Die zwischengeschlechtlichen Beziehungen im Werk Meinlohs von Sevelingen

„mich heizent sîne tugende, daz ich sol staeter minne pflegen“


Masterarbeit, 2014

88 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I/ Meinloh und seine Zeit
A/ Autorschaft im Mittelalter
B/ Diears litterariaals höfisches Medium
C/ Die Kunst derdiscussio

II/ Meinlohs Auffassung der „minne“
A/ Wen lieben?
B/ Die „minne“ und die Ehepraxis
C/ Die Rolle der Kirche

III/ Die „minne“ als gesellschaftliches Spiel
A/ Warum leiden?
B/ Moral und Sexualität
C/ Meinlohs Frauen und Männer.

Schluss

Bibliographie

Anhänge (1-6)

Zusätzlicher Anhang

Einleitung

Es wird durch die Heilige Schrift überliefert, dass es um Gottes guten Willen gewesen sei, dass Er den Menschen nach Seinem Bild geschaffen habe. Als aber der erste Mann sich in der Schöpfung befunden habe, habe er sich trotz der Gesellschaft der Tiere und Pflanzen einsam auf Erden gefühlt und sich einen Freund gewünscht, der ihn hätte besser verstehen können als die Tiere. Daher habe er die Gottheit darum gebeten, dass Er ihm diesen Freund schaffe. Und so, dem Genesisbericht nach (Gen 1-3), erblickte die erste Frau das Licht der Welt. Da aber Eva durch die verschwörerischen Ratschläge der argen Schlange die Sünde in den Garten Eden habe kommen lassen, seien Adam und Eva mit der Sterblichkeit bestraft worden und die Frau sei dem Mann unterworfen worden (Gen 3, 16: „ aber er soll dein Herr sein“), weil nicht Adam, sondern Eva als erste gesündigt und dadurch ihren Mann verraten habe. So sollte in den urjüdischen und urchristlichen Gemeinden gerechtfertigt werden, dass der Mann die Hauptrolle zu spielen und die Frau ihm untertänig zu dienen habe, weil Er es so wolle.

Seitdem der Kaiser Theodosios I. 380 das Christentum faktisch zur Staatsreligion erhoben und dadurch die alten heidnischen Religionen des Imperiums und hiermit ihre Darstellungen der zwischengeschlechtlichen Beziehungen verteufelt wurden, hatten sich dieses Bild des Verrats der Frau und die Vorstellung ihrer Unterwürfigkeit befestigt, bis zu den meist schon (arianisch-)christlichen Völkern, die das Imperium überfielen und von da an die Geschichte der westlichen Welt bestimmten. Da aber die Christen nicht immer den Wörtern der Bibel „treufest“ gefolgt haben und die christlich geprägte Gesellschaft sich nach und nach verweltlicht hat, konnte sich die Frau verhältnismäßig emanzipieren und sozusagen ihr eigener Mann werden. Heutzutage aber ist der weibliche Mensch noch nicht durch und durch gesellschaftlich betrachtet dem männlichen gleichgestellt und es herrschen immer noch Ungleichheiten, sowohl in Bezug auf die Gesetze, als auch in den Köpfen mancher Menschen des 21. Jahrhunderts. Die Geschichte der Beziehungen zwischen Mann und Frau ist überhaupt nicht als friedlich zu kennzeichnen. Es geht hier um Konflikt[1], und der dualistische Antagonismus zwischen den beiden Geschlechtern prägt immer noch die heutige „aufgeklärte“ Gesellschaft, ob man will oder nicht, wie er die Gesellschaft des Mittelalters, mit der sich diese Arbeit befasst, geprägt hat.

Es gilt demgemäß heutige Vorurteile für eine Weile zu vergessen, damit es möglich sei, auf ein angeblich „dunkles“ Zeitalter dermaßen einzugehen, dass das, wovon demnächst die Rede ist, nicht von heute geltenden Kriterien verdorben werden kann, damit sich diese Männer, diese Frauen, die vor langen Jahren her miteinander verkehrt haben, auf das Genaueste kennenlernen lassen. Hier wird eine Epoche behandelt, die als Schlüsselepoche bei der Literatur- und Kulturwissenschaft gilt. Viele Wissenschaftler sind auch der Meinung, es handele sich bei der Zeit um das Jahr 1200 um eine „Renaissance“[2].

Durchaus angebracht erweist sich also, die Problematik der Mann-Frau-Beziehungen, mit der sich die vorliegende Arbeit beschäftigt, um diesen Zeitpunkt zu verorten: Es geht hier darum, auf einen meist unbeachteten Teil der Geschichte jener Beziehungen einzugehen. Der französische Historiker Georges Duby (1919-1996), ein wichtiger Anhänger der Annales-Schule, die die französische Geschichtswissenschaft stark beeinflusst hat, hat in Bezug auf das französische Mittelalter einen beträchtlichen Teil seines Werkes jenem Thema gewidmet. Durch die Analyse geschichtlich-literarischer Materialien ist er zu der Meinung angelangt, dass die Männer des französischen Mittelalters, und eigentlich die jungen Männer, mit den Frauen dermaßen verkehrt haben sollen, dass diese Frauen ein angenehmes und stumpfsinniges Objekt dargestellt haben sollen, auf die diese Männerschaft das, was sie während ihrer Erziehung als Knappen und junge Hofleute erlernt haben, anwenden konnten. Die Frau wird hier als lebendiges Spielzeug wahrgenommen, von deren Gunst der sozial-höfische Erfolg des „Jünglingen“ abhänge[3]. Bei der Betrachtung solcher Schlussfolgerungen fällt eine Tatsache sofort auf: Hier hat man mit einer Ständegesellschaft zu tun, in der das soziale Leben von Repräsentation und Spiel stets bestimmt ist. Shakespeare (1564-1616), der als Hauptdramatiker des elisabethanischen Theaters als einer der Erben des geistlichen Theaters des Mittelalters zu betrachten ist, ist folgende berühmte Aufschrift zugeschrieben: „ totus mundus agit histrionem“ [Die ganze Welt handelt als Schauspieler][4]. Eigentlich handelt es sich hier um ein der vorliegenden Arbeit zeitgemäßigteres Zitat von dem Theologen und Bischof von Chartres Johannes von Salisbury (1115-1180). Dass durch diese Umschreibung eines Apophthegmas von Petronius Arbiter (14-66), dem Autor des Romans Satyricon, der Freund von Thomas Becket (1118-1180), Erzbischof von Canterbury, die Gesellschaft des 12. Jahrhunderts der Eitelkeit beschuldigt, ist nicht aus den Augen zu verlieren: Theatrum mundi, Der Welt Theater, also als eines der Gesichter jener Gesellschaft, mit der diese Arbeit sich beschäftigt.

Das Thema der Beziehungen zwischen Mann und Frau zu behandeln, setzt voraus, jene „Kultur“, in der sie leben, umfassend zu definieren, bedeutet auf sowohl literarisch, als auch auf kulturell und sprachlich geprägte Phänomene des Mittelalters einzugehen und im Rahmen der „Mediävistik“ zu arbeiten, aber nicht (wie oft gedacht) als bloßem Nebenfach der Germanistik, sondern als wissenschaftlicher „ Mittelalterkunde[5], als „Kultur“-Wissenschaft, als Einzeldisziplin in transdisziplinärer, ausdifferenzierter und ausdifferenzierender Zusammenarbeit zwecks der Entstehung eines möglichst realen und allumfassenden Bildes des Begriffs „Kultur“: eine Art mittelalterliches „Massenbild“ gemäß einer Gesellschaft der „Massenkultur“, in der wir zu leben angewiesen sind.

Damit jene Problematik erörtert wird, fehlt es nicht an Quellen: Die Zeit um 1200 war „schriftlich“ sehr produktiv. Da es aber leider nicht möglich ist, hier alle Lieder, volksprachige Epen, didaktische Texte, auf Latein geschriebene Literaturwerke, historische Urkunde und andere geistliche erbauende Texte zu bearbeiten, muss sich diese Arbeit auf eine bestimmte Anzahl an Werken bestimmter Gattung beschränken. Da es „ ohne die Liebe die Welt nicht die Welt wäre “, fällt zuerst ein, dass die Gattung des „Minnesangs“, der der Liebe gewidmet ist („ Minnesang ist Liebeslyrik “, erklärt einfach der Tübinger Mediävist Günther Schweikle[6] ), die besten Chancen gibt, um auf das Thema der Beziehungen zwischen Mann und Frau mit Sicherheit einzugehen: Denn was ist die Liebe als die zwischenmenschliche Beziehung schlechthin? In dieser Arbeit wird also dementsprechend geforscht, was eigentlich „Liebe“ ist, zumindest der Meinung des hier gewählten Minnesängers nach. Gewiss aber, dass ein Risiko damit eingegangen wird: Es stellt immer eine Gefahr dar, aus der Perspektive nur eines Mannes Schlussfolgerungen über Themata, die die ganze Menschlichkeit betreffen, zu ziehen. Folgendermaßen muss am Strengsten der damalige sozial-geschichtliche Kontext in Betracht gezogen werden, um die Auffassung des Autors, mit der diese Arbeit auseinandersetzt, genau zu verstehen.

Unter den zahlreichen Minnesängern, die man dank der schriftlich überlieferten Sammlungen heute noch kennen kann, stellt „ Her Meinlo von Sewelingen[7] (wie er in der Weingartner Liederhandschrift, der sog. B-Fassung, genannt wird), bzw. „ Her Milon von Sevelingen[8] (in der Großen Heidelberger Liederhandschrift, C-Fassung, oder noch häufig „Codex Manesse“ genannt) nicht den heute berühmtesten Minnesänger dar. Bei der Mediävistik aber werden seine Werke betrachtet als die einer „ Umbruchphase[9] im „deutschen“ Minnesang. Hochinteressant ist es also, sich mit den Minneliedern des Herrn Meinloh von Sevelingen auseinanderzusetzen, zumal diese Werke beispielhaft für den Übergang vom donauländischen (dem Der von Kürenberg z.B. angehört) zum rheinischen Minnesang (Friedrich von Hausens Schule u. a.) sind. Meinloh stellt dabei als Schwabe ein Zwischenglied zwischen dem Donauland alemannisch-bairischer Zunge und dem unweit von Frankreich liegenden Rheinland dar, zwischen Germania und Romania, zwischen traditionellen Werten und von aufkommenden romanischen Moden beeinflussten Tugenden: An der Schwelle zwischen zwei Welten ist meines Erachtens sicherer denn je, ein bisschen Wahrheit zu finden.

Als genaue Angaben über Meinlohs Herkunft kann nichts Sicheres vorgeführt werden: Urkundlich überliefert ist nur, dass ein gewisser „ ministeriali Meinolo de Sevelingen[10], Ministerial an einem Hof des schwäbischen Hochadels, dem der Grafen von Dillingen, einer Ortschaft an der Donau unweit von der Stadt Ulm, um 1250 existiert habe, der aber mit dem Minnesänger, von dem hier die Rede ist, nicht zu verwechseln sei. Es gehe dabei um einen Enkel des Minnesängers, dessen Ministerialitätszugehörikeit als Beweis für die seines Ahnen geführt werden könne[11].

Auch im Hinblick auf Meinlohs schriftliche Tätigkeit bestehen Zweifel: Es gibt zwei Überlieferungen für sein Œuvre, in denen aber Abweichungen bei bestimmten Strophen bestehen. In der Großen Heidelberger Handschrift werden 14 Strophen überliefert, während in der Weingartner Liederhandschrift nur 11 Strophen zu finden sind. Bei 13C und 14C, die in der B-Liederhandschrift bloß fehlen, handelt es sich eigentlich um die Doppelüberlieferung einer aus zwei Teilen bestehenden Strophe: Reinmar dem Alten ist sie auch in der C-Liederhandschrift zugeschrieben, während sie in der B-Liederhandschrift bei „Reinmar von Hagenau“ nicht steht. In Bezug auf die formale Gestaltung dieser beiden zusätzlichen Strophen käme eine Zuordnung ins Meinlohs Œuvre nicht in Frage, weil sie im Unterschied zu den anderen nach dem Muster der Stollen gebaut sind. Es ist auch zu bemerken, dass die Initialen dieser zwei Strophen rot gefärbt sind, während die übrigen blau sind. Es ist also zu vermuten, dass sie eine nebenstehende Einheit bilden könnten, wie die Mediävistin Katharina Boll behauptet[12], indem sie aber darauf hinweist, dass die Strophe 13C des Inhalts wegen den anderen Strophen Reinmars nicht gleichzuordnen sei. In Des Minnesangs Frühling [13] schrieb der Urmediävist Karl Lachmann (1793-1851) diese Strophen Meinloh von Sevelingen nicht zu, im Gegensatz zur Strophe 12C (Ich sah boten des summers), bei der es sich um ein in der B-Fassung versehentlich nicht eingetragenes Lied handeln kann: Sie hält im formalen Zusammenhang mit den übrigen, vorigen Strophen, die in paargereimten Langzeilen und der für den frühen Minnesang typischen Einstrophigkeit entsprechend gebaut sind, was auch Katharina Boll dazu veranlasst, Meinloh noch dem frühen Minnesang zuzuordnen, obwohl inhaltlich schon Züge des hohen Minnesangs entstehen: Meinloh ist ein Dichter der „ Umbruchphase “ von frühem Minnesang zu hohem Minnesang und dadurch lässt sich erklären, dass er sich sowohl bezüglich des Strophenbaus, als auch des Inhalts mittendurch befindet, wie der Philologe Rüdiger Schnell auch hervorhebt[14]. Andreas Hensel spricht sogar vom „ Spannungsverhältnis[15] innerhalb der jeweiligen Strophen, wobei verschiedene Liebeskonzeptionen bei dem frühen Minnesang zu finden seien, und Meinlohs Minnekonzept sei für den Rezeptionsprozess fremder literarisch-philosophischer Ideen besonders kennzeichnend: Und nicht nur dadurch, dass er dem romanischen Einfluss der troubadours - und trouvères -Lyrik einheimische Elemente hinzufüge und dadurch eine Art synkritischen Minnesang kreiere, sondern auch dadurch, dass er seine Minneauffassung sowohl unterhaltsam, als lehrhaft zu machen versuche, wie das Bestehen von Spruchstrophen neben Minneliedern beweise. Max Ittenbach[16] wirft hingegen Meinloh vor, dass die „ hölzernen Züge “ dessen Spruchstrophen mehr Argumentationslosigkeit, als rhetorische Begabung zeigen würden, was aber Marc Chinca[17] gemäß der Soziologielehre Bourdieus[18] (1930-2002) für ein damaliges soziallinguistisches Merkmal hält. Laut Chinca behauptet sich Meinloh durch seine Lieder als Sprachrohr seiner Gesellschaft, indem er dank seiner Kunst und seines Wissens („ knowledge“) eine Auffassung des Liebesdienstes, der Elemente des Frauendienstes der Trobadors und einheimische Begriffe zugleich integriere und verteidige, die als „orthodox“ gelten soll: Zu diesem Zweck entwickle er sozusagen eine „Rhetorik der Legitimierung“ seiner Auffassung, die sich gegen die „ merkaere“, gegen die „ heterodoxists “ richtet, und die zur Lehre zu erheben sei, weil sie sich als effizient offenbare. Folge Meinlohs Hörerschaft seiner „ doxa “, so könne der „ minne“ -Wunsch in Erfüllung gehen. Die Tatsache, dass Meinloh nicht alles in seinen Liedern gesagt hätte, sei dadurch zu erklären, dass es manche Dinge gegeben haben soll, die für die Hörerschaft „ self-evident “, selbstverständlich gewesen seien, was auch der Mediävist Jan-Dirk Müller[19] behauptet: Sie sollen zu einem „ habitus “, zu kollektivmäßigen Gewohnheiten (im Denken, Handeln, Fühlen und gesamten Auftreten jeder Teile des Kollektivs) gehört haben, die in der vorliegenden Arbeit möglichst genau definiert werden.

Wie auch Katharina Böll zu Recht weist, sind die Strophen in den beiden Handschriften nicht nach Strophenformen, sondern inhaltlich geordnet. Karl Lachmann hatte gemäß seiner textkritischen Methode in Des Minnesangs Frühling[20] eine andere Ordnung vorgeschlagen, in dieser Arbeit aber wird an der in den Handschriften vorgegebenen Ordnung gehalten, und zwar an derjenigen aus der C-Handschrift. Gearbeitet wird hier mit dem diplomatischen Abdruck der Lieder, wie sie in der neuesten angelegten Sammlung von Karsten[21] in Anlehnung an der C-Fassung[22] zu finden sind:

I: dô ich dich loben hôrte
II: vil schoene und biderbe
III: dir enbiutet sînen dienst
IV: swer werden wîben dienen sol
V: drîe tugende sint in dem lande
VI: es mac niht heizen minne
VII: ich lebe stolzeclîche
VIII: ich hân vernomen ein maere
IX: ich bin holt einer frowen
X: sô wê den merkaeren
XI: mir erwelten miniu ougen
XII: ich sach boten des sumers

In Bezug auf diesen Punkt gilt es zu debattieren: Manche Mediävisten wie Günther Schweikle[23] sind der Meinung, die Strophen bilden angesichts ihres Inhalts Kleinzyklen, andere wie Cordula Kropik[24] vertreten die Auffassung, der in den Handschriften gegebenen Ordnung nach lassen sich die Strophen wie eine kleine Geschichte lesen, die gedient haben konnte als unterhaltsame Vorrede eines heute noch nicht bestimmten oder verschwollenen, lehrhaften Liebestraktats, eines artis amantaris wie Ovidius‘ De Arte amandi, das zur Zeit Meinlohs neu rezipiert wurde, oder De amore von Andreas Capellanus[25], das vermutlich erst nach 1170 verfasst wurde. Nach Andreas Hensel und Maurice Sprague[26] ist also bedenklich, dass Meinloh dieses Werk je gelesen hat, während Rüdiger Schnell, Günther Schweikle und Franz Taiana[27] diese Tatsache beteuern. Dass Meinloh das Werk des Hofkaplans vom französischen König Philipp II. vielleicht nie gelesen hätte, ist nicht zu bezweifeln. Es war durchaus üblich, dass die Geschlechter Europas sich untereinander Bücher verliehen, aber sie haben es nie getan, ohne dagegen eine Entschädigung zu verlangen: Damals war ein Buch ebenso wertvoll wie ein Schatz aus Goldmünzen. Mithin dauerte ein solches Verfahren lange Zeit und erfolgte selten, und erfolgte für Meinloh sicher nicht, denn das Haus der Dillinger, dem er gedient haben müsste, war sehr klein gegenüber einem Königshof wie demjenigen Philipps II. Jedoch ist Andreas Traktat nicht in der vorliegenden Arbeit zu verachten: Ideen wie die Fernliebe („ amor de lonh“) oder die zahlreichen Tugenden der „ minne “, die dort vorgeführt werden, konnten einen Teil des damaligen „ habitus “ dargestellt haben und für Meinlohs Auffassung relevant gewesen sein, was bei Alfred Karnein auch Zustimmung erfährt[28]. Meiner Meinung nach ist es sogar empfehlenswerter, auf Andreas Buch einzugehen als auf Ovid, weil Andreas als Meinlohs Zeitgenosse Ideen entwickelt haben dürfe, die Meinloh höchstpersönlich erlebt haben konnte. Ovids Liebe gehört zur Antike, bleibt zwar vielleicht musterhaft, kann aber Meinlohs Realität nicht entsprechen, nur beeinflussen. Meinlohs Liebeauffassung kann aber nicht als eine bloße Neudarlegung der Liebe à la Ovid betrachtet werden. Es handelt sich hier nicht um renaissanceartige Rückkehr zur Antike, sondern um eigenes Denken über zeitgenössische Entwicklungen[29].

Soweit ich es weiß, hat es aber bisher noch keine grundlegende Studie gegeben, in der Meinlohs Liebeauffassung an seinem sozialkulturellen Kontext gemessen wird[30]. Er wird als Dichter der Übergangphase von frühem zu hohem Minnesang betrachtet, aber nicht als Mensch der „Renaissance“ des 12. Jahrhunderts, als Vermittler einer bestimmten doxa, die er hingabevoll vertritt, die die zwischenmenschlichen Beziehungen seinerzeit beeinflusst haben müsste.

Wie spiegeln sich aber folglich im Werk des schwäbischen Minnesängers Meinloh von Sevelingen die damaligen Beziehungen zwischen Mann und Frau wider?

Zunächst schickt es sich, sich mit der Gestalt „Meinloh“ zu befassen. Seine Liebeslehre wird verständlicher werden, soweit auf die Fragen bezüglich seiner Herkunft und seiner Tätigkeitszeit eine möglichst klare Antwort gegeben wird. Daher muss ein überzeugendes Bild des Kontextes der Entstehung von Meinlohs Minneliedern geliefert werden, um die außerliterarische Umwelt der Problematik dieser Arbeit zu betrachten. Dieser Teil besteht also darin, die gesellschaftliche Stelle von Meinloh als Dichter zu definieren.

In einem zweiten Schritt wird die Thematik der „ minne “ erörtert. Dieser Teil beschäftigt sich damit, die Gründe und Zwecke der Entstehung von „ minne “-Liedern hinsichtlich des sozialen Kontextes und der „ minne “-Darstellung Meinlohs zu schildern. Es gilt hier, auf die interhöfischen literarischen Einflüsse Acht zu nehmen, um eine eindeutige Einsicht von diesem Begriff zu erhalten. Es schickt sich dementsprechend, die Liebesziele Meinlohs „ minne “ zu identifizieren und dadurch seine Auffassung vom Begriff „ minne “ zu analysieren.

Abschließend werden die Rolle(n) der Frau und die des Mannes in Meinlohs Liedern genauer geschildert, um schließlich ein zusammenfassendes Bild der Beziehungen zwischen Mann und Frau liefern zu können.

I/ Meinloh und seine Zeit

A/ Autorschaft im Mittelalter

Wenn man Meinlohs Lieder zum ersten Mal liest, bemerkt man sofort die auffallende Anwesenheit eines „Ichs“. Außer bei den Strophen IV, V und VI, die als Lehrstrophen gelten[31], kommt immer ein Ich vor, das sich über seine Beziehung zu einem „Du“ äußert, was auch für die Strophen III und XII gilt, wo aber das Ich zu Gunsten eines „Er“ verschwindet. Das Ich ist allerdings nicht immer Stellvertreter eines Mannes, da es eigentlich auch drei Frauenstrophen gibt (VIII, X und XI), also Strophen, in denen eine Frau das Wort ergreift, um ihre Beziehung mit einem männlichen „Du“ in Wort zu fassen. Horst Brunner betrachtet die Ich-Rede, ob weiblich, ob männlich, als „ Sprechen eines Ichs über sein Verhältnis zu einem Gegenüber [zu einem Du] anderen Geschlechts, über seine Empfindungen und Erfahrungen.[32] Ein Ich als Vermittlungsinstanz, als Reflektorfigur der Individualität.

Wie eingangs gesagt, hat Cordula Kropik festgestellt, die Anordnung von Meinlohs Lieder sei auffallend genug, um zu verraten, dass Meinlohs Strophen auf etwas Anderem beruhen als nur der lyrischen Rede eines Ichs. Allerdings hat man hier mit Lyrik zu tun, und nicht mit Epik, also nicht mit Geschichtserzählungen, wie es auch Cordula Kropik hervorhebt: „ lyrische Rede erzählt keine Geschichten, sie ist vielmehr Ausdruck und Reflexion der subjektiven Erfahrung eines sprechenden Ichs.[33]

Das Problem besteht aber darin, dass das betreffende Ich, das in den Liedern vorkommt, stets anonym bleibt: Die Anonymität der vorkommenden personarum wird weitgehend beibehalten, weder Orts- noch Figurennamen werden genannt, Ich, Du und übrigens auch Er und Sie, sowie allgemeiner „swer“ (V, 1) bleiben kopflos, zumindest wenn man nur am Text hält, in dem diese Für-Wörter nur Stellvertreter bestimmter sozialer Funktionen in Meinlohs Aussage sind. Es geht hier um ein lyrisches Ich, eine creatio eines Autors, dessen Identität selbst nur durch Sammlungen, die Jahrhunderte nach seinem Tod entstanden, zu kennen ist. Der Germanist Volker Mertens ist übrigens folgender Meinung:

[...]


[1] Cf. Gen 3, 15: „ Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“

[2] Jean Gimpel: La révolution industrielle du Moyen Age. Paris: Editions du Seuil, 1975 // Franz Irsigler: Epoche - Sozialgeschichtlicher Abriss. In: Horst Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Band 1: Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Höfische und andere Literatur 750-1320. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 1988, S. 12-28 // Marie-Sophie Masse: Une, deux, trois… zéro Renaissance(s)? In: La Renaissance ? Des Renaissances ? (VIIIe-XVIe siècles). Avant-propos de Marie-Sophie Masse, introduction de Michel Paoli. Paris: Klincksieck, 2010, S. 10-22.

[3] Georges Duby: Mâle Moyen âge, de l'amour et autres essais. In: Georges Duby [et al.]: Histoire des femmes en Occident. II : Le Moyen Age. Paris: Plon, 1991.

[4] Er schrieb auch in seiner Komödie As You Like It aus dem Jahre 1623 (II, 7, V. 139-141): “All the world´s a stage, And all the men and women merely players; They have their exits and their entrances.”

[5] Heinz Sieburg: Literatur des Mittelalters. Berlin: Akademie Verlag, 2010, S. 20.

[6] Günter Schweikle: Minnesang in neuer Sicht. Stuttgart: Metzler, 1994, S. 11.

[7] Weingartner Handbuch, fol. 20-22.

[8] Codex Manesse, fol.120v - 122v.

[9] Andreas Hensel: Vom frühen Mi nnesang zur Lyrik der Hohen Minne. Studien zum Liebesbegriff und zur literarischen Konzeption der Autoren Kürenberger, Dietmar von Aist, Meinloh von Sevelingen, Burggraf von Rietenburg, Friedrich von Hausen und Rudolf von Fenis. Frankfurt am Main, Berlin, u.a., 1997 // Siehe auch folgenden wissenschaftlichen Kommentar zu Hensels Aussage: Kerstin Helmkamp: Rezension über Andreas Hensels „Studien zum Liebesbegriff“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr.120 (2001), S. 124-126.

[10] So nach Andreas Hensel, op. cit., S. 17.

[11] Cf. die ausführliche Vorstellung vom schwäbischen Historiker Hans Pörnbacher in: Schwäbische Literaturgeschichte. Weißenhorn: Konrad, 2002, S. 38 ff.

[12] Katharina Boll: Alsô redete ein vrowe schoene: Untersuchungen zu Konstitution und Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007, S. 179 ff.

[13] Karl Lachmann [et al.]: Des Minnesangs Frühling. Leipzig: Hirzel, 18884, S. 11-15.

[14] Rüdiger Schnell: Minnesang I: Die Anfänge des deutschen Minnesangs (ab ca. 1150/70). In: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena (GLMF); Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100-1300). Band 3: Lyrische Werke. Hrsg. von Volker Mertens und Anton Touber. Berlin, Boston: De Gruyter, 2012, S. 25-82.

[15] Hensel, op. cit., S. 245.

[16] Max Ittenbach: Minnesprüche Meinlohs von Sevelingen und Dietmars von Eist; Kreuzstrophe Friedrichs von Hausen. In: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung. Hrsg. von Hugo Moser. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972, S. 227-245.

[17] Mark Chinca: Knowledge and Practice in the Early German Love-Lyric. In: Forum for Modern Language Studies, Nr.3 (1997), S. 204-216.

[18] Chinca beruft sich weitgehend auf Pierre Bourdien: Outline of a Theory of Practice. R. Nice, transl. Volume 16. Cambridge: Cambridge University Press, 1977².

[19] Jan-Dirk Müller: Mediävistische Kulturwissenschaft. Berlin: De Gruyter, 2010.

[20] Cf. Lachmann, op. cit., Vorwort von Moritz Haupt.

[21] Ingrid Kasten: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Übersetzung von Margherita Kuhn. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag, 2005, S. 52-61.

[22] Codex Manesse, fol. 121r-122v.

[23] Cf. Schweikle, op. cit.

[24] Cordula Kropik: Überlegungen zu zyklischen Tendenzen bei Meinloh von Sevelingen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Nr.131 (2009), S. 252-276.

[25] Andreas Capellanus: De amore libri tres. Von der Liebe. Drei Bücher. Text nach der Ausgabe von E. Trojel. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Fritz Peter Knapp. Berlin: De Gruyter, 2006.

[26] Maurice Sprague: Manifestations of Love: De amore and the Middle High German Poetic Environment. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik, Nr.58 (2003), S. 93-122.

[27] Franz Taiana: Amor purus und die Minne. Freiburg (Schweiz): Universität-Verlag, 1977.

[28] Alfred Karnein: „ De amore“ in volkssprachlicher Literatur. Heidelberg: Winter-Verlag, 1985.

[29] Auf derartige Betrachtungen geht Marie-Sophie Masse, op. cit., ausführlicher ein als ich es hier machen werde.

[30] Allerdings gibt es noch eine amerikanische Studie über Meinloh von Karl Markgraf: Early German Minnesang and amour courtois : the lyric of Meinloh von Sevelingen. 1989, zu der ich aber keinen Zugang haben konnte.

[31] Horst Brunner: Früheste deutsche Lieddichtung. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Stuttgart: Reclam, 2005, S. 200.

[32] Brunner in Boll, op. cit., S. 79.

[33] Kropik, op. cit., S. 256.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Die zwischengeschlechtlichen Beziehungen im Werk Meinlohs von Sevelingen
Untertitel
„mich heizent sîne tugende, daz ich sol staeter minne pflegen“
Hochschule
Université de Picardie Jules Verne  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Frau Dr. Winter-Masse
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
88
Katalognummer
V306810
ISBN (eBook)
9783668046153
ISBN (Buch)
9783668046160
Dateigröße
3206 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Autor ist kein Muttersprachler
Schlagworte
Meinloh, Gender, Literatur, Mittelalter, Schwaben, Ulm, Sevelingen, minne, Liebe, Kirche, Kyburg, Konstanz, Dillingen, Gesellschaft, Mittelhochdeutsch, discussio, Ministerialen, Manesse, Weingartner, Bumke, Huizinga, Frauendienst, Duby, Pörnbacher, Minnesang, Capellanus, Lachmann, Chinca, Rössler, Helmkamp, Hensel, Ittenbach, Karnein, Kropik, Sprague, Taiana, Kasten, Schweikle, Rüdiger Schnell, schwäbisch, Augustinus, Bennewitz, Classen, Bibel, Gimpel, Frappier
Arbeit zitieren
Arnaud Duminil (Autor:in), 2014, Die zwischengeschlechtlichen Beziehungen im Werk Meinlohs von Sevelingen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/306810

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