicklung des Adoleszenzromans
2.2 Themen, Abgrenzungen und Merkmale des Adoleszenzromans
2.3 Subgattungen des Adoleszenzromans im Rahmen der Modernisierungsphänomene
2.3.1 Klassischer Adoleszenzroman
2.3.2 Moderner Adoleszenzroman
2.3.3 Postmoderner Adoleszenzroman
2.4 Eine Untersuchung zum gegenwärtigen Angebot an Adoleszenzromanen
2.5 Zum Aspekt „Sexualität“ im Adoleszenzroman

3. Physiologische-, psychologische- und soziologische Grundlagen der Adoleszenz und der Aspekte „Liebe und Sexualität“
3.1 Adoleszenz. Die physiologische-, psychologische und soziologische Entwicklung
3.2 Aspekt „Liebe“
3.3 Aspekt „Sexualität“
3.3.1 Eine veränderte Sexualmoral
3.3.2 Sexuelle Reifung und –Verhaltensweisen

4. Zu den Darstellungsgegenständen „Liebe und Sexualität“ im modernen Adoleszenzroman
4.1 Zu den Erzählweisen im modernen Adoleszenzroman
4.1.1 Erzähltheoretische Grundvoraussetzungen
4.1.2 Analyse der Erzählweisen im modernen Adoleszenzroman
4.1.2.1 Marcus Rosenbloom und die Liebe
4.1.2.2 Adam und Lisa
4.2 Inhaltliche Aspekte im modernen Adoleszenzroman
4.2.1 Masturbation
4.2.2 Partnersuche/Der Druck der Jungfräulichkeit
4.2.3 Das erste Mal
4.2.4 Verhütung
4.2.5 Liebe und Sexualität in einer „Alltagsbeziehung“
4.2.6 Erotische Liebesbeziehung oder Freundschaft?
4.2.7 Liebe und soziale Unterschiede
4.2.8 Liebe und Rassismus
4.2.9 Homosexualität
4.2.10 Typische Minderwertigkeitsgefühle

5. Zusammenfassung und Ergebnisse

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang/Inhaltsangaben der untersuchten Romanvorlagen
7.1 Adam und Lisa
7.2 Kamalas Buch
7.3 Marcus Rosenbloom und die Liebe
7.4 Magic Müller
7.5 Lady Punk
7.6 London, Liebe und all das
7.7 Jim im Spiegel
7.8 Pfui Spinne!

1. Einleitung

Zum Beginn der 70er Jahre wurden im Bereich der Sexualität klassische Tabus durchbrochen. Dies wirkte sich schnell in der Kinder- und Jugendliteratur aus. Es erschienen Bücher, die sich mit Liebe, Selbstbefriedigung und Geschlechtsverkehr, ebenso auch mit Homosexualität, auseinander setzten.

„Mit der Darstellung von Sexualität, von sexuellen Handlungen, von Vorgängen, die mit der Geschlechtlichkeit des Menschen, mit Schwangerschaft und Geburt zu tun haben“, ... wurden „die Möglichkeiten dessen, was in der (erzählenden) KJL darstellbar wurde sowie die Bewertung des Sexuellen insgesamt (...) erheblich erweitert.“[1]

In der vorliegenden Arbeit geht es um den modernen Adoleszenzroman, welcher eine spezielle Subgattung[2] des Adoleszenzroman ist.

Inge Wild[3] fasste die o.g. Kernverknüpfung von Sexualität und Adoleszenzroman treffend zusammen:

„Der aktuelle jugendliterarische Adoleszenzroman geht in der möglichst authentischen Abbildung von Jugendsprache und jugendlicher Alltags- und Gefühlswirklichkeit dicht an Jugendliche heran. Gegenüber der amerikanischen adolescent novel, die v.a. durch Salingers Catcher in the Rye erwachsenen- und jugendliterarisch stilbildend wurde, ist eine gewachsene Tendenz zur Enttabuisierung, vorwiegend jugendlicher Sexualität in verschiedenartigsten Formen, zu beobachten.“

Anhand von verschiedenen Romanen, wird in dieser Arbeit der Umgang des Jugendlichen mit der erster Liebe und Sexualität im modernen Adoleszenzroman analysiert. Es wird sich zeigen, welchen Einfluss diese Faktoren auf die Identitätsfindung des Jugendlichen haben, den der Adoleszenzroman generell thematisiert.

Im zweiten Kapitel „Der moderne Adoleszenzroman im Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung“ werden, neben der geschichtlichen Entwicklung des Adoleszenzromans, die von Gansel benannten Subgattungen traditioneller-, moderner- und postmoderner Adoleszenzroman, erläutert. Dabei soll der moderne Adoleszenzroman besonders hervorgehoben werden.

Im dritten Kapitel wird eine Einführung in die grundlegenden Entwicklungen während der Adoleszenz gegeben. Außerdem werden die für die Arbeit relevanten Aspekte Liebe und Sexualität kurz erläutert. Die Arbeit legt ihren Schwerpunkt auf den Aspekt „Sexualität“, da der Jugendliche während seiner Adoleszenz u.a. lernt, mit seiner sexuellen Lust umzugehen. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass der Begriff Adoleszenz letztlich die Integration des Jugendlichen in die Welt der Erwachsenen meint. Liebe und Sexualität sind wichtige Bestandteile des Integrationsprozesses.

Im vierten Kapitel geht es um die Frage, wie die Protagonisten in ausgewählten Adoleszenzromanen, während ihrer Identitätsfindung, mit Liebe und ersten sexuellen Erfahrungen umgehen. Es zeigt sich, dass „Liebe und Sexualität“ eine große Bedeutung, fast eine Katalysatorfunktion, für die Identitätsbildung haben. Die Teilbereiche der Aspekte „Liebe und Sexualität“ werden anhand von ausgewählten Romanen erfasst . Im einzelnen wird untersucht, wie der Jugendliche mit Masturbationserfahrungen umgeht, und wer sie letztlich zu einer Haltung mobilisiert. Auch wird der Frage nachgegangen, welchen Wert der erste Geschlechtsverkehr für den Jugendlichen hat, und wiefern dieser zur Anerkennung des eigenen Geschlechts- bzw. des eigenen Körpers als vollständige Identität innerhalb der Gesellschaft beiträgt. Abgesehen von den Aspekten der körperlichen Liebe, werden auch Beispiele gegeben, in denen die körperliche Liebe eine zweitrangige Bedeutung erhält. Bei diesen steht im Zentrum, welche Schwierigkeiten sich für den Jugendlichen auf dem Weg zu Selbständigkeit ergeben, wenn die Eltern aus diversen gesellschaftlichen Gründen nicht mit der Partnerwahl ihrer Kinder einverstanden sind. Beispielgebend hierfür stehen die Aspekte „Rassismus“ und „Liebe und soziale Unterschiede“. Im Kapitel „Homosexualität“ führt der Protagonist des Romans „Jim im Spiegel“ einen harten Kampf bis zu seinem Eingeständnis, anders veranlagt zu sein, als die anderen. Nach dem eigenen Zugeständnis muss er sich auf einem schweren Weg vor seinen Eltern behaupten, die die homosexuelle Identität des Sohnes lange Zeit leugnen wollen.

Im letzten Kapitel der Arbeit werden zunächst typische erzählstilistische Aspekte der Oberflächenstruktur des modernen Adoleszenzromans erklärt und schließlich an zwei Beispielen demonstriert. Dabei wird die Frage nach der Erzählperspektive und nach besonderen Erzählformen analysiert (Traumsequenzen, Fantasien, Tagebuchaufzeichnungen, typographische Besonderheiten und wechselnde Erzählerfiguren, erlebte Rede, innerer Monolog und stream-of-consciousness[4], implizierter Autor ).

Anschließend folgt die Darstellung gezielter Problembereiche in Bezug auf Liebe und Sexualität. Aus analytischen Gründen werden diese gesondert betrachtet, da die daraus erfassbaren Problemlagen im modernen Adoleszenzroman eine große Rolle spielen.

2. Der moderne Adoleszenzroman im Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung

Der Begriff “Adoleszenzroman” ist ein Gattungsbegriff, der erst seit den 80er Jahren in der Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur verwendet wird und sich erst zum Beginn der 90er Jahre durchgesetzt hat. Deshalb ist der Begriff in einflussreichen Lexika wie z.B. im „ Metzler Literaturlexikon“ oder im „Wilpert“ noch nicht zu finden. Selbst im 1996 erschienenen „Grundzügen der Literaturwissenschaft“ von Arnold / Detering oder im dreibändigen „Fischer Lexikon Literatur“ von Ricklefs, das im selben Jahr erschienen ist, kann man sich noch nicht über dieses Genre informieren.

2.1 Zur Geschichte und Entwicklung des Adoleszenzromans

Der Adoleszenzroman befasst sich mit dem Innenleben und der psychosozialen Entwicklung der Protagonisten. In ihm sind die Veränderungen von Pubertät und Adoleszenz in Zusammenhang mit der veränderten Gesellschaft und Familien- und Freizeitkultur zu erkennen. Der Begriff wurde in Anlehnung an die angloamerikanische „adolescent novel“ gebildet. Heute wird er auf die Literatur des 20. Jahrhunderts angewendet (Ewers 1989, 1991), die die u.s. charakteristischen Merkmale aufweisen. Seine Wurzeln lassen sich im 18. Jahrhundert finden. Klassische Beispiele dafür, die oft in der Fachliteratur erwähnt werden, sind GOETHES „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) und „Anton Reiser“ von KARL PHILIPP MORITZ (1785-1790). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzt sich mit „Wilhelm Meister“ eine neue Gattung, der Bildungsroman, durch, welcher sich exemplarisch durch das gesamte Jahrhundert zog. Mit „Der Sandmann“ oder „Der goldene Topf“ von E. T. A. HOFFMANN (1816) entwickelte sich der Adoleszenzroman in die Phantastische Novelle, bzw. in das Kunstmärchen weiter. Seine zweite Blütezeit erlebte er erst um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in „Freund Hein“ von EMIL STRAUSS (1902), „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von ROBERT MUSIL (1906), „Unterm Rad“ (1906) und „Demian“ (1919) von HERMANN HESSE, sowie „Mao“ von FRIEDRICH HUCH (1997). Aus dem Expressionismus wurden keine Adoleszenzromane hervorgebracht, da sich die Entwicklung vom individuellen Helden zum „personifizierten Abstraktum“ (Ewers 1991, S. 6) vollzog. Einen Neuanfang brachte JEROME D. SALINGER in den 50er Jahren mit „Der Fänger im Roggen“, der 1951 in den USA erschien, und in Deutschland erst 1958 durch eine verharmloste, verfälschte Übersetzung von Heinrich Böll auf den Markt kam. In den 60er Jahren wurde „Der Fänger im Roggen“ in der BRD und der DDR mit Begeisterung rezipiert, weil er mustergebend für eine Generation stand, die gegen die bestehenden gesellschaftlichen Instanzen revoltierte. Der Adoleszenzroman ist deshalb ein „Reflex auf den Prozess von Modernisierung“. Weniger Erfolg hatte „Das Mädchen Frankie“ von CARSON MCCULLERS (1946, dt. 1951). Daneben wurden auch Adoleszenzromane von Hesse und Musil und die 1961 erschienene Adoleszenz-Novelle „Katz und Maus“ von GÜNTER GRASS zur Kanonliteratur an den Gymnasien. Weiter zu erwähnen sind auch „Lenz“ von PETER SCHNEIDER (1973), VOLKER BRAUNS „Unvollendete Geschichte“ (1977) und „Die neuen Leiden des jungen W.“ von ULRICH PLENZDORF (1973), welches zu einem Kultbuch in Ost- und Westdeutschland wurde. Da die Nachfrage an Adoleszenzromanen, die die Selbstfindung von Jugendlichen thematisiert, schnell anstieg, publizierten die Jugendbuchverlage in den 70er Jahren zunächst vermehrt Romane aus den USA, um den Mangel auf dem deutschen Markt auszugleichen. (Gansel[5] nennt „Kalte Welt. Ein Bandenchef berichtet“ von WARREN MILLER (1959, dt. 1979) „Ein nützliches Mitglied der Gesellschaft“ von BARBARA WERSBA (1970), „Kampffische“ von SUSAN A. HINTON (1975, dt. 1975)).

Bis zu Salinger, Grass und Plenzdorf waren die Adoleszenzroman für Erwachsene konzipiert, nun jedoch entwickelte sich ein jugendliterarisches Genre heraus. Die Jugendliteratur kam so zum ersten Mal mit Formen des literarischen Erzählens der Erwachsenenliteratur in Berührung, die bald von den deutschen Jugendbuchautoren übernommen wurden. Die Grenzen zwischen der Erwachsenen- und Jugendliteratur wurde damit fließend.

Texte wie „Die große Flatter“ von LEONIE OSSOWSKI (1977) „Wie wird Beton zu Gras“ von OTTO F. WALTERS (1979), „Die Sache mit Christoph“ von IRINA KORSCHUNOWS (1978), „Rita, Rita“ von RUDOLF HERFURTHNERS (1984), „Lady Punk“ von DAGMAR CHIDOLUE (1985) und „Elvis Germany“ von REINHARD KOCH (1989) brachten schließlich den Durchbruch im deutschsprachigen Raum. Eine besondere Bedeutung wurde auch aus dem Schwedischen übersetzten Titeln von INGER EDELFELDT, wie z.B. „Briefe an die Königin der Nacht“ (1985, dt. 1986) und „Kamalas Buch“ (1986, dt.1988), beigemessen. Hierin kam es zu stilistischen Besonderheiten, die zusammenfassend eine Gattung bezeichnet, die Gansel „moderner Adoleszenzroman“ nannte.

„Die jugendlichen Helden sind als Individualitäten gestaltet, die selbstreflexiv ihre widersprüchliche Rolle, ihre krisenhafte Entwicklung und innere Zerrissenheit bedenken“[6]

Hinzu kommt es hier zur Verwendung von modernen Techniken[7], mit denen es möglich wird, das Innere der Protagonisten darzustellen.

Die stilistischen und inhaltlichen Veränderungen, die in den 90er Jahren aufgrund des schnellen kulturellen Wandels innerhalb des Adoleszenzromans stattfanden, lassen sich unter dem Begriff „postmoderner Adoleszenzroman“ zusammenfassen.

2.2 Themen, Abgrenzungen und Merkmale des Adoleszenzromans

Unter dem Begriff Jugendroman werden sämtliche Romanformen für Jugendliche zusammengefasst. Dazu gehören zum Beispiel der historische Roman, der Science-Fiction-Roman, der Kriminalroman, der phantastische Roman und auch der Adoleszenzroman. Dieser ist in den 70er Jahren als neue Subgattung im Handlungs- und Symbolsystem KJL entstanden. Er befasst sich mit dem Innenleben und der psychosozialen Entwicklung der Protagonisten[8] während der Adoleszenz. Gansel 1998 warnt davor, sämtliche Romane, die die Adoleszenz thematisieren, als Adoleszenzromane zu bezeichnen. Dies führt seiner Meinung nach zu großen literarischen Ungenauigkeiten. Statt dessen fordert er dazu auf, den Begriff genauer zu bestimmen. Zusammenfassend lassen sich folgende Aspekte als Kennzeichen für Adoleszenzromane[9] benennen:

- Im Zentrum stehen ein oder mehrere jugendliche Helden, deren Darstellung sich auf die Jugendphase konzentriert.
- Nach dem Vorschlag von Gansel, den Adoleszenzroman in Subgattungen einzuteilen, finden sich im klassischen Adoleszenzroman hauptsächlich männliche Protagonisten, während im modernen und postmodernen Adoleszenzroman auch weibliche Protagonistinnen im Zentrum der Handlung stehen.
- Die dargestellte Zeitspanne zeigt oft den gesamten Prozess der Identitätsfindung. Dabei wird die Zeit der Adoleszenz möglichst umfassend dargestellt und umfasst die komplette Identitätssuche. Das Lebensalter der Protagonisten umfasst die gesamte Adoleszenz von Vorpubertät bis Postadoleszenz, also 11-12 Jahre bis Ende des 2. Lebensjahrzehntes.
- Die Protagonisten sind Individuen. Sie existieren real und sind keine personifizierten Lebewesen oder Typen. Der Adoleszenzroman gilt nicht als moralische Beispielgeschichte. Sie orientiert viel mehr an neuzeitlichen Romanen, in denen „die Handlungspersonen als je individuelle und unverwechselbare Einzelpersonen“[10] aufgefasst werden.
- Die Figuren werden nicht nur in einer Phase der Erschütterung dargestellt. Sie können ihre Identitätssuche ebenfalls als lustvolles Experimentieren und freudiges Erfahrungssammeln empfinden.
- In Adoleszenzromanen werden hauptsächlich prägnante Problembereiche, wie z.B. die Ablösung von den Eltern, das Erleben erster sexueller Kontakte, Erlernen eigener Wertevorstellungen, der Umgang mit sich selbst im Gefüge der Gesellschaft aufgearbeitet.
- Das Ende in Adoleszenzromanen ist meistens offen, d.h., dass die Protagonisten weiter auf der Suche bleiben, bzw. ihre Identität oft noch nicht gefunden haben.

Als Adoleszenzromane gelten die Romane, in denen, neben einer möglichen Identitätskrise, das Spannungsverhältnis zwischen der Individuation und der Integration in die bestehende Gesellschaft im Mittelpunkt steht. So fühlt sich der Protagonist zwischen den eigens aufkommenden individuellen Normen und den Normen der bestehenden Gesellschaft hin- und hergerissen.

Dieser Gattung stehen als „Nachbarn“ der Bildungsroman, der Erziehungsroman, der Entwicklungsroman, sowie die jugendlichen Gattungen der problemorientierten Jugendliteratur, der Jeansliteratur und der emanzipatorischen Mädchenliteratur gegenüber. Bildungsroman, Erziehungsroman und Entwicklungsroman lassen sich eindeutig abgrenzen. Die Übergänge zum problemorientierten Jugendbuch sind jedoch fließend. Der Jeansroman[11] und die emanzipatorische Mädchenliteratur können als Bestandteile des Adoleszenzromans gelten, da auch sie sich mit der Entwicklungsphase während der Adoleszenz beschäftigen.

Im Adoleszenzroman ist der Einsatz von Techniken psychologischen Erzählens wie Ich-Erzählform, personales Erzählverhalten, innerer Monolog, Bewusstseinsstrom, erlebte Rede, Traumsequenzen charakteristisch[12]. Das Verwenden dieser Mittel soll als Ziel die innere Widersprüchlichkeit der Protagonisten literarisch erfassen. Der Adoleszenzroman ist problemorientiert und problemoffen, so wird oft das Scheitern des Jugendlichen in seinem Entwicklungsprozess thematisiert (z.B. die namenslose Protagonistin in „Kamalas Buch“ von Inger Edelfeldt). Ewers spricht von der typischen „Schnoddrigkeit“ des Protagonisten, der oft mit einer rauen Schale dargestellt wird, darunter aber eine „zartbesaitete Psyche“ zu erkennen gibt. Der männliche Protagonist erscheint nach außen hin „großmäulig, vulgär, ironisch bis zynisch“. Eng damit verbunden ist sein „Zurschaustellen der eigenen Sexualität“, ein „Sich-in-Szene Setzen und Sich-selbst-wichtig-Fühlen. Kurz: das typisch männliche Grandiositätsgefühl“.[13]

Der weibliche Adoleszenzroman kann diese Charakteristiken ebenfalls aufweisen, setzt sich aber aufgrund der spezifischen weiblichen Identität davon ab und arbeitet die Besonderheiten der weiblichen Geschlechtsidentität heraus.

2.3 Subgattungen des Adoleszenzromans im Rahmen der Modernisierungsphänomene

Der Vorschlag, Subgattungen des Adoleszenzromans zu unterscheiden, stammt von Gansel[14]. Dabei ordnet er die jeweiligen Ausprägungen der Gestaltung von Adoleszenz in einen Prozess der Modernisierung ein. Er sagt, dass die Kinder- und Jugendliteratur, die seit ihrem Ursprung auf das Vermitteln von moralischen, ethischen und politischen Werten orientiert war, heute immer mehr zu einem Spiegel kindlicher und jugendlicher Lebenswelten geworden ist und damit einen Reflex auf Veränderungen in einem Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung darstellt[15]. Somit berücksichtigt er also die psychologischen, physiologischen und sozialhistorischen Veränderungen in der Adoleszenz.

In den 90er Jahren geriet die Modernisierungstheorie von BECK in die Aufmerksamkeit der Kinder- und Jugendliteraturforschung. Besonders GANSEL, EWERS und WILD stützen ihre Untersuchungen zur Entwicklung der KJL auf Becks Ergebnisse. Dieser meint mit Modernisierung die

„technologischen Rationalisierungsschübe und die Veränderung von Arbeit und Organisation, umfasst darüber hinaus aber auch sehr viel mehr: den Wandel der Sozialcharaktere und Normalbiografien, der Lebensstile und Liebesformen, der Einfluss- und Machtstrukturen, der politischen Unterdrückungs- und Beteiligungsformen, der Wirklichkeitsauffassungen und Erkenntnisnormen.“[16]

Gansel schließt wie folgt aus dieser Aussage und bezieht sie auf die KJL:

- Der Prozess der Modernisierung führt zu Veränderungen in den Bewusstseinsstrukturen, woraus neue Normen und Werte entstehen.
- Betroffen sind damit die für die KJL entscheidenden Auffassungen über „die Struktur von Persönlichkeit, Erziehungstheorien, die Beziehungen in der Familie, die Rolle der Ehe, den Status von Mann, Frau und Kind wie auch den Stand der Realisierung in der Praxis“[17].
- Ebenso entscheidend ist, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen herrschen, wie etwa Absolutismus, Monarchie, Diktatur oder Demokratie.

Gansel betont die Langwierigkeit des Modernisierungsprozesses. Als Leitbild hielt sich die „Konsumtionsfamilie“, eine moderne bürgerliche Familie, die von der Subsistenz- und Erwerbsarbeit entlastet ist. Diese setzte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch, als „wachsender Wohlstand und zunehmende Freizeit reale Möglichkeiten für ihre Verbreitung schufen.“[18]

Die bestehenden Jugendbilder einer Gesellschaft wirken sich stark in der literarischen Gestaltung von Adoleszenz aus. Der Zusammenhang von Modernisierung und Jugend ist unumstritten. Kindheit und Jugend durchlaufen mit dem Prozess der Modernisierung einen Wandel.[19]

Gansel fasst zusammen:

„Adoleszenz im modernen Sinne ist Produkt eines Prozesses von

gesellschaftlicher Modernisierung.“[20]

Mit der Einteilung der Adoleszenzromane nach ihren typischen Merkmalen der beschriebenen Gesellschaftsstruktur, schlägt Gansel für die Subgattungen die Begriffe „klassischer, moderner und postmoderner Adoleszenzroman“ vor. Allerdings muss hierbei betont werden, dass die Übergänge zwischen den einzelnen Subgattungen oft ineinander fließen. Letztlich bedeutet dies, dass gegenwärtig Adoleszenzromane entstehen können, die von ihrer literarischen Darstellungsweise als klassisch eingeordnet werden müssen, obwohl es durchaus auch eine historische Abfolge gibt.

2.3.1 Klassischer Adoleszenzroman

Der klassische Bildungsroman und der Entwicklungsroman gelten als Vorstufen des klassischen Adoleszenzromans. Der normale Entwicklungsprozess von Kindheit über Jugend zum Erwachsenenalter ist hier kennzeichnend. Der Eintritt ins Erwachsenenalter bedeutet auch gleich eine Anpassung an die Gesellschaft. Das Ende ist in diesen Romanen meist abgeschlossen, d.h. es kommt zu einer positiven Lösung des Identitätskonflikts. In den Schülerromanen dagegen, die zu Beginn des Jahrhunderts erschienen, scheiterte diese Anpassung. Die Protagonisten bei Rilke, Hesse und Musil können zu keiner Identitätsbildung kommen. Ihr Suchen endet in einer Katastrophe.

Die Merkmale des klassischen Adoleszenzromans lassen sich in den Schilderungen der Schule wiederfinden, die eine große symbolische Bedeutung besitzt. Hier wird das Schüler-Lehrer-Verhältnis als eine Art Feindschaft dargestellt, die Schule selbst als eine „Zwangsanstalt“. Eine Hierarchie im Lehrerkollegium entsteht durch die unterschiedliche Grausamkeit der Lehrer. Der gefühlsloseste, gewaltbereiteste Lehrer wird hier am einflussreichsten dargestellt. Die schwachen Protagonisten haben meist Freunde, die entgegengesetzte Eigenschaften haben und ihnen damit zur Hilfe kommen. Ein Themenschwerpunkt beruht auf den Leiden der Schüler und meistens auch aus deren Blickwinkel. Weiterhin wird Familie stark unter den Bedingungen einer sich weiterentwickelnden Demokratie angegriffen. Die existentielle Krise, in der die jugendlichen Helden sich befinden, endet oft mit deren Tod. Den Übergang zum modernen Adoleszenzroman nennt man auch Entdramatisierung, da ab dieser Wende der Tod als Lösungsmittel der Krise wegfällt.[21]

„...die traditionelle Jugendliteratur ist eine Literatur des Unalltäglichen und Außergewöhnlichen, des Abenteuerlichen und Exotischen...“

2.3.2 Moderner Adoleszenzroman (um 1970)

„...Die „neue“ Jugendliteratur verharrt demgegenüber unerbittlich im Alltag; sie ist bestrebt, die realen Lebensbedingungen Jugendlicher aufzudecken und deren Selbstvergewisserungs- und Selbstbehauptungsversuche im alltäglichen Lebenskontext zu verfolgen.“[22]

In der Mitte des 20. Jahrhunderts kam es, bedingt durch die Modernisierungsphänomene, wie die neuen sozialen Bewegungen in den 60er Jahren, durch die Frauen- und Studentenbewegungen zwangsläufig auch zu stilistischen Veränderungen im Adoleszenzroman, denn die Jugendliteratur

„...hat sich zu einem Medium entwickelt, in dem sich kulturelle Wandlungsprozesse, Veränderungen vornehmlich von Pubertät und Adoleszenz, von Familien-, Schul- und jugendlicher Freizeitkultur widerspiegeln.“[23]

Weiter aufgezeigt wird die Dichotomie von Jugend- und Erwachsenenwelt. Es stehen sich eine kreative, spontane, phantasievolle, spielerische Welt des Jugendlichen und eine festgefügte, kalte Welt der Erwachsenenwelt gegenüber. Die Jugendlichen kämpfen für ihre Welt und Werte und üben gegen die bestehende Gesellschaft und deren Konsumverhalten Kritik aus, scheitern jedoch am Schluss. Sie stehen als Außenseiter am Rande der bestehenden Gesellschaft. Oft zeigen moderne Adoleszenzromane in schlimmen Existenzkrisen Möglichkeiten des Rückzugs in künstlerische Tätigkeiten (z.B. Georg in „Briefe an die Königin der Nacht“ von Inger Edelfeldt: Schreiben und Malen, oder Marcus in „Marcus Rosenbloom und die Liebe“ von Harry Mazer: Schreiben). Verändert hat sich die Sichtweise der Protagonisten, die im klassischen Adoleszenzroman noch ein extrem negatives Weltbild besaßen. Nun setzen sie sich mit sich selbst und mit ihrer Umwelt auseinander und suchen gewissenhaft nach einer Lösung. Charakteristiken für die Verweigerung von bestehenden Normen kommen in Form von besonderer Mode, einer jugendkulturell geformten Sprache und Musik zum Ausdruck. Das Symbol des Jugendlichen schlechthin ist die Jeans. Neben den langen Haaren wurde diese zu einem Ausdruck von Selbständigkeit und Verweigerung. WIBEAU 1973:

„Ich meine, Jeans sind eine Einstellung und keine Hose.“[24]

Kern der modernen Adoleszenzliteratur ist die Suche nach Gleichberechtigung, nach einer eigenen Persönlichkeit und die Möglichkeit zu individuellem und autonomen Leben. In diese Kategorie gehören die Romane von INGER EDELFELDT: „Briefe an die Königin der Nach“, „Kamalas Buch“, „Jim im Spiegel“, ebenso die Romane von DAGMAR CHIDOLUE: „Lady Punk“, „Magic Müller“, „London, Liebe und all das“, MATS WAHLS „Winterbucht“, MYRON LEVOYS „Adam und Lisa“, HARRY MAZERS „Marcus Rosenbloom und die Liebe“ und ACHIM BRÖGERS „Hand in Hand“.

Das Ende des modernen Adoleszenzromans bringt oft eine Konfliktlösung, bzw. die Selbstverwirklichung mit sich.

2.3.3 Postmoderner Adoleszenzroman (ab 1990)

Der postmoderne Adoleszenzroman zeigt große stilistische Veränderungen. Meist wird darin die Ich-Perspektive verwendet, die auch von mehreren Protagonisten verwendet werden kann. Die Texte wirken oft wie eine willkürliche Aneinanderreihung von Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen. Es gibt keine erkennbare Überleitung von einer Sequenz zur nächsten. KAULEN[25] vergleicht dies mit dem Aufbau unserer heutigen Videoclips und deutet damit auf die beachtliche Medienerfahrung des Jugendlichen hin. Die Erzählweise des Jugendlichen ist nicht mehr ablehnend-aggressiv, sondern eher neutral bis ironisch. Auch haben die Protagonisten keine autonomen Charaktere mehr, sondern sind lediglich noch Zeichen und Oberfläche, die nur in der Gegenwart leben und keine Vergangenheit besitzen.[26] Der postmoderne Adoleszenzroman zeigt ein neues Generationenverhältnis auf. Besonders typisch ist, dass der Jugendliche von zu Hause aus Freiheiten zugestanden bekommt, ohne vorher dafür gekämpft haben zu müssen, wie noch im modernen Adoleszenzroman der Fall ist. Postmoderne Eltern erwarten von ihren Kindern schon sehr früh Selbstständigkeit. Außerdem können sie für ihre Kinder Konkurrenten in Sachen Jugendlichkeit sein. EWERS[27] spricht von einer „Entdramatisierung des Generationenkonflikts“. Gansel weist darauf hin, dass Jung-Sein in der postmodernen Gesellschaft zu einem Sinnbild, einem Wert geworden ist und sich somit vom biologischen Alter abtrennt. Die Thematisierung der Suche nach der eigenen Identität findet hier nicht mehr statt. Vielmehr ist der Protagonist auf der Suche nach Erlebnissen. Das offene Ende ist charakteristisch für den postmodernen Adoleszenzroman.

2.4 Eine Untersuchung zum gegenwärtigen Angebot an Adoleszenzromanen

Eine interessante Untersuchung zum gegenwärtigen Angebot an Adoleszenzliteratur bietet das Heft „Erwachsenwerden“ der Stiftung Lesen (Payrhuber 1996). Es werden insgesamt 125 Jugendbücher vorgestellt, die hauptsächlich in den 90er Jahren, wenige Ausnahmen zum Ende der 80er Jahren erschienen sind. Das Heft führt 59 deutsche, 24 skandinavische und 21 amerikanische, 9 englische, 5 niederländische, 4 französische, 2 tschechische und ein flämisches Jugendbuch auf. Die Protagonisten sind zur Hälfte männlichen- und weiblichen Geschlechts. Ihr Alter liegt zwischen 13-17 Jahren. Das Heft wurde hinsichtlich der Themen und Probleme in den aufgeführten Jugendbüchern untersucht. Die Adoleszenzromane behandeln vor allem drei Themenschwerpunkte:

1. Liebe und das Erleben erster sexueller Kontakte,
2. die Suche nach der eigenen Identität,
3. und die Beziehung zwischen dem Jugendlichen und seinen Eltern.

„Liebe, Partnerschaft, Sexualität, Eifersucht“ stehen eindeutig im Vordergrund. Die Darstellung von Sexualität in Jugendromanen erfolgt mit großer Offenheit, obgleich diese oft mit Unsicherheiten gegenüber dem anderen Geschlecht, eigener Verletzbarkeit und emotionaler Betroffenheit sehr differenziert gezeigt wird.

Der zweitgrößte Bereich dreht sich um das Thema „Identität“. Hier geht es vor allem um Identitätssuche und –findung, um die Auseinandersetzung mit dem Selbstbild, um die eigene Unsicherheit, Schüchternheit, um existentielle Orientierungsprobleme und um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, dem Aussehen. Bei der Suche nach einer Rolle in der Clique und in der Schule macht der Protagonist oft Grenzerfahrungen, durchlebt Untergangs- und Sinnlosigkeitsgefühle, aber ein totales Scheitern oder Selbstmord als Lösung unerträglicher Ich-Konflikte bleiben in den Jugendromanen Randphänomene. Die „Beziehungen vom Jugendlichen zu seinen Eltern“ werden als Konflikte der Ablösung von den Eltern dargestellt. Weniger Bedeutung wird dem Identitätskonflikt beigemessen, der in den siebziger und achtziger Jahren einen großen Einfluss hatte. In diesen Büchern steht vielmehr die Partnerschaft von Eltern und Kindern im Vordergrund. Hinzugekommen sind neue Problematiken, wie etwa die unvollständige Familie mit einem alleinerziehenden Elternteil und die Verwischung der Generationsunterschiede. Dadurch kommt es zu einer zu großen Nähe von Eltern und Kindern auf Grund gleicher kultureller und medialer Erfahrungen und ähnlich gelagerten Problemen, wodurch die Familie immer mehr die Rolle der beschützenden Institution verliert.

Am Rande werden die Rolle in der „peer group“ (hierzu gibt es aktuelle Untersuchungen in „Der Deutschunterricht“ 4/1996) und „Beruf, Arbeit, Arbeitslosigkeit“ behandelt.

2.5 Der Aspekt „Sexualität“ im Adoleszenzroman

Aus einer Tabelle[28] von Gansel ist zu ersehen, dass der Aspekt „Sexualität“ innerhalb der differenzierten Untergattungen von Adoleszenzromanen einen unterschiedlichen Stellenwert hat. Während die Sexualität im klassischen Adoleszenzroman lediglich eine untergeordnete Rolle spielt, wird sie mit dem Laufe der Modernisierung im modernen Adoleszenzroman zum Zentralthema.

Dies ist durch die Reformbewegungen der 60er und 70er Jahre bedingt[29].

Im postmodernen Adoleszenzroman ist die Sexualität bereits erprobt und selbstverständlicher Bestandteil der Erzählung. Die Protagonisten leben ihre Triebbedürfnisse voll aus. Außer zur Befriedigung des Sexualtriebs, dient die Sexualität auch zur Selbstbestätigung.

Die Arbeit beschäftigt sich ausschließlich mit modernen Adoleszenzromanen. Es wird analysiert, in wie weit der jugendliche Kampf der sexuellen Liberalisierung zur Identitätsfindung beiträgt.

3. Physiologische-, psychologische- und soziologische Grundlagen der Adoleszenz und der Aspekte „Liebe und Sexualität“

3.1 Adoleszenz. Die physiologische, -psychologische und soziologische Entwicklung

In diesem Abschnitt werden die Phasen der Adoleszenz[30] aus entwicklungspsychologischer Sicht kurz zusammengefasst, um damit einen Überblick über die Entwicklung bis zum Erwachsenenalter zu geben. Als Adoleszenz wird in der Wissenschaft die gesamte Zeit von der Entwicklung von Kindheit bis ins Erwachsenenalter bezeichnet. Diese Phase beinhaltet die Pubertät[31], die sich nur auf die körperlichen Veränderungen der sexuellen Reifung vom Jugendlichen bezieht. In dieser Zeit wird der Jugendliche geschlechtsreif. Der Begriff Adoleszenz wird gebraucht, da die körperlichen Veränderungen der Pubertät schon beendet sind, bevor die soziale und psychische Entwicklung abgeschlossen ist. So meint der Begriff Adoleszenz nicht nur die Pubertät, sondern den gesamten Abschnitt bis zu einer individuellen Selbstfindung[32]. In dieser Phase ist der Ablösungsprozess von der Familie wichtig. Das erste psychoanalytische Konzept der Pubertät stammt von Sigmund Freud, der schon 1905 in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ grob die Phasen der psychosexuellen Entwicklung benannte. Demnach setzen mit der Pubertät Veränderungen ein, die das „infantile Sexualleben in seine endgültige normale Gestaltung überführen sollen. Der Sexualtrieb war bisher vorwiegend autoerotisch, er findet nun das Sexualobjekt.“[33] Pearson teilt in seinem Handbuch der Kinder-Psychoanalyse die Adoleszenz in drei Phasen ein: die Vorpubertät von 10-13 Jahren, die Pubertät von 13-16 Jahren und die Nachpubertät von 16-19 Jahren. Hier wird die Adoleszenz also auf das Alter von 10-19 Jahren beschränkt. Pearson verweist aber im nächsten Schritt auf die Entwicklung von der Latenzperiode bis zum Erwachsenen, womit eine begrenzte Einteilung mit festgelegtem Anfangs- und Endpunkt in die Adoleszenz nicht möglich ist[34]. Das Ende der Adoleszenz wird in neueren Untersuchungen aufgrund von veränderten Lebensbedingungen vom Jugendlichen bis auf ein Alter von ca. 25 Jahren erweitert[35].

Der erste Schritt ist der Eintritt in die frühe Adoleszenz im Alter von ca. 12-14 Jahren, welcher eine sehr schnelle, fast dramatische Veränderung aller Lebensbezüge bedeutet. Zum einen kommt es zu einem enormen Wachstumsschub. Außerdem beginnen sich die sekundären Geschlechtsmerkmale[36] herauszubilden, ebenso kommt es beim Mädchen zur ersten Regelblutung und beim Jungen zu ersten Samenergüssen. Bei Mädchen beginnt die Pubertät etwa 0,5-1,5 Jahre früher als bei Jungen. Auch die genitale Reifung der Mädchen beginnt früher, ebenso liegt der letzte Höhepunkt des körperlichen Wachstums vor dem der Jungen[37]. Bei den Mädchen kommt es zuerst zum Wachstum der Gebärmutter. Ungefähr zwei Jahre später entwickelt sich die Brust (mit ca. 8-13 Jahren), dann die Schambehaarung (mit ca. 8-14 Jahren). Zur ersten Regelblutung (Menarche) kommt es mit 10-16 Jahren (ca. 2-2,5 Jahre nach Beginn der Brustentwicklung, Mittelwert: mit 13 Jahren). Die Pubertät bei Jungen ist schwerer definierbar. Die Ausbildung der Geschlechtsmerkmale beginnt mit einer Vergrößerung der Hoden (10 bis 13,5 Jahre; von 2 auf 20 ml), dann folgen Schambehaarung(10-15 Jahre), Peniswachstum (mit ca. 14 Jahren, von 5 auf 12 cm). Letztlich folgen Libido (=sexuelle Verlangen), Stimmbruch (ausgelöst durch das Wachstum des Kehlkopfes) und die Bildung reifer Samenzellen[38]. Begleitet werden die körperlichen Veränderungen von einer Reihe von emotionalen und sozialen Veränderungen, denen der Jugendliche oft schutzlos ausgeliefert ist, da er noch nicht gelernt hat, mit den körperlichen Veränderungen umzugehen. So ist als entscheidender Schritt für den Adoleszenten wichtig, sich seines Körpers bewusst zu werden. REMSCHMIDT[39] fasst dies in zwei Faktoren zusammen, die miteinander konvergieren müssen:

- der biologischen Vorgang der Entwicklung und
- der psychosozialen Vorgang der Übernahme der Geschlechtsrolle durch das Individuum und die Anerkennung dieser Übernahme durch die Gesellschaft

Der Jugendliche erkennt neben dem Aussehen Veränderungen, die ihn erregen, irritieren und stimulieren. Daher kommt es während der Pubertät eventuell auch zu einer Zunahme an psychischer Labilität, die in unterschiedlichen Ausprägungen stattfindet. MÜHLBAUER-BRAUN sagt, dass es ganz natürlich und charakteristisch für die Adoleszenz ist, „was in einem Jugendlichen vorgeht, der morgens voller Entzücken in die Welt hinausstürmt und alle umarmen könnte und der abends so am Ende ist, dass er nicht mehr leben möchte. Wozu auch, für wen? ‚Mich versteht ja doch niemand’.“[40]

LIPSITZ und VARS bezeichnen dies als „besondere seelische Verwundbarkeit“[41]. Die Sexualentwicklung hängt sehr eng mit der Ausbildung des Selbstwertgefühls und der persönlichen Identität zusammen. Jugendliche beginnen, sich mit anderen Jugendlichen zu vergleichen, wodurch oft Konfliktsituationen entstehen, die zu aggressiven und depressiven Verhalten führen. In seltenen Fällen kommt es zu chronifizierten neurotischen Fehlentwicklungen, wie z.B. auch Essstörungen. Erfahrungen aus der Kindheit werden zu Grundlagen für die komplexen Phänomene der Adoleszenz, durch die sich der Jugendliche alleine durchschlagen muss. Von großer Bedeutung für beide Geschlechter ist auch die häufig auftretende Acne vulgaris, die den Jugendlichen stark in seinem Selbstwertgefühl einschränken kann.

In diesem Alter ist die Gefahr für den Jugendlichen besonders groß, sich das Rauchen anzugewöhnen oder übermäßigem Alkoholkonsum (in Extremfällen auch Drogenkonsum) zu verfallen. Bedingt ist dies durch die Zunahme von psychischer Differenzierung. Da zunehmend ein Kräftewachstum auftritt, versucht der Jugendliche, dies in seinem Verhalten aufzubringen, was zu Beginn oft noch sehr tollpatschig wirkt und oft von der Umwelt als störend empfunden wird. Ihm wird bewusst, dass er einen Intimbereich besitzt, der ihm zum Verhalten zwingt, sich einen Intimpartner zu suchen. Allgemein wird vom Adoleszenten nun mehr Selbständigkeit erwartet, was ihn, von seinen Kindheitserfahrungen abhängig, noch mehr oder weniger irritieren kann[42].

Beide Geschlechter erhalten während der Adoleszenz ein großes Interesse an der Sexualität. Entsprechend der Reifeentwicklung beginnen Jungen später mit ersten sexuellen Kontakten als Mädchen. Bis zum Alter von 18-19 Jahren ist dieser Vorsprung jedoch wieder ausgeglichen. Für den Jugendlichen ist es nun besonders schwer, sich auf Schule oder Lehre, Eltern und andere Pflichten zu konzentrieren. Priorität hat hier der Aufbau von Freundschaften, die jedoch oft nur kurz anhalten. Mühlbauer-Braun weißt darauf hin, dass es dem Jugendlichen hier weniger um die Partnersuche als um die Selbstfindung geht. Denn

„Kein Spiegel ist so wahr wie das jugendlichen Gegenüber.“[43]

Durch vielseitige intensive Gespräche mit unterschiedlichen Gesprächspartnern, findet der Jugendliche einiges über seine eigenen Wünsche und Begehren, und über die der anderen heraus.

Mühlbauer-Braun nennt in ihrem Werk Partnerexperimente, die gleichzeitig Experimente mit der Realität darstellen. Demnach greifen Mädchen eher zu den fiktiven Experimenten als Jungen. Dies bezieht sich auf Schwärmereien der Mädchen, die sich zunächst an nicht zu erreichende Idole, wie z.B. Schauspieler, Popstars, verheiratete ältere Herren oder Lehrer richten. Hieran ist nur die Hinwendung zum anderen Geschlecht real, und dieses Gefühl wird in der Fantasie der Mädchen getestet, bevor es an einem realistischen Partner ausprobiert wird.[44]

Die Adoleszenz ist somit eine Art Zwischenstadium, in dem der Jugendliche eine „Neuprogrammierung“ auf physiologischer, psychologischer und soziologischer Ebene erfährt[45]. Zum Ende der Adoleszenz werden diese Konflikte entweder zu einer stabilen Einstellung umgewandelt, oder sie verdichten sich in Charakterstörungen. Das Ziel der Adoleszenzphase für den Jugendlichen ist

herauszufinden, wer er ist und welchen Lebenssinn er hat. Nachdem die wichtigsten körperlichen Entwicklungen der frühen Adoleszenz abgeschlossen sind, kommt der Jugendliche etwa mit 17 Jahren in die späte Adoleszenz. Entwicklungspsychologisch ist die veränderte Einstellung maßgebend für den Zustand „Erwachsensein“. Aufgaben und Inhalte des Erwachsenwerdens sind von Mensch zu Mensch verschieden. Der Eine übertritt diese Schwelle mit dem Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums, der andere schließt seinen Wehrdienst ab. Allgemein bedeutet der Übergang ins Erwachsenenalter eine persönliche Entfaltung und Durchsetzung der eigenen Wünsche. Die moderne Entwicklungspsychologie nennt die Adoleszenz zusammenfassend einen „langwierige(n) Prozess der Integration des Jugendlichen in die Welt der Erwachsenen, ein Prozess der vorwiegend soziokulturell determiniert ist“[46].

Einen großen Einfluss auf die Identitätsentwicklung des Jugendlichen hat die Peer-Gruppe, die Gruppe der Gleichaltrigen. Nach OERTER und MONTADA[47] besteht diese aus drei wirksamen Ebenen. Demnach bilden sich die Bereiche

- Gemeinschaft, mit gleichen Interessen, gleichem Lebensstil und gleicher Weltanschauung
- Konkrete Gruppe, der ein Jugendlicher angehören möchte, die einen bestimmten Lebensstil realisieren
- Freundschaften mit unterschiedlichen Bindungserfahrungen; der Freund wird zu einer Person, der man sich anvertrauen kann.

Es hat sich ergeben, dass die Peer-Gruppe folgende Funktionen einnimmt:

- Sie trägt zur Orientierung und Stabilisierung bei.
- Sie bietet Freiraum zum Erproben von neuen Möglichkeiten.
- Sie bietet Unterstützung während des Ablösungsprozesses von den Eltern.
- Sie kann die Identitätsfindung begünstigen, indem sie diverse Lebensstile und Identifikationsmöglichkeiten bietet.

In den folgenden Analysen der modernen Adoleszenzromane wird sich zeigen, dass es während der Identitätsfindung auch möglich sein muss, sich von den Peers zu lösen.

3.2 Aspekt „Liebe“

In deutschen Lexika des 18. Jahrhunderts wird die Liebe noch als ein theologischer Gegenstand verstanden, als „die Liebe Gottes“. Die „menschliche Liebe“ wird als etwas, das eine bestimmte Funktion hat, dargestellt.

[...]


[1] Dahrendorf: Liebe und Sexualität, S. 34.

[2] Vgl. Gansel: Moderner Kinder- und Jugendliteratur, 1999. Gansel macht den Vorschlag, den Adoleszenzroman nach seinen Merkmalen entsprechend in Subgattungen (klassischer-, moderner-, postmoderner Adoleszenzroman) einzuteilen.

[3] Wild: Neue Bilder weiblicher Adoleszenz, 1997.

[4] Bewusstseinsstrom.

[5] Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 113.

[6] Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 113.

[7] Diese Techniken werden s.u. erläutert.

[8] Protagonist: Hauptperson.

[9] Die Kennzeichen für den Adoleszenzroman beziehen sich auf Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999.

[10] Kaulen: Fun, Coolness, Spaßkultur? 1999, S. 327.

[11] „Jeansliteratur“ bezieht sich auf lyrische, dramatische und epische Texte der siebziger Jahre, die ursprünglich für Erwachsene gedacht waren, jedoch bald vom Jugendlichen als Identifikationsliteratur verwendet wurde. Inhaltlich zeigen diese Texte Versuche des Protests des Jugendlichen gegen die bestehenden gesellschaftlichen Normen und Zwänge. Die Welt der Erwachsenen ist hier festgefügt. Gegenüber steht die Welt des Jugendlichen, die zwanglos, spontan und kreativ abgebildet wird, sich jedoch nicht durchsetzen kann (vgl. Doderer 1982).

[12] Vgl. Kapitel 4.1.

[13] Ewers: Adoleszenzroman und Jugendliteratur, 1991, S. 6-11.

[14] Vgl. Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 117-123.

[15] Vgl. Gansel: Zum kulturellen Wandel kindlicher und jugendlicher Lebenswelten und ihrer Reflexion in der Kinder- und Jugendliteratur, 1995.

[16] Beck: Risikogesellschaft, 1986, S. 25.

[17] Vgl. Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 48-49.

[18] Geißler 1992, vgl. Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 49.

[19] Vgl. Gansel: Der Adoleszenzroman zwischen Moderne und Postmoderne, Hohengehren 2000.

[20] Gansel: Kinder- und Jugendliteratur in der SBZ/DDR in modernisierungstheoretischer Sicht.

[21] Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999.

[22] H.-H. Ewers: Jugendkultur im Adoleszenzroman, 1994, Einleitung, S. 7.

[23] Ebd., S. 7.

[24] Plenzdorf 1973.

[25] Kaulen: Fun, Coolness, Spaßkultur? 1999, S. 332.

[26] Vgl. Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 122.

[27] Ebd., S. 9.

[28] Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 127.

[29] Vgl. Kapitel 3.3.1, Eine veränderte Sexualmoral.

[30] „Adoleszenz“ kommt von lat adolescere = erwachsen werden. Dieser Begriff und dessen Bedeutung steht für die Charakteristik der gesamten Phase.

[31] Der Begriff „Pubertät“ kommt aus dem Lateinischen, von pubescere = Schamhaare bekommen.

[32] Das heißt für die Adoleszenzliteratur, dass es hierin um junge Menschen geht, die in ihrer körperlichen Entwicklung so gut wie fertig gestellt, also schon geschlechtsreif sind, sich jedoch noch in einer Phase der Selbsterfahrung befinden. Kurz: es geht um die psychische Entwicklung von Kindheit in das Jugend- und Erwachsenenalter, sowie um die damit in Zusammenhang stehenden Konflikte.

[33] Freud: Die Umgestaltung der Pubertät, 1982, S. 112.

[34] Pearson: Handbuch der Kinder-Psychoanalyse, S. 71.

[35] Fend: Vom Kind zum Jugendlichen, S. 16.

[36] Als primäre Geschlechtsmerkmale werden die der Fortpflanzung dienenden inneren und äußeren Organe bezeichnet. Sekundäre Geschlechtmerkmale sind solche, die sich bei den Geschlechtern unterscheiden, ohne dass sie im engen Zusammenhang zur Fortpflanzung stehen (z.B. Schambehaarung, Axillarbehaarung, Brustentwicklung, Menarche, Gesichtsbehaarung, Ejakulation, u.a.);als primäre Geschlechtsmerkmale bezeichnet man Hoden, Penis Scheide, Gebärmutter und Eierstöcke.

[37] Nach einer Kurve von Scammon, R. E.: Morris’ human anatomy. P. Blakiston’s & Co, New York 1923 in: Baa>

[38] Die Merkmale der sexuellen Reifung stützen sich auf Mutz und Scheer: Pubertät und Adoleszenz, 1997.

[39] vgl. Remschmidt: Adoleszenz, 1992.

[40] Mühlbauer-Braun: Erwachsen werden, 1987, S. 94.

[41] Vgl. Ewert: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, S. 15.

[42] Diese Merkmale stützen sich auf Baa>

[43] Mühlbauer-Braun: Erwachsen werden, 1987, S. 95.

[44] Vgl. ebd., S. 112.

[45] Vgl. Remschmidt: Adoleszenz, 1992.

Die physiologischen Veränderungen umfassen die Gesamtheit an körperlicher Entwicklung mit dem Schwerpunkt auf sexueller Reifung, mit psychologisch meint Adoleszenz die Vorgänge, die die Auseinandersetzung mit den somatischen und soziologischen Veränderungen betreffen, und mit soziologisch den Vorgang, wie der Jugendliche lernt, sich mit der aktiven Beteiligung an

gesellschaftlichen Prozessen zu üben.

[46] Lange: Adoleszenzroman. In: Kinder- und Jugendliteratur, S. 5.

[47] Vgl. Oerter/Montada: Entwicklungspsychologie, 1987, S. 316 ff.

Ende der Leseprobe aus 101 Seiten

Details

Titel
Liebe und Sexualität als Darstellungsgegenstand im modernen Adoleszenzroman
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur)
Note
2
Autor
Jahr
2000
Seiten
101
Katalognummer
V176
ISBN (eBook)
9783638101295
Dateigröße
634 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Liebe, Sexualität, Adoleszenzroman, Kinder- und Jugendliteratur
Arbeit zitieren
Juliane Kipp (Autor:in), 2000, Liebe und Sexualität als Darstellungsgegenstand im modernen Adoleszenzroman, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176

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