Die Kunst, Geschichte zu schreiben - Peter Handke und die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre


Magisterarbeit, 2001

148 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I. TEIL: Im Rausch(en) der Medien

1. Einleitung: „Kritik ohne Krieg“ (J. Derrida)

2. Einerseits: Peter Handke im Krieg der Kritik

II. TEIL: Andererseits

3. Biographische Begründungen

4. Die antitotalitäre, offene Poetik Peter Handkes
4.1 Frühe Konfessionen: Wider eine „engagierte“ Literatur (Sartre), für die Autonomie einer sprachund erkenntniskritischen Literatur
4.2 Drei Bausteine einer Poetik des Peripheren als Essenz
4.2.1 Erster Baustein: Das „unschuldige Sehen“ des „poetischen Denkens“ im Gefolge von Kleists Über das Marionettentheater
4.2.2 Zweiter Baustein: Phänomenologische Beschreibung der Welt (Husserl), „Realisieren“ einer Schriftlandschaft (Die Lehre der Sainte-Victoire , 1980)
4.2.3 Dritter Baustein: Das Postulat einer „anderen Geschichte“, Überlegungen mit Nietzsche und Benjamin
4.3 Intertextualität als Erinnerungspraxis im Modus der „Wiederholung“
4.4 Den „Elfenbeinturm“ durchstreichen: Politische, gesellschaftskritische und ethische Implikationen im „Neuen Subjektivismus“ Handkes

5. Die Anwendung der Poetik im Werk: Das Slowenien-Epos Die Wiederholung (1986)

DREHPUNKT: Die „Fiktion des Faktischen“ (H. White), zur Geschichtsschreibung in Handkes „letztem Buch“ Noch einmal für Thukydides (1990/95)

III. TEIL: Peter Handke in Serbien: Kontinuitätslinien

Exkurs: Die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre

6. Historia als (Er-)Fahren: Drei Reiseerzählungen zu Serbien (1996/2000) als Gegen-Geschichten

7. Ankunft in der Postmoderne: Das Ende der Geschichte in

Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999)

8. Rückkehr an den Anfang: „Publikumsbeschimpfung“ – die (rebellische) Kritik Handkes an den Medien und der Interventionspolitik des Westens

SCHLUSS

9. Aporien: Die Wege Handkes als „Abwege“ (?)

10. Die Unabschließbarkeit denken

LITERATURVERZEICHNIS

I. TEIL: Im Rausch(en) der Medien

1. Einleitung: Kritik „ohne Krieg“ (J. Derrida)

Peter Handkes scheinbar eindeutige Parteinahme für Serbien, die sich in drei Reiseberichten, einem Theaterstück[1] und zahlreichen Interviews niederschlug, sorgte wie kein anderer Beitrag zu den Balkankriegen im letzten Jahrzehnt für erregte Debatten im europäischen Feuilleton. Die intellektuelle Öffentlichkeit befremdete die unorthodoxe Art der Darstellung der Reiseberichte, die zwischen medienkritischem Essay und phänomenologischer Erzählung von Land und Leuten in Serbien angesiedelt ist. Zudem stellte Handke eingefahrene Denkmuster zum Jugoslawienkonflikt auf den Kopf: Das gängige Täter-Opfer-Schema, das die Täter einseitig in den Reihen der Serben ortete, wurde von ihm umgedreht. Die harsche Medienkritik, schrill von Handke vorgetragen, der den westlichen Medien eine einseitige antiserbische Berichterstattung vorwarf, irritierte Journalisten und Schriftstellerkollegen gleichermaßen – sie schlugen erbittert zurück. Von Anfang an verließ die öffentliche Diskussion um Handke und seine Sicht der Dinge als Korrektiv zur allgemein verbreiteten Wahrheit die Bahn seriöser, um Aufklärung bemühter Aufarbeitung. Der bei aller Kritikwürdigkeit der angreifbaren Darstellung Handkes von ihm initiierte Denkanstoß, Bilder und Ansichten vom Krieg kritisch zu hinterfragen, wurde größtenteils nicht wahrgenommen. Im Gegenteil: Handke geriet in einen Krieg der Kritik, dessen Kreuzfeuer vor an den Autor persönlich gerichteten Invektiven nicht halt machte. Der monoton vorgetragene Vorwurf der „Serbophilie“, der unreflektiert als Schimpfwort, das keinen Widerspruch zuließ, eingesetzt wurde, nimmt sich noch harmlos aus. Thomas Deichmann faßt die affektbesetzten Reaktionen wie folgt zusammen: „Die Entgegnungen [...] waren von Rechtfertigungsdrang, Entrüstungen und zynischen Unterstellungen geprägt.

Handke erntete Reaktionen, die mitunter allein darauf abzielten, seine persönliche und schriftstellerische Integrität in Frage zu stellen.“[2] Die Ausgangsthese dieser Magisterarbeit ist, daß Handke dadurch systematisch vom rationalen, öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden sollte. Diese These wird in Punkt 2 plausibilisiert. Es handelt sich dabei um einen „sanften Totalitarismus“: „Sanft, weil er nicht von oben mit Gewalt und Kerker, sondern aus der Mitte kommt, mit Moral und Fürsorge für die Opfer.“[3] Das Eintreten Handkes diente dazu, das schriftstellerische Werk Handkes insgesamt ex post zu verurteilen. Die Arbeit, die von dem Grundsatz ausgeht, daß Handke kein zweiter T.S. Eliot ist, der faschistisches Denken befördert, und dessen Schriften deswegen nicht auf den Index gestellt werden müssen, will gerade das Werk Handkes erneut auf die Texte zu Jugoslawien hin lesen. Dabei steht die Betrachtung von Kontinuitätslinien im Vordergrund, die in Abhebung von den in den Medien getroffenen Schnellschüssen und Kurzschlüssen eine literaturwissenschaftlich fundierte Aufarbeitung garantieren soll. Die These ist, daß der von den Medien entfachte „Orkan“, dieses ohrenbetäubende Rauschen, das eine tabulose und unvoreingenommene Perspektive verhinderte, den Texten Handkes zu Jugoslawien nicht gerecht werden konnte. Um den „Geist“ der Kritik der Magisterarbeit vorzustellen, ist ein Exkurs über das, was Jacques Derrida Kritik „ohne Krieg“ in Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit seines Freundes Paul de Man genannt hat, notwendig.[4]

Das Bild vom undifferenzierten Rauschen der alles nivellierenden Medien ist nicht neu. Es wird bereits von Montherlant, den Paul de Man, der Begründer des Dekonstruktivismus in den USA, 1941 in einem Artikel in Le Soir zitiert, zur Charakterisierung der zu Indifferenz und Verantwortungslosigkeit neigenden Medien gebraucht: „Wenn ich die Zeitungen, die Zeitschriften von heute öffne, höre ich die Gleichgültigkeit der Zukunft auf ihnen brausen, so wie man das Rauschen hört, wenn man bestimmte Muscheln ans Ohr hält.“[5] Dabei stammt der Artikel des jungen Belgiers de Man, der nach dem Krieg in die USA emigrierte, aus einer

Reihe von erst nach dem Tod de Mans 1987 aufgetauchten Berichten, die, 1941 und 1942 unter deutscher Besatzung in belgischen Zeitungen publiziert, vordergründig antisemitischen und faschistischen Inhalts sind. Jacques Derrida, der mit de Man eng befreundet war, versucht bei aller Betroffenheit und persönlichen Verletzung die ihm zur Verfügung stehenden Texte de Mans dekonstruktivistisch aufzuarbeiten. Derridas Lektüre unter dem Titel „Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel“, der auf das Montherlant-Zitat anspielt, setzt bei den öffentlichen Stellungnahmen zu der Entdeckung der Artikel an: Für die Gegner de Mans und der Dekonstruktion insgesamt, aus der der Dekonstruktivismus entwickelt wurde, war sie ein willkommener Anlaß, einen generalisierenden Feldzug gegen die Dekonstruktion zu starten. Bei aller Differenz zur Causa Handke wurden dabei vergleichbare Mechanismen der „Kritik“ wirksam. Der Totalitarismusvorwurf an die Dekonstruktion wurde selbst im totalitären Gestus vorgetragen.[6] Ohne eine dezidierte Medienkritik zu entwerfen, die auf Grund ihrer Komplexität bewußt ausgespart wird, fragt Derrida vorab: „Wenn die Zeitungen die Pflicht zu informieren und das Recht zu interpretieren hätten, wäre es nicht besser gewesen, es mit Vorsicht, Gründlichkeit und Redlichkeit zu tun?“[7] Eben diese Charakteristika zeichnet die dekonstruktivistische Lektüre aus, die sich ihrer Verantwortung gegenüber dem, dem sie antwortet und über den sie ein Urteil fällt, bewußt stellt.[8] Dabei geht es Derrida, der jüdischen Glaubens ist, weder um eine Rechtfertigung noch eine Verharmlosung der Artikelinhalte. Um aber der totalitären Logik der Kritik in einer Kritik „ohne Krieg“ zu entkommen, entwirft er das binäre Modell des „einerseits...andererseits...“[9], um die Doppeldeutigkeit, die „Zwei-

schneidigkeit[10] vieler Aussagen de Mans erfassen zu können. Einerseits scheint de Man die offizielle Rhetorik der nazistischen Besatzungsmacht zu teilen, andererseits ist seine Rede

„fortwährend gespalten, zertrennt, in unaufhörliche Konflikte verwickelt“[11], die sich damit der Eindeutigkeit des nazistischen Diskurses entzieht. Dabei sind die beiden Pole dialektisch aufeinander bezogen und keine „monadischen Entitäten“[12]. Diese binäre Logik mit ihrer Negation des Anspruchs, die Wahrheit ans Tageslicht zu fördern, will gerade nicht die eine Seite gegen die andere ausspielen.[13] Wichtig für die Magisterarbeit ist die Denkfigur des

„einerseits...andererseits...“, die auf die Rezeption angewendet werden soll: einerseits die vorschnellen Verurteilungen der Medienkritik im Krieg, andererseits eine eingehende Lektüre einer Kritik ohne Krieg, die das Engagement Handkes im Diskursgeflecht von Biographie, Poetik und Werk zu ergründen versucht (Punkte 3 mit 5). Sie vermeidet dabei, moralisch Partei für oder gegen Handke zu ergreifen, um der von Derrida beschriebenen Totalität der Kritik, die nur eine Wahrheit akzeptiert, zu entgehen. Derrida formuliert am Ende zwei Regeln für eine Lektüre[14], die den „Mut“ hat, „der Ungerechtigkeit mit Gerechtigkeit zu antworten“[15] : zum einen „die Achtung für den anderen, das heißt seines Rechtes auf

Differenz“, die „Achtung des Rechts auf Irrtum, ja auf Verwirrung“ als „Achtung dessen, was in jedem Text heterogen bleibt“, und zum anderen das „Mögliche“ zu tun, „die Logik des [totalitären, faschistischen, nazistischen, rassistischen und antisemitischen] Diskurses [nicht] zu reproduzieren“[16].

Die Maximen der Dekonstruktion, wie sie von Derrida in Auseinandersetzung mit de Man expliziert wurden, als Merkposten aufzunehmen, legt die Kenntnis der Poetik Handkes, die offen und antitotalitär ausgerichtet ist, geradezu nahe. Der Schriftsteller ist mit ihr nie zu Ende, das Überdenken der Poetik, die von Publikation zu Publikation weitergeschrieben wird, ist konstitutiv für sein Werk. So schreibt Handke in den Phantasien der Wiederholung : „Die schärfste Kritik an etwas von mir Geschriebenen war jener Leser-Satz: ´... strahlt die Ruhe des

Angekommen-Seins aus ...´ (und der Satz war außerdem falsch).“[17] Daß Handke nicht auf

(s)einer Wahrheit als einziger Möglichkeit der Interpretation von Wirklichkeit besteht, ist den Texten zu Jugoslawien immer inhärent, wodurch sie die totalitäre Logik unterlaufen. Im ersten Reisebericht verdichtet Handke das in einem Satz: „Wohlgemerkt: hier geht es ganz und gar nicht um ein ´Ich klage an´. Es drängt mich nur nach Gerechtigkeit. Oder überhaupt bloß nach Bedenklichkeit, Zu-Bedenken-Geben.“ (WR, S.150) Inwieweit dies aber von Handke selbst zu idealistisch gedacht ist, muß ideologiekritisch hinterfragt werden. Die vielen (rhetorischen) Fragen, die in den Reiseberichten gestellt werden, unterstreichen deren interrogativen Charakter, der wiederum auf eine poetologische Prämisse Handkes zurückzuführen ist. Paradigmatisch dafür lautet der letzte Satz der Textsammlung Noch einmal für

Thukydides : „Mit Fragen enden.“[18]

Dieser prinzipiellen Offenheit, die Dekonstruktion und Poetik Handkes verbindet, wird in der genauen Lektüre des Werks Handkes Rechnung getragen. Diese bemüht sich zunächst in einer Bewegung der Rekonstruktion um die Entwirrung des schon genannten Rhizoms von Biographie, Poetik und Werk. Damit wird offen gelegt, daß die Beschäftigung mit Jugoslawien nicht von ungefähr kommt, sondern fest darin verankert ist. Es ist allgemein bekannt, daß Handkes Vorfahren mütterlicherseits aus Slowenien stammen. In der Literatur Handkes, der in Griffen (Kärnten), nahe der slowenischen Grenze, aufgewachsen ist, spielt diese Herkunft eine zentrale Rolle. Wesentliche Daten der Biographie Handkes werden in Punkt 3 zusammengetragen. Die antitotalitäre, offene Poetik Handkes wird dann im Anschluß nachgezeichnet (Punkt 4). In den siebziger und achtziger Jahren entwickelt Handke seine Poetik, die die Wahrnehmung der Natur und die Interdependenz zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem in den Mittelpunkt rückt. Handkes „Neuer Subjektivismus“ ist aber nicht ohne politische, gesellschaftskritische und ethische Implikationen, er fällt aus der gängigen Dichotomie von engagierter und autonomer Literatur, der sich schon das sprachund erkenntniskritische Frühwerk entzieht, heraus. Das phänomenologische Beschreiben der

Welt, das dann in den Reiseberichten zwischen 1996 und 2000 konsequent fortgesetzt wird, zielt auf die „Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr“[19]. Die Kunst sei vollendet, wenn sie „nicht das Vergehen in den Wechselfällen der Geschichte beklagt, sondern ein Sein im Frieden weitergibt“[20]. Das ist korreliert mit dem Vorsatz: „´Ich will es machen wie Raphael und keine Marterbilder mehr malen´ (allmählich kann ich sagen, daß ich Nietzsche- Leser bin).“[21] Diese an dem „sanften Gesetz“ Adalbert Stifters, Hermann Lenz und der

„réalisation“ Paul Cézannes orientierte „Ästhetik des Heils“ ist Handke treu geblieben. Noch in der Winterlichen Reise nimmt er explizit Bezug auf Lenz und Edmund Husserl, den Begründer der transzendentalen Phänomenologie. (Vgl. WR, S.77) Er ist damit nicht der Traditionslinie zuzuordnen, die im Angesicht des Krieges das Gegenteil, eine „Ästhetik des Schreckens“, entworfen hat. Der exemplarische Vertreter einer solchen Ästhetik im zwanzigsten Jahrhundert ist Ernst Jünger, der seine Fronterfahrung unter anderem in den

„Stahlgewittern“, in denen sich die Faszination für den Krieg wiederspiegelt, literarisiert.[22]

Der Krieg als Möglichkeit, der Langeweile der bürgerlichen Existenz zu entfliehen und in der physischen und psychischen Grenzsituation sich selbst zu verwirklichen, liegt außerhalb der Erfahrung Handkes. Dieser geht bewußt nicht an die Front, sondern reist ins Hinterland, um eine andere, vom Krieg noch unversehrte Wirklichkeit, die mit dem Potential für einen zukünftigen Frieden ausgestattet wird, zu erkunden. Nichts ist bei ihm zu spüren von dem, was der Schriftsteller Hans Christoph Buch über seine Motivation, regelmäßig Krisenherde und Schauplätze des Krieges zu bereisen, jüngst geschrieben hat: „Abenteuerlust gehört sicher dazu, aber Neugier ist das bessere Wort dafür: Neugier auf die condition humaine nach dem Ende des kalten Krieges – ich will wissen, wie die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben und woran sie sterben –, aber Neugier auch auf mich selbst. Indem ich mich in Extremsituationen begebe, will ich etwas für mich selbst erfahren.“[23]

Peter Handke „malt“ keine Schreckensbilder in der Art der Schrecken des Krieges , dieser berühmten Sammlung von 82 Radierungen, die Francisco de Goya vor dem Hintergrund des extrem brutal geführten Krieges zwischen Spanien und Frankreich von 1808 bis 1813 gezeichnet hat. Bei Handke werden sie durchgestrichen, aber seine Bilder des Heils haben stets den Schrecken als Gegensatz in sich aufgehoben. Das „Durchstreichen“ kann und will nicht die Faktizität des Krieges, die Verbrechen und das Leid der Opfer, verdecken. Der durch Spanien reisende Goya, der das Elend und die Gewalt miterlebt hat, wendet einen überhöhten Realismus an, um drastische Einblicke in die von den Menschen geschaffene Hölle zu gewähren. Seine Bilder brechen radikal mit der in der Malerei dieser Zeit üblichen Glorifizierung der Schlacht und der Heroisierung von Feldherr und Soldat. Der Schrecken in den Bildern, die den Opfern, gleich welcher Kriegspartei sie angehören, ein Gesicht verleihen, soll vor dem Krieg abschrecken.[24] Handkes „Friedensbemühung“ hingegen setzt damit an, festgefahrene Bilder über Opfer und Täter, die in ihrer Insistenz auch gewalttätig sind, zu hinterfragen. Es geht ihm darum, die Öffentlichkeit und insbesondere die Völker des Balkans

„aus ihrer gegenseitigen Bilderstarre“, die bis dato die Feindschaft und den Haß zwischen den Völkern zementiert hat, „zu erlösen“ (WR, S.76). Ob allerdings Handke diesem Anspruch gerecht wird, ist auf Grund der zunächst Abwehr evozierenden Rigorosität des Tons seiner Kritik, die bei flüchtiger Lektüre kein Angebot zur Versöhnung macht, fraglich.

Die oben skizzierte Poetik wird konsistent in dem Slowenien-Epos Die Wiederholung[25] angewendet. Der zwanzigjährige Protagonist, Filip Kobal, geht auf der Suche nach dem ein Vierteljahrhundert zuvor im Partisanenkrieg verschollenen Bruder nach Slowenien. Handke inauguriert im Roman einen dezidiert ästhetischen Reichsbegriff („Reich der Schrift“). Die Reisen nach Restjugoslawien, die Handke zehn Jahre später unternimmt, lesen sich zum Teil wie eine Iteration der Wiederholung . An die Stelle des Peripatetikers (Filip) ist der Empiriker (Handke) gerückt, der vor Ort Erkundungen, Erfahrungen[26], macht. Damit schließt sich das Geflecht von Biographie, Poetik und Werk. Mit der Frage nach der Poetik ist aber bei Handke auch immer die nach der Narrativität von Geschichten und in letzter Konsequenz von Geschichte gestellt. Wie in einem Brennspiegel fallen Geschichten und Geschichte in den Reiseerzählungen zu Jugoslawien dabei zusammen. Episodische Geschichten von Serbien, konzipiert als Gegengeschichten zur Medienberichterstattung, zu erzählen, impliziert für Handke die Hoffnung auf eine andere Geschichte. „[Und auf diese Weise] dachte ich, Sohn eines Deutschen [Handkes Stiefvater stammt aus Berlin, R.S.], ausscheren aus dieser Jahrhundertgeschichte, aus dieser Unheilskette, ausscheren zu einer anderen Geschichte.“

(WR, S.157) Diese Utopie, die sich aus dem Ideal des „großen widerständischen Jugoslawien“[27] Titos nährt, mußte natürlich Utopie bleiben. Desillusioniert läßt Handke 1999 in dem Theaterstück Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg den auftretenden Historiker konstatieren: „Es gibt keine Geschichte. Es hat sie nie gegeben. Was man Geschichte nennt, ist eine einzige Fälschung.“[28] Genau auf das Verhältnis von Geschichte und Geschichten spielt der Titel der Magisterarbeit „Die Kunst, Geschichte zu schreiben“ an. Geschichte ist dabei doppeldeutig zu verstehen: als Narration (Erzählung) und Historiographie (Geschichtsschreibung). Die Arbeit bezieht sich auf Hayden White, der gezeigt hat, daß jeder Geschichtsschreibung, mag sie auch den Anspruch erheben, objektiv die Vergangenheit darzustellen, ein Moment der Fiktion innewohnt – sie muß immer auf die tropisch strukturierte Sprache rekurrieren: „Tropische Rede ist der Schatten, vor dem jeder realistische Diskurs zu fliehen sucht. Diese Flucht ist jedoch vergeblich; denn die Tropen stellen den Prozeß dar, durch den jeder Diskurs die Gegenstände konstituiert , die er lediglich realistisch zu beschreiben und objektiv zu analysieren behauptet.“[29] Die aristotelische Scheidung von Historie, Dichtung und Philosophie wird hinfällig, das häufige Angebot, die Historie zwischen Kunst und Wissenschaft zu positionieren, wird als ein Scheinproblem gedeutet. White definiert eine historische Aussage nur dann als sinnvoll, „wenn sie den Empfängerkreis in einer Weise anspricht, daß die Andersartigkeit früherer oder fremder Erfahrungen in die eigene Erfahrung eingeholt werden kann“[30]. Für die „Geschichtsschreibung“ Handkes ist die Rezeption des antiken Historikers Thukydides zentral, wie der schon zitierte Band Noch einmal für Thuydides indiziert – Thukydides wollte gerade die Erfahrung der Vergangenheit für die Gegenwart fruchtbar machen. Reinhart Koselleck, der in seiner Theorie der Zeitschichten, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen denkt, das zyklische und das lineare Geschichtsmodell miteinander verbindet, geht von drei Arten der Geschichtsschreibung aus: dem Aufschreiben, Fortschreiben und Umschreiben von Geschichte. Letztere tritt mit dem Anspruch auf Originalität in bewußte Opposition zur bisher berichteten Geschichte, charakteristisch für sie ist der Rückgriff auf vermeintliche Primärerfahrungen, um Wahrheit und Irrtum zu sondern. Als Vertreter der Geschichtsumschreibung nennt Koselleck den von Handke rezipierten Thukydides: „Er bleibt der klassische Fall für das methodisch reflektierte Umschreiben bislang vorgegebener historischer Nachrichten, die seinen eigenen Erfahrungen nicht mehr standhielten.“[31] Analog dazu geht es Handke darum, wie oben angedeutet, die Geschichte der Jugoslawienkriege umzuschreiben. Handke selbst fährt vor Ort, um seine Geschichte(n) der offiziellen Geschichte, die von den Bildern der Medien „erzählt wird“, entgegenzusetzen. In Noch einmal für Thukydides wird dieses Programm als Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere[32], der aber scheitert, formuliert. In dieser Sammlung von Texten, die Reiseimpressionen festhalten – und sich dabei an der Poetik Handkes orientieren –, findet genau die Literarisierung der von White konstatierten „Fiktion des Faktischen“ statt: Der Diskurs der Erzählung (Narration) überkreuzt sich mit dem der Geschichte und deren Erzählbarkeit (Historiographie). Deswegen werden diese Texte, die bisher kaum Beachtung in der Handke-Forschung fanden, im Gliederungspunkt DREHPUNKT, der zwischen Biographie/Poetik/Werk und Handke in

Serbien die Verbindung herstellt, besonders berücksichtigt: Sie stellen einen Schlüssel dar, wie die „Geschichtsschreibung“ Handkes bezüglich Serbiens interpretiert werden kann.

Zum Abschluß der Einleitung soll noch ein kurzer Abriß des Forschungsstandes gegeben werden. Gleich vorweg: Das Thema Handke und Serbien harrt noch einer gründlichen Aufarbeitung, es stellt gewissermaßen einen fast „weißen Fleck“ in der Handke-Forschung dar, die sich bislang nicht an dieses „heiße Eisen“ gewagt hat. Bis auf wenige Aufsätze, die sich mit der Jugoslawien-Rezeption bei Handke befassen und erste Erkenntnisse formulieren, ist das Thema weitestgehend dem Feuilleton seit dem Jahr 1991, in dem Handkes Abschied des Träumers vom Neunten Land[33] erschien, überlassen worden. Herauszuheben sind im Gegenzug die aufschlußreichen Aufsätze von Ulrich Dronske und Armin A. Wallas.[34] Im 1999 publizierten Text+Kritik-Band zu Peter Handke sind zwei Beiträge zur Thematik, die aber über den Stand der Diskussion im Feuilleton kaum hinausgehen, enthalten.[35] Insbesondere bei den Universitätsschriften, Dissertationen und Habilitationen, die zu Handke im letzten Jahrzehnt entstanden sind, ist eine große Scheu, das Thema überhaupt anzuschneiden (!), zu verzeichnen. Bei Arbeiten, die sich unter anderem mit dem Engagementbegriff bei Handke befassen, ist es eigentlich unbefriedigend, wenn Handkes Eintreten gegen die Autonomie Sloweniens oder für Serbien nicht[36] oder nur ganz am Rand, im letzten Absatz etwa[37], erwähnt wird. Lange Arbeiten, dich sich kundig mit den Topoi Erinnerung und Gedächtnis bei Handke auseinandersetzen, überantworten durchweg die Positionen Handkes zu Ex-Jugoslawien, die doch von einer Trauer über mangelndes Geschichtsbewußtsein vieler für den Balkan zeugen, dem Vergessen.[38]

Soll dadurch der Schriftsteller Handke, dessen Werke bei aller Kritik zweifellos aus dem Kanon der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken sind, vor dem Essayisten Handke, der – so die Logik – unvernünftig und ideologisch verblendet seine Ansichten zu Jugoslawien äußert, geschützt werden? Von so einem „Manöver“ berichtet

André Müller, der mit Handke 1978 ein Interview führte, das aber auf Grund einer Präferierung rechter Gewalt gegenüber linker durch Handke[39] von keiner Zeitung angenommen wurde: „Das bemerkenswerteste Argument kam von der Wochenzeitung Die Zeit aus Hamburg, wo man mir sagte, man finde das zwar sehr interessant, fühle sich aber verpflichtet, einen so verehrten Dichter wie Handke vor sich selbst zu schützen. Mich erinnerte das an einen Satz im Vorwort einer gekürzten Ausgabe der ´Bekenntnisse´ von Jean- Jacques Rousseau, in dem diese Kürzungen, fast 200 Jahre nach dem Tod des Philosophen, folgendermaßen begründet werden: ´Es gilt also, die pathologischen Stellen zu reduzieren, um den ewigen Rousseau gleichsam vor sich selbst zu retten.´“[40] Die Zeiten, in denen man glaubte, diese Art von Zensur im Interesse Handkes anwenden zu müssen, sind vorbei – welche anderen, entgegengesetzten Mechanismen in der Causa Handke wirksam wurden, um den Schriftsteller zum Verstummen zu bringen, wird im Anschluß analysiert.

2. Einerseits: Peter Handke im Krieg der Kritik

Die Winterliche Reise , die auf ein so großes „Medienecho“ gestoßen ist, wurde zuerst unter dem Titel Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina – in der Buchausgabe wurde der Titel umgedreht[41] – in zwei Folgen, am 5./6. Januar und am 13./14. Januar 1996, in der Süddeutschen Zeitung publiziert. Die sicherlich naive Erwartung Handkes, man würde den Text als „eine Möglichkeit neben tausend anderen, als einen ganz notwendigen und vielleicht sogar fruchtbaren Zwischenruf“[42] lesen, verkehrte sich ins Gegenteil. Er löste eine hitzige Debatte im europäischen Feuilleton aus, die über Monate währen sollte und durch den Sommerlichen Nachtrag , der 1996 „nur“ im Suhrkamp- Verlag als eigenständige Publikation erschien, künstlich verlängert wurde. Dabei waren die sich zu Wort meldenden Stimmen fast durchweg negativ. Die von der Anzahl der Stellungnahmen her schnell unübersichtlich gewordene „Causa Handke“ ist mittlerweile in zwei Sämmelbänden[43], fein sortiert in Handke-Freunde und -Gegner, dokumentiert; der Fachdienst Germanistik hat neutral in zwei Aufsätzen[44] die wesentlichen Positionen zusammengetragen. Die Reiseerzählung Handkes Unter Tränen fragend im Kontext des Kosovo-Krieges, die zunächst als Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls am 5./6. Juni 1999 wiederum in der Süddeutschen veröffentlicht wurde, entfachte eine bedeutend kleinere Diskussion, die nurmehr reflexartig die Argumente und Haltungen von 1996 wiederholte.

Die Heftigkeit der ablehnenden Kritik ist gewiß auch zurückzuführen auf die Schärfe der unzweideutigen Medienkritik des „Publikumsbeschimpfers“ Peter Handke. Die Etikettierung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „zentrale(s) europäische(s) Serbenfreßblatt“ (WR, S.151) und „Organ einer stockfinsteren Sekte“ (WR, S.153) etwa war dafür provokant genug. Den Schriftsteller Peter Schneider, der öffentlich die „Sache Bosniens“ vertreten hat[45], bezichtigte er eines „mechanischen, feindund kriegsbildverknallten, mitläuferischen statt mauerspringerischen Schrieb(s) für das Eingreifen der Nato gegen die Bosno-Serben“ (WR, S.158), was nicht unbeantwortet blieb. Peter Schneider seinerseits charakterisierte die Qualität der Handkeschen Kritik als „nichts als Meinung: Insinuationen und Wutausbrüche“, „dies in einer beweisarmen, dafür adjektivseligen Sprache, die, das erlaube ich mir als Mitgemeinter hinzuzufügen, unter den sonstigen Gaben des Autors vor allem einen beachtlichen Killerinstinkt zur Entfaltung kommen läßt“[46]. Willi Winkler schrieb im Gegenzug zu Schneider, dem „Enzensberger für Arme“: „Weil ihm der Radikalenerlaß ein Lehramt verweigerte, behelligt einen Schneider seit bald drei Jahrzehnten mit seinem Meinungsterrorismus. Zu sagen hat er nichts, aber er muß ständig mitreden. So hat er es in zäher Arbeit zum Erregungsbeamten gebracht. Unser liebes Schweinesystem läßt eben keinen verkommen.“ Diesem würde er antworten: „Wo bitteschön hätte man in den letzten Jahren eine so gründliche Medienkritik gelesen wie in Handkes Serbien-Reportage? Wo sonst würde haarklein nachgewiesen, daß die edle Le Monde zwar auf Bebilderung verzichtet, die Schrecken aber im Text um so blutrünstiger ausmalt? Wer sonst hätte sich so philologisch gründlich mit der Entstehung und der Macht der Fernsehbilder aus diesem Krieg befaßt, wie es Handke tut?“[47] Die ausführliche Zitation dieses Ausschnitts der Kontroverse zeigt die

Unseriösität der hochgradig subjektiv geführten Auseinandersetzung, die Handke ausgelöst hat. Weder besteht die Medienkritik nur aus Meinung noch ist sie, was wissenschaftliche Standarts betrifft, eine gründliche Medienanalyse. Beide Seiten haben den Text vielfach nicht gründlich gelesen, sondern nur Stichworte gesucht, um ihre Meinung zu illustrieren. Wenn es jetzt darum geht, die Ausschlußpraktiken der Kritik im Krieg gegen Handke aufzuzeigen, soll damit nicht die eine Seite gegen die andere ausgespielt werden. Um der totalitären Logik zu entgehen, die nur eine Meinung zuläßt, wird in der Zusammenfassung der Magisterarbeit, die nach den Aporien des Engagements Handkes fragt (Punkt 9), versucht, die positive und negative Kritik zusammenzulesen.

Unstrittig ist, daß der „Ausbruch eines gemütvollen Reiseschriftstellers“[48] die Öffentlichkeit in erster Linie als politisches Phänomen beschäftigte. Die Winterliche Reise ist vollkommen „politisch unkorrekt“: Der plakative Konsens, der die Kriegsparteien säuberlich in Opfer und Täter, Menschen und Barbaren trennt, wird aufgebrochen. „Aber der Inhalt selbst der ausschweifendsten Anwürfe läßt sich letztlich mit einem schlichten Satz beantworten: Es gibt Dinge, die darf man eben nicht schreiben.“[49] Die Argumentationslinien dieses Denkund Meinungsverbots, das den Dichter zum Schweigen verurteilt, lassen sich bei aller Polyphonie, die im Grunde doch monoton ist, gut rekonstruieren. Erkenntnisse von Derrida und Michel Foucault, die die Mechanismen dieses von Deichmann und Reul so bezeichneten „sanften Totalitarismus“ verdeutlichen, liefern die Folie für die folgende Analyse der Strategien der Exklusion Handkes vom rationalen Diskurs.

Zur Erinnerung: In der Auseinandersetzung mit der Kritik an Paul de Man war es für Derrida leicht, „Axiome und Verhaltensformen zu erkennen, die die Logik bestätigen, von der man sich die Hände reinzuwaschen vorgibt: Läuterung, Säuberung, Totalisierung, Wiederaneignung, Homogenisierung, Objektivierung im Eiltempo, gutes Gewissen, Stereotypie und keine Lektüre, unmittelbare Politisierung und Entpolitisierung (beides geht immer Hand in Hand), unmittelbare Historisierung oder Enthistorisierung (damit verhält es sich wie eben), unmittelbare ideologisierende Moralisierung (die Immoralität selbst) aller Texte und aller Pro- bleme, Prozeß, Rechtsspruch, Verurteilung oder Freispruch im Eilverfahren, standrechtliche Hinrichtung oder Verklärung“[50]. Die Bücher de Mans zu zensieren und zu verbrennen, hieße

„die Gebärde der Ausrottung reproduzieren, der gegenüber man ihn beschuldigt“[51]. Auch der Prozeß, der Handke gemacht wurde, war von dieser totalitären Logik beherrscht, von diesem Entweder-Oder-Raster, der auf der einen Seite Handke vorschnell verurteilte. Eine Strategie der Damnation war die Konfrontation mit den Opfern Serbiens. Exemplarisch dafür ist der Aufsatz von Tilmann Zülch „Sprechen Sie endlich mit den Opfern ´Groß-Serbiens´, Herr Handke!“, in dem penibel die bosnischen Toten aufgelistet sind. Handke, der kontinuierlich der serbischen Propagandamaschine aufgesessen sei, wird zuletzt in eine lange Tradition im Europa des 20. Jahrhunderts, den Genozid zu leugnen, eingeordnet: „Viele deutsche und europäische Dichter haben die Massenvernichtungen des Nationalsozialismus und des Stalinismus tabuisiert, vertuscht oder ignoriert. Zu ihnen gehören Hamsun und Hauptmann, Brecht und Shaw. [...] Warum schlägt sich ein Dichter auf die Seite der Sieger in Belgrad und Pale und nicht auf die Seite der Opfer in Bosnien, gleich welcher Nationalität? Ein

Kriegsgewinnler auch er?“[52] Ein weiteres Beispiel, wie die Einordnung in solche Traditionslinien die Reiseberichte Handkes von vorn herein als sinnvolle Diskussionsgrundlage ausschließt, ist ein Aufsatz im Spiegel , dessen Autor nicht genannt ist. Zum einen wird die Winterliche Reise mit dem Kleinen Tagebuch einer deutschen Reise von Max Frisch verglichen. Das Tagebuch ist die Literarisierung einer Reise Frischs nach Deutschland im Frühjahr 1935, die dann in vier Teilen in der Neuen Züricher Zeitung veröffentlicht wurde. Der Spiegel führt aus: „Frisch wollte seine ´dankbare Liebe zum deutschen Land´ ungern erschüttern lassen, dessen Kultur er seine ´großen, lebensgestalteten Eindrücke´ der Jugend verdankte. Der Reisende ließ sich – darin ein Vorgänger Handkes – von der Landschaft betören und ´dem vielen Schönen´, das ihm Freunde zeigten, er ließ sich von seinem Verleger und einem Buchhändler beschwichtigen, die Deutschen zögen die stille Literatur der Propaganda vor.“[53] Zum anderen weist der Aufsatz darauf hin, daß es in den dreißiger Jahren unter europäischen Schriftstellern, von Lion Feuchtwanger bis Romain Rolland, auch Mode gewesen sei, „in die Sowjetunion zu fahren und sich per ´Augenschein´ (Handke) von den Errungenschaften des Kommunismus zu überzeugen [...].“[54] Besonders ausgeprägt findet sich der Faschismus-Vorwurf [55] in einer „Besprechung“ von Gustab Seibt in der von Handke so gescholtetenen FAZ : Handke habe „sich jetzt endgültig die Provinz des weltanschaulichen Schundes erobert. Aus ihm spricht ein Wahn von Krieg und Blut und Boden, der beunruhigend ist, weil er Methode hat.“[56] Die Kritik Seibts ist besonders infam, da sie glaubt, die vermeintlichen Irrungen und Wirrungen des Reiseberichts aus dem Gesamtwerk deduzieren zu können: „[Das Unheimliche der Handkeschen Äußerungen] beruht freilich weniger auf politischen Ansichten als auf ideologischen und poetologischen Affekten, die deutlich werden, wenn man den Reisebericht mit den Romanen und Essays verknüpft.“[57] In diesem Zusammenhang ist es ratsam, noch einmal auf Derrida zu verweisen, der sich von einer Lesart, die die Bücher de Mans nur negativ aus den gefundenen Artikeln ableitet, distanziert – von diesen „zwanghaften, alles durcheinander werfenden Praktiken“, die er als

„Verquickung, Kontinuitätsdenken, Analogismus, Teleologismus, übereilte Verabsolutierung, Reduzierung und Ableitung“ benennt.[58] Ihm schwebt eine andere, konträre Lektüre des Gesamtwerks de Mans vor, die von der Hoffnung bestimmt ist: Man werde wieder lernen,

das ganze Werk zu lesen [...]. Man wird lernen, die Bücher wieder zu lesen, und nochmals die Zeitungen und nochmals daraufhin , was sich darin öffnet[59]. Wenn die Einleitung der Magisterarbeit zum Ziel erklärt hat, Kontinuitätslinien aufzudecken, so war nicht die Praxis Seibts, die investigativ und denunziatorisch vorgeht, gemeint, sondern jene, die sich die Bücher Handkes im Sinne des Derridaschen „das Ganze lesen“ vornimmt. Die Lektüre des Werkes ist nicht von dem Projekt getragen, dieses als pathologische Hinführung zu den

„wahnhaften“ Reiseberichten abzufragen. Zurück zum Faschismus-Vorwurf: Er wurde schließlich sogar von dem Schweizer Schriftsteller Jürg Laederach als Begründung, nicht mehr bei Suhrkamp , der auch Handke verlegt, zu publizieren, angeführt. In einem Brief an den Suhrkamp -Chef Siegfried Unseld erklärte Laederach, Handkes Text falle zweifellos in die rechtsextreme Szene und erfülle zu 80 Prozent den Tatbestand der Volksverhetzung.[60] Thomas Deichmann und Sabine Reul kommentieren diese Methode des „sanften Totalitarismus“ folgendermaßen: „Er führt – das ist die Ironie – den Nationalsozialismus allzeit im Mund. Aber die Analogien mit dem braunen Terrorsystem, die heute bei der Diskussion unterschiedlichster Erscheinungen schon routinemäßig gezogen werden, haben keinen

Erkenntniswert. Sie sind nichts als ein Rückzug auf scheinbar unantastbare Kategorien. Wenn Handke mit Haider verglichen wird, völkisch-nationaler Gesinnung beschuldigt und ihm bedeutet wird, er sei implizit ein Lügner des Holocaust, kann man sich nur an den Kopf fassen. Wie absurd und rationaler Begründung unzugänglich ein Vorwurf ist, ist wohl inzwischen einerlei – unter Anrufung Hitlers kann heute jeder erzählen, was er will. Er ist nichts als eine Worthülse, mit der ein von Unterstellungen, Gesinnungsschnüffelei und unterschwelliger Kriminalisierung geprägtes Klima geschaffen wird, dem anscheinend selbst die

Literatur sich zu beugen hat.“[61] In die gleiche Kerbe schlägt der Schriftsteller Lothar Baier, der um die Freiheit des literarischen Wortes fürchtet. Nicht nach Belgrad zu fahren, sei eine ungeschriebene Übereinkunft, gegen die – so würden die Kritiker zu verstehen geben – niemand, auch nicht der bekannte Schriftsteller Peter Handke, ungestraft verstoßen dürfe. Diese Übereinkunft „wurde nirgendwo diskutierend beschlossen und von den Beteiligten abgezeichnet, sie gleicht einem ungeschriebenen atavistischen Codex, dessen Verletzung ohne weitere Aussprache mit Ausschluß aus der Gemeinschaft geahndet wird“[62]. Baier spricht von einem „einzigen Gesinnungsmonopol“ der deutschsprachigen Publizistik: „Links und rechts, liberal und konservativ, das ist quer durch die Reihen Jacke wie Hose, man kennt keine Parteien und unterschiedliche Färbungen mehr, sondern nur noch eine einzige, allseits befolgte Direktive, näher zu bezeichnen als political correctness.“[63] Joachim Schimmel schreibt analog dazu in der Stuttgarter Zeitung vom 25.1.1996: „Man muß nicht billigen, was man liest oder hört, doch man sollte sich, soweit es geht, darauf einlassen, bevor man das Urteil fällt. Eben daran gebricht es gegenwärtig, weil offenbar zu viele Überzeugungstäter am Werk sind.“[64] In der Einleitung wurde bereits angedeutet, daß Handke darum bemüht ist, die Geschichte umzuschreiben. Eng mit dem Faschismus-Vorwurf ist der des Geschichtsrevisionismus, der natürlich nicht ausblieb, verknüpft. Der sommerliche Nachtrag dokumentiere, so Michael Thumann in der Zeit vom 27.9.1996, „daß es ihm ernst ist mit der

Geschichtsverdrehung“ – sein Urteil wird, wieder einmal, mit einem Hinweis auf die Opfer als unantastbar sanktioniert: „Nach vier Jahren systematischer Vernichtung der Lebensgrundlage der Muslime in Ostslawonien darf auch ein stummer Zeuge nicht mehr so dumm herumorakeln. [...] Handkes Parteinahme für den serbischen Nationalismus ist nicht nur naiv. Sie ist im Wortsinne reaktionär.“[65] Marko Martin bezeichnet im Tagesspiegel (17.10.) den Nachtrag als „Sammelsurium allerlei reaktionärer Topoi“, der einen „widerwärtigen Geschichtsrevisionismus“ betreibe und nichts weiter als „eine Art serbischer Leuchter- Report“ sei.[66] Ob diese Urteile die Essenz der (allerst poetisch gemeinten) Geschichtsumschreibung Handkes wirklich treffen, wird von der Magisterarbeit zu erhellen sein.

Neben der Bezichtigung, Handkes Denken sei faschistisch und reaktionär ausgerichtet, gab es noch eine zweite wesentliche Methode, „die Gefahr Handke zu neutralisieren“, eine „Art psychoanalytische Deutung“[67], die aber zumeist recht oberflächlich ausfiel. Handke wurde vielfach nicht intellektuell, sondern persönlich angefeindet, ihm wurde schlichtweg der Verstand abgesprochen, was sich in der rhetorischen Frage des Spiegel vom 30.9.1996 „Noch dicht, der Dichter?“[68] exemplarisch verdichtet. Zum Verständnis dieser Strategie seien Überlegungen von Michel Foucault, der in die Die Ordnung des Diskurses die Ausschliessungspraktiken analysiert hat, herangezogen. Er geht dabei von der Prämisse aus, „daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“[69]. Als erste Praktik der Exklusion nennt er das Verbot, das in der Handke-Kontroverse bereits als ungeschriebene „Übereinkunft“ von Baier definiert worden ist: „Man weiß“, schreibt Foucault, „daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann. Tabu des Gegenstandes, Ritual der Umstände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts – das sind die drei Typen von Verboten, die sich überschneiden, verstärken oder ausgleichen und so einen komplexen Raster bilden, der sich ständig ändert.“[70] Daneben lokalisiert Foucault zwei weitere Ausschließungssysteme: den Willen zur Wahrheit und die Ausgrenzung des Wahnsinns – letztere stößt im Kontext der Causa Handke auf besonderes Interesse. Foucault denkt dabei an die „Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn“, eine „Grenzziehung“ und „Verwerfung“ mit langer europäischer Tradition: „Seit dem Mittelalter ist der Wahnsinnige derjenige, dessen Diskurs nicht ebenso zirkulieren kann wie der der anderen: sein Wort gilt für null und nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung.“[71] Ausgehend davon, könnte man formulieren: Indem Handke der Unvernunft bezichtigt wurde, wurden seine Einwendungen konsequent vom rationalen Diskurs, der ein Anrecht darauf hat, gehört zu werden, ausgeschlossen. Er war – um mit Foucault zu sprechen – nicht „ im Wahren“, weil er nicht „den Regeln einer diskursiven ´Polizei´ gehorcht(e), die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß“[72]. Einige Hinweise auf in Zeitungen öffentlich gemachten Aussagen sollen diese Überlegung stützen. Der Vorwurf, aus der Winterlichen Reise spreche nur das „Ich“ des Dichters, ist die harmlose Variante, die aber auch schon implizit den Narzißmus-Vorwurf in sich trägt. Dem Aufsatz „Bürger Handke, Serbenvolk“ von Dževad Karahasan ist ein Baudelaire-Zitat zur Charekterisierung des Reiseberichts als radikal subjektivistisch vorangestellt: „Der Hohepriester Hugo hält ständig die Stirn gebeugt, allzu gebeugt, um irgend etwas außer seinem Nabel zu sehen.“[73] Im Reisebericht als „Zeugnis Handkescher Nervenschwäche“ gebe es nur „das logorrhöische Ich, das redet und redet und redet“[74]. Wolfram Schütte sekundiert in der Frankfurter Rundschau : „Das gleichermaßen Faszinierende wie Deprimierende des Handke-Textes ist eine vollkommene Transparenz im Hinblick auf den Autor als empirische Person. Deren Streitund Winkelzüge treten einem unverhüllt als Motivationen, Strategien und Rhetoriken eines entlastungssüchtigen Subjekts entgegen.“[75] Ein besonders evidentes Beispiel findet sich noch bei Günter Kunert: „Der Autor [...] zieht aus seiner das Gehirn ersetzenden Gesäßtasche die Alibibehauptung, es handle sich um ein ´Friedenspapier´.“[76] Die Einschätzung, Handke sei der „narzißtische Friedensfürst aus der ´Niemandsbucht´“[77], ist seitdem häufig – auch bezogen auf andere Texte Handkes zu Jugoslawien – wiederholt worden. So kommt Iris Radisch in der Besprechung von Unter Tränen fragend , das Volker Isfort als proserbisches, „trotzund haßtriefendes Märchen“ und Fortsetzung der „ideologischen Irrfahrten des Peter Handke“ bezeichnet[78], zu dem Schluß: „Er ist der Dichter der sinnlichen Gewißheit, der sich weigert,

Vernunft anzunehmen.“[79] Oder, letztes Beispiel, Gert Gliewe identifiziert flugs den Irren in

Die Fahrt im Einbaum mit dem Autor selbst.[80]

Vielfach repitiert die tagesaktuelle Kritik damit einen Zweig der Handke-Forschung, die seit den achtziger Jahren den Versuch unternommen hat, die solipsistisch orientierten Werke Handkes, die sich einer identifizierenden Lektüre entziehen, psychoanalytisch aus psychischen, respektive psychotischen, Dispositionen ihres Verfassers zu deuten. Die zwei

Hauptarbeiten wurden von Tilmann Moser, der die autobiographische Erzählung Wunschloses Unglück als Krankengeschichte liest[81], und Manfred Durzak, der Handke als Narzißt

„outet“[82], geschrieben. Dieser Ansatz ist zum Teil von der übrigen Forschung aufgegriffen worden: So geht Norbert Mecklenburg in seiner Arbeit zum literarischen Heimatkomplex beim Wunschlosen Unglück , das das Leben der Mutter Maria Handke behandelt, die 1971 Selbstmord beging, von einem Scheitern der Aufarbeitung der problematischen Mutter-Sohn- Beziehung aus: Der auffällige Reflexionsausfall bezüglich der eigenen Person weise auf eine

„Verdrängung“ hin.[83] Immer wieder ist die „Unvernunft“ des Dichters ebenso im Zusammenhang der Poetik, die sich an der Romantik orientiert, als „romantische Unvernunft“[84] bezeichnet worden. Rolf Günter Renner bestätigt, daß in der Wissenschaft der achtziger Jahre, ganz abgesehen von der tagesaktuellen Kritik, die ursprünglich motivierte Kritik an der Privatheit und Selbstbezogenheit von Handkes Schreiben zum Vorwurf des Narzißmus, der sich oft moralisierend und manchmal naiv zugleich gegen den Autor selbst richtete, wurde.[85] Die Frage ist, ob eine derart positivistisch ausgerichtete Literaturwissenschaft Handkes komplexen Texten überhaupt beikommen konnte – denn sie traf auf ein Schreiben, „dessen theoretische Fundierung sich immer mehr dem schnellen Zugriff entzieht“[86]. Die Bücher des österreichischen Autors schienen „allzu weit entfernt von den Hauptströmungen des Gegenwartsdiskurses, der immer noch von den eng-realistischen und nonkonformistischen Konsenslinien der frühen Nachkriegszeit geprägt war“[87]. Auch die Reiseberichte zu Jugoslawien, so die Arbeitshypothese der Magisterarbeit, entziehen sich einer (vor-)schnellen Rezeption: Die Kategorien von links/rechts, demokratisch/faschistisch und liberal/totalitär, unter die sie rubriziert worden sind, treffen deren Kern nicht. Eine Überbewertung des Impakts der subjektiven Geschichte Handkes durch die Kritik, die sich in die Forschung zu diesen Texten zu verlängern scheint[88], greift zu kurz.

„[Also], das Ohr spitzen, ein Ohr, fein genug, um zwischen Atlantik und Pazifik anderes zu hören als das monotone Geräusch und den Lärm [im Original „rumeur“, was auch mit

„Gerücht“ übersetzt werden kann] der Wellen“[89], flüstert Derrida den Lesern und Kritikern nicht nur de Mans ins Ohr. Zuletzt erfährt Derrida von einer Zeitschrift französischer Widerstandskämpfer, die der Onkel de Mans, während der Besatzung unter anderem Minister, unterstützt haben soll.[90] Ihr Titel lautete Exercice du Silence : Einübung der Stille . Dem Brustton der Überzeugung, mit der die Kritik an Handke ihre Verdikte erließ, setzt der Schriftsteller – bei allem „Lärm“ seiner Medienschelte – sein Bewußtsein um die Schwierig- keit, den Krieg angemessen darzustellen, entgegen: „Aber ist es, zuletzt, nicht unverantwortlich, dachte ich dort an der Drina und denke es hier weiter, mit den kleinen Leiden in Serbien daherzukommen, dem bißchen Frieren dort, dem bißchen Einsamkeit, mit Nebensächlichkeiten wie Schneeflocken, Mützen, Butterrahmkäse, während jenseits der Grenze das große Leid herrscht, das von Sarajewo, von Tuzla, von Srebrenica, von Bihác, an dem gemessen die serbischen Wehwehchen nichts sind?“ (WR, S.158/159) Eine Frage, die das „Rauschen“ der Kritik einfach verschluckt hat.

Üben wir die Stille zwischen Mittelmeer und Nordsee ein: Mit Fragen beginnen ...

II. TEIL: Andererseits ...

3. Biographische Begründungen

Die erste „Frage“ gilt der Biographie Handkes, auf die sich der Schriftsteller wiederholt – auch als Begründung dafür, sich in die Diskussion um die Balkankriege eingebracht zu haben

– im Kontext seiner Reiseberichte bezieht. Dabei ist die Lebensgeschichte Handkes von ihm selbst schon in den Werken der siebziger und achtziger Jahre, sowohl autobiographisch fundiert als auch fiktional verschoben, thematisiert worden. So hat er im Wunschlosen Unglück seiner Mutter Maria Handke, die slowenische Vorfahren hat, ein Denkmal gesetzt, aber in diesem Text, der das Leben der Mutter im Hinblick auf ihren Selbstmord 1971 rekonstruiert, ist die slowenische Abstammung noch ein Randthema. Im poetologischen Haupttext Die Lehre der Sainte-Victoire , 1980 als zweiter Teil der Langsame Heimkehr - Tetralogie veröffentlicht, finden sich schon konkretere Einlassungen, die auf eine enge Verquickung von Poetik und Autobiographie bei Handke schließen lassen. In dem großen Roman Die Wiederholung (1986) verbindet Handke schließlich Autobiographie und Fiktion in den Figuren der Familie Kobal, die verschoben zur Wirklichkeit konstruiert ist: Der Großvater Handkes wird zum Vater des Protagonisten Filip, und einer der beiden Brüder von Maria Handke, Gregor, wird zum Bruder Filips. Weitere Texte könnten angeführt werden, in denen er sein faktisches Herkunftsmuster in ein fiktives Familienmodell transformiert.

Mitten im Krieg, am 6. Dezember 1942, wurde Peter Handke in Griffen in Unterkärnten geboren. Die Mutter Maria Handke war eine geborene Siutz – es existieren noch amtliche 'RNXPHQWH LQ GHQHQ GHU VORZHQLVFKH lDPH 6LYHþ VWHKW –, und Ehefrau des deutschen Unteroffiziers Adolf Bruno Handke, der noch während des Krieges nach Berlin, wohin ihm die Familie 1945 folgte, ging. Bis 1948 wuchs Handke in Berlin auf, ehe die Familie nach Griffen zurückkehrte. Adolf Bruno Handke war nur der Stiefvater, den die Mutter kurz vor der Geburt ihres Sohnes geheiratet hatte, um der Schande einer unehelichen Geburt zu entgehen – den richtigen Vater, einen deutschen Sparkassenangestellten, lernte Handke erst nach der Matura, dem österreichischen Abitur, kennen.[91] Dem Weltkrieg, dem „Angstgespenst der frühen

Kinderjahre“[92], „verdankt“ Handke seine ersten, immer noch traumatisch besetzten Erinnerungen, die im Werk häufig reflektiert werden. Die kleine Marktgemeinde Griffen mit rund 4000 Einwohnern wurde von den alliierten Bombern nicht verschont, und es wird berichtet, daß Tito-Partisanen die Gegend, der slowenischen Grenze nahe, durchstreift hätten.

Zudem ist es sicher, daß hier ansässige Slowenen in Konzentrationslager verschleppt wurden.[93] Bereits im ersten Roman Die Hornissen, in dem Handke seine Herkunftsgegend minutiös porträtiert, bildet ein Bombenangriff auf freiem Feld, der dem jugendlichen Helden das Augenlicht kostet, den heimlichen, in der Kritik oft überlesenen Angelpunkt.[94] Die Bomber, die sich durch ihr Motoren-Dröhnen „ankündigen“, lange bevor sie sichtbar sind, sind gerade als Hornissen, die den Tod bringen, biologisiert – das ist ein Motiv, das seitdem, losgelöst von dem Bild der Kampfflieger, den Einbruch des heillosen Schreckens leitmotivisch im Handkeschen Œuvre markiert. Noch 1996, in einem Gespräch mit dem Kriegsreporter Gabriel Grüner, vergleicht Handke das „Rauschen“ der Medien mit „Hornissen- Brummen“[95]. Und eine eindringliche Passage in Unter Tränen fragend schildert noch einmal das kindliche Entsetzen beim Bombenangriff (was sich dabei wie ein Palimpsest des Anfangs von Der kurze Brief zum langen Abschied liest, an dem der Ich-Erzähler bekennt, durch eben diese Erfahrung wie geboren für Entsetzen und Schrecken gewesen zu sein).[96] Implizit stellt Handke hier in grober historischer Verkürzung einen Zusammenhang zwischen den alliierten Angriffen im zweiten Weltkrieg und im Kosovo-Krieg her, um die Bombardements als Verletzung der Menschlichkeit moralisch zu verurteilen.

Handke hat aus seiner Provenienz aus der Provinz nie einen Hehl gemacht – aber die Darstellung der Provinz hat sich innerhalb der Werkgeschichte radikal gewandelt: Wird sie im Wunschlosen Unglück noch als katholisch, kleinbürgerlich und engstirnig beschrieben und damit verantwortlich für den Tod der Mutter, die zeitlebends von diesen Verhältnissen unterdrückt wurde, gemacht, erfährt sie ein Jahrzehnt später als Kindheitslandschaft ihre Stilisierung in Über die Dörfer (1981) und Mythisierung in der Wiederholung . Parallel dazu läßt sich ein Wandel in der Behandlung der slowenischen Herkunft beschreiben. Im Wunschlosen Unglück wird sie nur beiläufig erwähnt, im Zentrum steht dagegen die Geschichte der Vorfahren mütterlicherseits als „besitzlosen Knechtsgestalten“ (WU, S.13). Erst der Groß- vater, der sich als Zimmermann verdingte, gelangte durch die Heirat einer Bauerstochter, Handkes Großmutter, zu größerem Privateigentum und scherte somit aus der „Serie von Mittellosen und so auch Machtlosen“ (WU, S.14) aus. In die Lehre der Sainte-Victoire hat Handke die Herkunft präzisiert. Hier begründet er die Opposition von deutschem (Stief-)Vater und slowenischen Vorfahren der Mutterseite, die später entscheidend sein wird: „Mein Stiefvater ist aus Deutschland. [...] Alle Vorfahren meiner Mutter dagegen waren Slowenen. Mein Großvater hatte 1920 für den Anschluß des südösterreichischen Gebiets an das neugegründete Jugoslawien gestimmt und wurde dafür von den Deutschsprachigen mit dem Erschlagen bedroht. [...] – Meine Mutter spielte als Mädchen in einer slowenischen Laienspielgruppe. Sie war später immer stolz, die Sprache zu sprechen; ihr Slowenisch half auch uns allen, nach dem Krieg, in dem russisch besetzten Berlin. [...] – Auch meine Anfangssprache soll das Slowenisch gewesen sein. Der Friseur des Ortes hat mir später immer wieder erzählt, bei meinem ersten Haarschnitt hätte ich kein Wort Deutsch verstanden und einen slowenischen Dialog mit ihm geführt.“[97] Der geliebte Großvater, den Handke als Lehrer, der ihm die Liebe zur Natur vermittelt habe, stilisiert[98], wird zum Vorbild für sein Engagement für das einige Jugoslawien. Noch in der Winterlichen Reise erwähnt er den Umstand, daß der Großvater für Jugoslawien abstimmte, wobei Handke mutmaßt, der Großvater habe sich einfach einen König, den das erste Jugoslawien, eine konstitutionelle Monarchie, zu bieten hatte, gewünscht (vgl. WR, S.106). In Abschied des Träumers vom Neunten Land , in dem sich Handke von der Autonomie Sloweniens distanziert, spielt die slowenische Herkunft natürlich eine zentrale Rolle. Der Bruder der Mutter, mit dem sich Handke vielfältig identifiziert hat, wie aufgezeigt werden muß, wird gleich auf der zweiten Seite genannt: „[Und] meine Mutter sah sich, beeinflußt vor allem durch den ältesten Bruder, der, jenseits der Grenze, im jugoslawisch-slowenischen Maribor den Obstanbau studierte, in ihrer Mädchenzeit als eine aus jenem Volk [...].“[99] Dieser Bruder der Mutter, der im zweiten Weltkrieg in den Reihen der Hitler-Armee auf der Krim verschwand, wird neben dem Großvater zum zweiten Vorbild für Handke. In der Wiederholung wird er in der Rede der Mutter zum verschollenen Partisanen- Kämpfer, den der Protagonist 25 Jahre später in Slowenien sucht. Dabei ist dieser Onkel Handkes mit Namen Gregor, der offiziell sein Taufpate ist, das Künstler-Vorbild in der eigenen Genealogie: Der Onkel schrieb so schöne Feldpostbreife nach Hause, daß sie in der

Familie immer wieder gelesen wurden, auch von Handke selbst, als dieser in Graz Ius studierte. In einem Brief an die Mutter aus dieser Zeit berichtet der junge Handke von einem Traum, in dem er der Onkel im Krieg, der im Begriff ist zu desertieren, ist.[100] Auch was die schulische Sozialisation anbetrifft, geriet Handke in Kontakt mit dem Slowenischen. In der Grundschule lernte er – nur widerwillig – slowenisch, seine „Anfangssprache“, die er inzwischen vergessen hatte. Auf den beiden höheren Schulen, die Handke besuchte, dem Priesterseminar in Tanzenberg und dem Bundesgymnasium in Klagenfurt, spielte diese Sprache keine Rolle mehr. (In Klagenfurt indes maturierte ein Jahr vor Handke der spätere slowenische Dichter Gustav Januš, dessen Werke Handke zum Teil ins Deutsche übersetzte und auf den er die Laudatio anläßlich der Verleihung eines Literaturpreises 1984 hielt.[101]) In den ersten Kindheitsjahren war Handke, der im allgemeinen wie sein Großvater ein akzentfreies Deutsch spricht, das Slowenische sogar verhaßt, „dem Kind aus Berlin waren die slawischen Urlaute ein Greuel in den Ohren, es fuhr bei Gelegenheit sogar der eignen Mutter deswegen über den Mund, gerade ihr“ (AT, S.8). Aber: „Im Lauf der Jahre, vor allem wohl, indem ich Bilder erzählt bekam von den slowenischen Vorfahren, wurde das anders, wie es natürlich ist (oder natürlich sein sollte). Ein ´Slowene´ wurde ich jedoch nicht“, erinnert sich Handke (AT, S.8/9). Aus Interesse an den Vorfahren reiste Handke nach der Matura zum ersten Mal ganz allein nach Jugoslawien, was in der Wiederholung als Ausgangspunkt für die Reise des Helden, der unverkennbar das alter ego des jungen Handke ist, festgehalten ist:

„Während die anderen zusammen in den Bus nach Griechenland stiegen, spielte ich den Einzelgänger, der lieber für sich nach Jugoslawien wollte.“[102] Auf der Insel Krk wird Handke dann 1964 seinen Erstling Die Hornissen beginnen. In den folgenden Jahren zieht es ihn immer wieder in den Karst jenseits der Karawanken, der natürlichen Grenze zwischen Kärnten und Slowenien, das „Neunte Land“, das ihm zur „Geh-Heimat“ (AT, S.18) wird. Dort findet Handke jene Ursprünglichkeit und Unschuld der Dinge und Menschen, die er in

Österreich und Deutschland verloren wähnt. Nirgends habe er sich so zu Hause gefühlt wie dort (vgl. AT, S.9), und er unterstreicht: „Das Land Slowenien und die zwei Millionen Köpfe des slowenischen Volkes hingegen betrachte ich als eine der wenigen Sachen, welche bei mir zusammengehören, mit dem Beiwort ´mein´; Sache nicht meines Besitzes, sondern meines Lebens.“ (AT, S.7) Slowenien im Verbund mit Jugoslawien, das er 1987 im Rahmen einer Weltreise intensiv bereist – Eindrücke des noch unversehrten Jugoslawiens hat er in vier Prosaskizzen in Noch einmal für Thukydides festgehalten[103] – wird zunehmend zu einem Ort einer Mystifikation mit politischer und ästhetischer Dimension, eines „sich wechselseitige(n) Wiedererkennen(s) von stilisierten gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und geographischen Elementen des ehemaligen Jugoslawiens in sinnund identitätsversprechenden Erzählstrategien“[104]. Als Vorgriff auf nähere Ausführungen im Kontext von Poetik und Geschichtsschreibung sei zur ersten Orientierung vorausgeschickt: Die angesprochene Mystifikation ist ein Bewältigungsversuch, aus dem „Volk der Täter“, repräsentiert durch den

Stiefvater, der Angehöriger der Wehrmacht war (s.o.), auszubrechen, und sie ist gleichzeitig der Wunsch, sich wenigstens imaginativ mit Gegen-Völkern, neben den Juden und Indianern auch den Slowenen, die von der Geschichte „heimgesucht“ wurden, zu identifizieren. Sie ist der Versuch der Überwindung (deutscher) Herrschaftsund Gewalt-Geschichte. Die Möglichkeit der Identifikation für Handke ist die literarische Konstruktion von „Spiegel- Völkern“ – beispielsweise in der Wiederholung , in der er einen Mythos der Slowenen kreiert. Diese Völker, die als Beschreibung nicht-entfremdeter Lebensformen Modellcharakter gewinnen, sind jene, die sich scheinbar unbelastet von der Machtund Staatsgeschichte im Alltäglichen, in der Natur, in der Religion und nicht zuletzt der Schrift verwirklichen. Dabei ist ihnen, wie gesagt, der Opfer-Status gemeinsam: Die Juden sind die Opfer der Shoa, die Indianer die der Kolonisation und die Slowenen die deutschnationaler Assimilationsbestrebungen. Die Abwendung Handkes von Slowenien, das 1991 autonom wurde, ist damit zu erklären, daß die Slowenen dadurch in der Vorstellung des Schriftstellers von Opfern zu Tätern wurden; die Unabhängigkeit wird von ihm als Beginn einer Geschichte der Macht- Ausübung und Gewalt-Anwendung interpretiert, von der sich Handke im Abschied des Träumers vom Neunten Land distanziert: Slowenien ist nun eben nicht mehr das märchenhafte „Neunte Land“, in dem Dinge und Menschen noch „eigentlich“ sind.[105] Handke postuliert, das kleine Land gehöre „seit je zu dem großen Jugoslawien, das südlich der Karawanken begann und weit unten, zum Beispiel am Ohridsee bei den byzantinischen Kirchen und islamischen Moscheen vor Albanien oder in den makedonischen Ebenen vor Griechenland, endete“ (AT, S.13). Die Völker Jugoslawiens habe unter anderem „der gemeindschaftliche Kampf [...], auch der unterschiedlichen Parteien und der einander widersprechenden Weltanschauungen – ausgenommen fast nur die kroatischen Ustascha-Faschisten –, gegen das Großdeutschland“ (AT, S.14) verbunden. Das „zunehmende Wegdriften so vieler Slowenen von ihrem großen Jugoslawien“ hat Handke „lange als bloße Laune“ (AT, S.23) wahrgenommen: „Denn nichts, gar nichts, drängte bis dahin in der Geschichte des slowenischen Lands zu einem Staat- Werden.“ (AT, S.24) Diese eigensinnige Geschichtsinterpretation Handkes wird in der Auseinandersetzung mit seiner Kritik an den Medien und der Interventionspolitik des Westens (Punkt 8) kritisch aufgearbeitet. In der Winterlichen Reise spricht Handke retrospektiv, in der Beschreibung des inzwischen touristisch erschlossenen Sloweniens, das damit keine abgeschiedene „Geh-Heimat“ (s.o.) für den Autor der Wiederholung mehr sein kann (vgl. WR, S.134-139), von einem „Phantomschmerz“ über diesen persönlich erfahrenen Verlust (WR, S.139). Das „Programm“ Handkes, sich über seine slowenische Herkunft von der Geschichte der Väter, der nazistischen Täter, zu befreien, war mit der Autonomie Sloweniens zum Scheitern verurteilt. Slowenien selbst wurde zu einer solchen „Vater“-Figur. Eingedenk der Heraklit-Sentenz, der Krieg sei der Vater aller Dinge, und in Anspielung auf den 10-Tage- Krieg 1991, der Slowenien die Unabhängigkeit brachte, schließt Handke den Abschied - Aufsatz mit einer (von Handke erfundenen?) Erzählung eines Freundes, den er als „grauhaariges Kind Sloweniens“ beschreibt, um dessen politische Unschuld zu verbürgen:

„´In der ganzen bisherigen slowenischen Geschichte war stets nur die Mutter da. Unser Vater hat immer geschlafen. Innen im [heiligen] Berg [Nanos, R.S.], du weißt schon. Ist höchstens kurz aufgetaucht, wie ein Traumwandler, gestern hier, morgen dort, du weißt schon, König des Neunten Landes, und gleich wieder verschwunden. Jetzt ist der Vater aufgewacht.´“ (AT, S.31,32) Ab 1996 tritt an die Stelle des ehemaligen „Handkeschen“ Sloweniens Jugoslawien, noch repräsentiert durch Serbien, das die „andere“ anti-faschistische Geschichte aufrechtzuerhalten scheint. Und in einem Interview bekennt der Schriftsteller, der „König des verlorenen Neunten Landes“ (R.S.), konsequenterweise: „Hätte ich das Recht, mich Jugoslawe zu nennen – was ich nicht kann, weil ich österreichischer Staatsbürger bin –, würde ich mich im Bewußtsein, im Geist, im Verstand, in der Seele – auch in meinem Raummaß – gern als Jugoslawe bezeichnen lassen.“[106]

Der zweite Fragenkomplex zielt nun auf die eingehende Rekonstruktion der Entwicklung der antitotalitären, offenen Poetik Handkes mit ersten Hinweisen zu seiner Auffassung von Geschichte. Die Rekonstruktion erfährt dann ihre schlüssige Zusammenfassung im DREH- PUNKT, in der Analyse der „Geschichtsschreibung“ in Noch einmal für Thukydides , die als – vorläufiger – Endpunkt der Poetik aufgefaßt werden kann.

4. Die antitotalitäre, offene Poetik Peter Handkes

4.1 Frühe Konfessionen: Wider eine „engagierte“ Literatur (Sartre), für die Autonomie einer sprachund erkenntniskritischen Literatur

Das Eintreten Handkes für Jugoslawien ist in der Kontroverse und auch in dieser Arbeit als

„Engagement“ bezeichnet worden. Dabei hätte der Begriff, wie jetzt geschehen, immer in Anführungszeichen gesetzt werden müssen – als deutliches Signal dafür, daß zumindest Handkes Reiseberichte, zwischen politischem Pamphlet und zunächst unpolitischer Narration oszillierend, sich nicht auf diesen Begriff, von Jean-Paul Sartre für die Literatur als

„littérature engagée“ nach dem zweiten Weltkrieg etabliert, reduzieren lassen. Der Autor selbst hat sich gegen eine solche Einordnung gewehrt: Die Winterliche Reise sei „nur eine Reiseerzählung, verbunden mit Sprachkritik“[107], alles andere gehe über seine Kompetenz. Diese Aussage verwundert nicht, wenn man sich seine Auffassung, die Literatur sei etwas Drittes zwischen Engagement und Autonomie (vgl. 4.4), vergegenwärtigt. Diese ist bereits in den frühen Konfessionen Handkes gegen eine gesellschaftspolitische Relevanz von Literatur im Sinne Sartres, die vom „Neuen Realismus“ in der deutschsprachigen Literatur der sechziger Jahre aufgegriffen wurde, fundiert. Seine damalige Position, die im wesentlichen immer noch für sein Schreiben Bestand hat, hat er deutlich artikuliert, sie ist in einem 1972 publizierten Sammelband mit dem selbstironischen Titel Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms dokumentiert[108]. Die Einwände Handkes gegen den „Neuen Realismus“ und seinen von Sartre übernommen Appell, die Literatur müsse engagiert sein, liegen in seinem Postulat, die Literatur sei „romantisch“ (IBE, S.50), einfach als Gegenbegiff zu „realistisch“ gebraucht, begründet.

Die Kritik des jungen Handke richtet sich zuerst gegen einen einfachen Realismus-Begriff in Literatur und Kritik in Deutschland in den sechziger Jahren. Zum ersten Mal äußerte er diese ziemlich spektakulär auf einer Tagung der Gruppe 47 im us-amerikanischen Princeton 1966, was ihn, bis dahin unbekannt – sein Erstling Die Hornissen war gerade veröffentlicht worden –, über Nacht berühmt machte. Mit einem Aplomb betrat Handke die Bühne des literarischen Betriebs: In harscher Wortwahl griff der „nobody“ die vorgestellten Arbeiten renommierter Autoren und die vorgetragene Kritik etablierter Rezensenten und Wissenschaftler an. Der Auftritt, der nur auf Tonband überliefert ist[109], erfuhr in der Folge eine medienwirksame Legendenbildung, in der sein rebellischer Gestus weit mehr Beachtung als sein Inhalt fand. Handke konstatierte, „daß in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorliegt“, man suche „sein Heil in der bloßen Beschreibung“, es werde „überhaupt keine Reflexion mehr gemacht“. Das „komische“ Schlagwort des „Neuen Realismus“ werde „von allerlei Leuten ausgenützt, um doch noch irgendwie ins Gespräch zu kommen, obwohl sie keinerlei Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur haben“. Diese Literatur sei „eine völlig läppische und idiotische Literatur“, und die Kritik sei damit einverstanden, weil „die Kritik ebenso läppisch ist, wie diese läppische Literatur“. Zu fragen ist, ob Handke diesen Auftritt bewußt inszenierte, um sich bekannt zu machen, oder ob er eine spontan entflammte Kritik an den vorgelesenen Texten war. Der Biograph Haslinger nimmt Letzteres an: Er versucht, Handkes Kritik vor dem Hintergrund seiner „schriftstellerischen Sozialisation“ in der an der Sprachphilosophie Wittgensteins orientierten, sprachund erkenntniskritisch operierenden Autorengruppe des Grazer Forum Stadtpark , eng verbunden mit der Wiener Gruppe um H.C. Artmann und Oswald Wiener, zu lesen.[110] 1960 schaffte sich diese neue Richtung ihre eigene Zeitschrift, die manuskripte , das von Alfred Kolleritsch und Günter Waldorf in Graz herausgegebene, bedeutenste literarische Periodikum Österreichs nach 1945. Die maßgebenden Texte der Wiener Gruppe wurden hier publiziert, darunter auch der in der Retrospektive wirkmächtige Roman die verbesserung von mitteleuropa von Oswald Wiener, der kapitelweise zwischen 1965 und 1969 abgedruckt wurde – es ist bekannt, daß Handke Kolleritsch intensiv bei der Korrektur und Redaktion dieses Textes geholfen hat.[111] In einer Rundfunkrezension für Radio Graz vom August 1966

– die Tagung in Princeton war im April gewesen – stellt Handke die sprachtheoretischen Grundlagen und formalen Errungenschaften seiner Vorbilder, der Autoren der Wiener Gruppe , vor, insbesondere im Übergang von der dogmatischen Phase, in der das Sprachspiel dominierte, zu einem neuen Erzählen. Dieses neue Erzählen, das Handke in der Folge aufgreifen wird, beschreibt er an Hand der nicht namentlich erwähnten Texte von Konrad Bayer: „Er begann, wenn auch formal ironisiert, wieder Geschichten zu erzählen [...]: es entstand ein Widerspruch zwischen ironisiertem Geschichtenrhythmus und aufgehobener Geschichte. Bayer verwendete [...], von der unbekümmerten Fiktionswut des traditionellen

Geschichtenerzählers abgehend, Sätze aus vorhandenen Geschichten (Heimatromanen, Wildwestromanen), die er in mehreren Schichten ineinander montierte.“[112] Adolf Haslinger kommt zu dem Schluß, daß Handke in Princeton aus einem ganz bestimmten und deutlich erkennbaren Literaturverständnis heraus argumentiert habe, es sei ihm nur um Literatur gegangen, nicht um Publizität – was Handke bis heute unterstellt wird: Unter diesem Aspekt zieht Frauke Meyer-Gosau eine Parallele zwischen dieser „Publikumsbeschimpfung“ und den Invektiven im Kontext der Jugoslawien-Kriege (mehr dazu in Punkt 8).[113]

Das Literaturverständnis des frühen Handke ist in (zuvor in Zeitschriften und Zeitungen erschienen) Aufsätzen in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms niedergelegt. Hier hat er seine in Princeton vorgetragene Kritik am „Neuen Realismus“ und dessen Engagement- Begriff präzisiert. In mitunter polemischer Abgrenzung zu Zeitgenossen, insbesondere Sartre, entwickelt er sein Konzept einer sprachund erkenntniskritischen Literatur, die für sich in Orientierung an Adorno, dem Antipoden Sartres, Autonomie beanspruchen kann. Der Ansatzpunkt der Kritik ist die methodisch nicht reflektierte Verwendung der Sprache im „Neuen Realismus“: Denn dieser verkenne, „daß die Literatur mit der Sprache gemacht werde, und nicht mit den Dingen, die mit der Sprache beschrieben werden. In dieser neu aufkommenden Art von Literatur werden die Dinge beschrieben, ohne daß man über die Sprache nachdenkt [...]“ (IBE, S.29). Im Rückgriff auf Sartre, der die Sprache, mit der die Prosa geschrieben wird, mit Glas vergleicht, bemerkt Handke: „[Man] glaubt naiv, durch die Sprache auf die Gegenstände durchschauen zu können wie durch das sprichwörtliche Glas.“ (IBE, S.30) Dabei übersehe man aber die Manipulierbarkeit von Sprache, mit der die Dinge beschrieben werden. Handke stellt die Forderung auf, das „Glas der Sprache“ zu zerschlagen: „Anstatt so zu tun, als könnte man durch die Sprache schauen wie durch eine Fensterscheibe, sollte man die tückische Sprache selber durchschauen und, wenn man sie durchschaut hat, zeigen, wie viele Dinge mit der Sprache gedreht werden können.“ (Ebd.) In den seinerzeit für Furore sorgenden Sprechstücken, in der Publikumsbeschimpfung und im Kaspar (beide 1966), löste Handke selbst seine Forderung ein. Und die Medienkritik, die der Österreicher in bezug auf Jugoslawien ein Vierteljahrhundert später formuliert, ist auch als Sprachkritik zu verstehen, wenn er – betont pathetisch – in Unter Tränen fragend feststellt, das erste Opfer des Krieges sei die Sprache (UT, S.23). Die Einwände Handkes erstrecken sich ebenso auf die (feuilletonistische) Literaturkritik, die in der Gruppe 47 allererst durch Marcel Reich-Ranicki mit seinem dogmatischen Literaturverständnis repräsentiert ist. In Princeton habe diese Kritik mit ihrem überholten Instrumentarium das Engagement eines Text unzulänglich nach seinem Inhalt und nicht nach seiner Methode, die Vergangenheit oder Gegenwart darzustellen, bemessen. Ihr sei dabei entgangen, daß die faschistische Vergangenheit vom „engagierten“ Realismus, der sich zumeist darauf beschränke, einfach den Ort „Auschwitz“ zu erwähnen, nicht bewältigt werden könne: „[Den Ort A.] bedenkenlos in jede Waldund Wiesengeschichte einzuflechten, in einem unzureichenden Stil, mit untauglichen Mitteln, mit gedankenloser Sprache, das ist unmoralisch. Die Reaktion treibt dann zu dem bekannten Ausspruch, man solle doch endlich aufhören, von Auschwitz ... und so weiter.“ (IBE, S.34) (Wie noch gezeigt wird, darf das aber nicht vorschnell als mangelndes Geschichtsbewußtsein und Verdrängungswunsch identifiziert werden.) Handke wendet sich gegen eine Literaturkritik, die formalistische Methoden beim Schreiben nicht gelten läßt und stets auf private Probleme des Schriftstellers zurückführt – mithin also gegen die Forderung nach einem „realistischen“ Wirklichkeitsbezug der Literatur, die bei Reich-Ranicki etwa mit den Kritikschablonen

„Natürlichkeit“, Durchsichtigkeit“ und „Klarheit“ besetzt ist. (vgl. IBE, S.203-207) Diese „normative Literaturauffassung“ bezeichne jene, die sich gegen diesen Forderung wehren und nach anderen Methoden der Weltdarstellung suchen, als „Formalisten“, „Ästheten“ und „Bewohner des Elfenbeinturms“. Handke, der die Suche nach neuen, noch unverbrauchten Methoden zu seinem künstlerischen Credo erhebt, wolle sich somit gerne „Bewohner des Elfenbeinturms“ – von ihm damit vom Schimpfwort zur Auszeichnung promoviert – nennen lassen.

[...]


[1] Handke, Peter: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996). In: Ders.: Abschied, Reise, Nachtrag. Frankfurt/Main 1998. S.33-161. Fortan im laufenden Text als WR zitiert. Handke, Peter: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996). In: Ders.: Abschied, Reise, Nachtrag. Frankfurt/Main 1998. S.163-250. Fortan im laufenden Text als SN zitiert. Handke, Peter: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen zu zwei Jugoslawiendurchquerungen im Krieg, März und April 1999 . Frankfurt/Main 2000. Fortan im laufenden Text als UT zitiert. Handke, Peter: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg. Frankfurt/Main 1999.

[2] Deichmann, Thomas: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/ Main 1999. S.9-15. S.9. Der Titel des Sammelbandes „Noch einmal für Jugoslawien“ ist identisch mit einem 1992 zuerst publizierten Aufsatz Handkes, abgedruckt in: Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/Main 1992. S.33,34. Unter dem ursprünglichen Titel „Geschichte der Kopfbedeckungen in Skopje“ wurde er 1995 in den (erweiterten) Prosaband „Noch einmal für Thukydides“ aufgenommen (Handke, Peter: Noch einmal für Thukydides (1995). München 1997. S.36-39).

[3] Deichmann, Thomas/Sabine Reul: Der „sanfte Totalitarismus“. Die Handke-Debatte: Wozu noch Literatur? (Novo Mai/Juni 1996). In: Deichmann, Noch einmal für Jugoslawien (wie Anmerk.2), S.180-186. S.184.

[4] Ich beziehe mich im folgenden auf: Derrida, Jacques: Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel ... Paul de Mans Krieg. Mémoires II. Wien 1988. Fortan zitiert als: Derrida, Meeresrauschen. Eine pointierte Zusammenfassung dieses Textes findet sich bei: Engelmann, Peter: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1990. S.5-32. S.26-28.

[5] Zit. n. Derrida, Meeresrauschen, S.12.

[6] Näheres dazu in der Strukturierung der Kritik an Handke in Punkt 2.

[7] Derrida, Meeresrauschen, S.13.

[8] Nach Derrida impliziert die Auseinandersetzung mit dem Text eines anderen, die er als Antworten bezeichnet, eine Verantwortung. Der Antwortende muß die Antwort, das Urteil, vor sich, der Gegenwart und dem Beurteilten guten Gewissens verantworten können. Vgl. hierzu Derrida, Meeresrauschen, S.14-20.

[9] Derrida, Meeresrauschen, S.36.

[10] Derrida, Meeresrauschen, S.38.

[11] Ebenda.

[12] Derrida, Meeresrauschen, S.79.

[13] Die Dekonstruktion als Gegenmodell zur traditionellen Hermeneutik ist untrennbar verknüpft mit dem Begriff der „différance“, die den Sinn eines Textes immer in einem Aufschub, in einem Spiel der Signifikanten, das nie fixiert werden kann, sieht. Die hieraus sich ergebende Praxis der Textlektüre, angewendet auf den Fall Handke, soll abschließend in Punkt 10 der Magisterarbeit erörtert werden. Vgl. zur antitotalitären Ausrichtung der Dekonstruktion Engelmann, Einleitung (wie Anmerk.4). S.20-31. In „Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel“ definiert Derrida ungewohnt eindeutig die (politische) Aufgabe der Dekonstruktion damit, die Bedingungen des Totalitarismus in all seinen Formen, die sich nicht immer auf Regimenamen beschränken ließen (!), zu analysieren, um sich von diesen so weit wie möglich zu befreien (vgl. S.109).

[14] Unter Lektüre versteht Derrida „de Man zu lesen und wiederzulesen, ohne nichts von den (allgemeinen und besonderen, theoretischen und veranschaulichenden) Fragen des Kontextes zu vereinfachen“ (Derrida, Meeresrauschen, S.103). An anderer Stelle (S.112) appelliert er: „Man muß das Ganze lesen.“ Genau das versucht die Magisterarbeit, indem sie Texte Handkes, die bisher in der Debatte nicht berücksichtigt wurden, verstärkt heranzieht, ohne eine dekonstruktivistische Lektüre im speziellen zu verfolgen.

[15] Derrida, Meeresrauschen, S.64.

[16] Derrida, Meeresrauschen, S.103/104.

[17] Handke, Peter: Phantasien der Wiederholung (1983). Frankfurt/Main 1996.

[18] Handke, Peter: Epopöe vom Verschwinden der Wege oder eine andere Lehre der Sainte-Victoire. In: Ders.: Noch einmal für Thukydides (1995). München 1997. S.103-110. S.110.

[19] Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire (1980). Frankfurt/Main 1984. S.66.

[20] Handke, Lehre (wie Anmerk.19), S18.

[21] Handke, Phantasien der Wiederholung (wie Anmerk.17), S.8.

[22] Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Stuttgart 1978.

[23] Buch, Hans Christoph: „Der lag so mühelos am Rande des Weges.“Stell dir vor es ist Krieg, und du gehst hin! Ein Schriftsteller als Beobachter auf den Schlachtfeldern und Berichterstatter von den Krisenherden der Welt. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen. November 2000. S.76-84.

[24] Zu den Schrecken des Krieges vgl. Held, Jutta: Francisco de Goya. Hamburg 1980. S.89-100. Schickel, Richard: Goya und seine Zeit. 1746-1828. Amsterdam 1975. 145-165.

[25] Handke, Peter: Die Wiederholung (1986). Frankfurt/Main 1999. Diese Anwendung wird in 5 erhellt.

[26] Im Griechischen bedeutet „Historia“ „Erfahrung“: Man geht von einem Ort zum anderen, um etwas zu erfahren, aber erst durch den Bericht über die Reise entsteht die Historie als Wissenschaft, die per definitionem die Erfahrungswissenschaft schlechthin ist. Vgl. hierzu Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt/Main 2000. S.21.

[27] Handke, Peter: Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991). In: Ders.: Abschied, Reise, Nachtrag. Frankfurt/Main 1998. S.5-32. S.14.

[28] Handke, Fahrt im Einbaum (wie Anmerk.1), S.41. Die Anknüpfungspunkte zur Postmoderne, die analog dazu das Ende der Geschichte konstatiert, werden in Punkt 7 erörtert.

[29] Vgl. Hayden, White: Auch Clio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Einf. v. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1996 (= Sprache und Geschichte, Bd.10). S.8.

[30] Koselleck: Einleitung. In: White, Fiktion des Faktischen (wie Anmerk.29). S.1-6. S.3.

[31] Koselleck, Zeitschichten (wie Anmerk.26), S.56. Zu den drei Arten der Historiographie vgl. S.41-67.

[32] Handke, Peter: Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere. In: Ders., Noch einmal für Thukydides (wie Anmerk.18), S.85-91. Zu den Gründen des Scheiterens mehr im Gliederungspunkt DREH- PUNKT dieser Arbeit.

[33] Handke, Abschied des Träumers (wie Anmerk.27). In diesem Essay artikuliert Handke seine Kritik an der Autonomie Sloweniens, die in vielen Punkten seine spätere Position im Jugoslawienkonflikt vorwegnimmt.

[34] Dronske, Ulrich: Das Jugoslawienbild in den Texten Peter Handkes. Politische und ästhetische Dimension einer Mystifikation. In: Zagreber Germanistische Beiträge. H.6, 1997. S.69-81. Wallas, Armin A.: Spiegel-Völker. Das Bild der Juden, Indianer und Slowenen als utopische Chiffre im Werk Peter Handkes. In: Acta Neophilologica, Lublijana. H.26, 1993. S.63-78. Auch noch zu erwähnen sind: Bluhm, Lothar: „Schon lange ... hatte ich vorgehabt, nach Serbien zu fahren.“ Peter Handkes Reisebücher oder: Möglichkeiten und Grenzen künstlerischer „Augenzeugenschaft“. In: Wirkendes Wort. H.1, 1998. S.68-90. Lengauer, Hubert: Pitting Narration against Image. Peter Handke`s Literary Protest against the Staging of Reality by the Media. In: Williams, Arthur u.a. (Hrsg.): Whose story? – Continuities in Contemporary Germanlanguage Literature. Bern, Frankfurt/Main 1998. S.353-370.

[35] Meyer-Gosau, Frauke: Kinderland ist abgebrannt. Vom Krieg der Bilder in Peter Handkes Schriften zum jugoslawischen Krieg. In: Peter Handke. München 1999 (= Text+Kritik, H.24, 6.Aufl.: Neufassung). S.3-20. Wagner, Richard: „An diesem wie weltfernsten Ort“. Zu Peter Handkes Serbien-Betrachtungen. In: Ebenda. S.21-27.

[36] Thomas Hennig, dessen Dissertation zu Peter Handkes „Ästhetik nach Auschwitz“ 1994 angenommen wurde, behandelt die damals hinlänglich bekannte Slowenien-Rezeption Handkes nicht: Hennig, Thomas: Intertextualität als ethische Dimension. Peter Handkes „Ästhetik nach Auschwitz“. Würzburg 1996 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Bd.180). Zugl. Tübingen, Univ., Diss., 1994. Die Habilitationssschrift von Otto Lorenz vermeidet eine Thematiserung, indem sie – 1998 publiziert! – 1990 als Grenze für die Rezeptionsgeschichte, die sie behandelt, setzt. Die Literatur Handkes zu Jugoslawien ist zwar in der Bibliographie aufgeführt, wird aber in den Ausführungen zu Handke nicht erwähnt: Lorenz, Otto: Vorstöße des rebellischen Phänotyps: Peter Handke. Popkultureller Konventionsbruch als poetisches Prinzip. In: Ders.: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrategien. Tübingen 1998 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 66). S.161-233.

[37],Q GHU 'LVVHUWDWLRQVVFKULIW YRQ 'DQLHOD 'XMPLü ZLUG Gerechtigkeit für Serbien im letzten Abschnitt erwähnt, und die Autorin hält nur lakonisch fest: „Für Peter Handke [...] scheint es immer wichtiger zu werden, auch politische Themen in seiner Literatur aufzugreifen.“ (S.234) 'XMPLü, Daniela: Literatur zwischen Autonomie und Engagement. Zur Poetik von Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke und Dieter Wellershoff. Konstanz 1996. Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 1996.

[38] Bonn, Klaus: Die Idee der Wiederholung in Peter Handkes Schriften. Würzburg 1994 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Bd.124). Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1993. Butzer, Günter: Rettung. Peter Handke: „Die Wiederholung“. In: Ders.: Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München 1998 (= Münchner Germanistische Beiträge 42). S.271-318. Michel, Volker: Verlustgeschichten. Peter Handkes Poetik der Erinnerung. Würzburg 1998 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Bd.245). Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1996.

[39] André Müller im Gespräch mit Peter Handke. Weitra 1993. S.53: Handke: „Manchmal fühle ich eine tiefe, perverse Sympathie für die faschistische Gewalt, die aus der Verzweifelung kommt, aber nicht für die linke Gewalt, die sich rechtfertigt mit Marxismus oder sonst einer Ideologie. Ich habe Sympathie für das Leiden an der Sprachlosigkeit.“ Dem ist entgegenzuhalten, daß faschistische Gewalt ebenso ideologisch fundiert ist. Es wird kritisch zu hinterfragen sein, ob Handke die totalitäre Gewalt in Ex-Jugoslawien, egal von welcher Seite sie ausgeübt wird, derart naiv verharmlost.

[40] Müller, Gespräch (wie Anmerk.39), S.33/34.

[41] Vgl. Anmerk.1.

[42] „Vielleicht bin ich ein Gerechtigkeitsidiot“. Peter Handke im Gespräch mit dem Kriegsreporter Gabriel Grüner. Stern , 1.3.1996. Abgedr. in: Deichmann, Thomas (Hrsg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/Main 1999. S.107-113. S.108. Der Sammelband wird fortan zitiert als: Deichmann, Jugoslawien/Handke.

[43] Deichmann Jugoslawien/Handke. Dieser umfangreiche Sammelband, der auch Interviews mit Handke und anderen Schriftstellern enthält, ist Handke-freundlich. (Kein Wunder, daß er im Suhrkamp- Verlag, in dem die Bücher Handkes verlegt werden, publiziert wurde.) Zu den Kriterien der Textauswahl schreibt der Herausgeber Deichmann: „Es wurden nur Beiträge aufgenommen, deren Autoren sich auf Handkes Betrachtungen zu Jugoslawien einließen und sie nicht, wie überwiegend geschehen, ungelesen oder nur auf Stichworte absuchend als Transportmittel für eigene Ansichten benutzten. Nur Texte von Autoren, die das Angebot von Handke, einen anderen Blick zu wagen, angenommen haben, sind hier wiedergegeben – was nicht unbedingt heißt, daß sie seine Sicht der Dinge teilen.“ (Einleitung, S.13) Übrigens: Deichmann begleitete Handke 1999 auf seinen beiden Reisen nach Serbien während des Kosovo-Krieges, die Handke in Unter Tränen fragend literarisierte. Zülch, Tilmann (Hrsg.): Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auf Peter Handkes Winterreise nach Serbien. Steidl : Göttingen 1996. Fortan zitiert als: Zülch, Angst des Dichters. Wie der Titel bereits impliziert, sind hier die vernichtendsten Kritiken gesammelt. Bezeichnenderweise trägt der einleitende Aufsatz des Herausgebers, damals Bundesvorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) Deutschland , Präsident der GfbV-International und Chefredakteur der von der Gesellschaft herausgegebenen Zeitschrift progrom , den Titel: „Sprechen Sie endlich mit den Opfern von ´Großserbien´, Herr Handke!“ (Zülch hat ebenfalls die Dokumentation Ethnische Säuberungen – Völkermord für Großserbien, 1993 im Luchterhand-Verlag erschienen, herausgegeben.)

[44] „Peter Handke und die Gerechtigkeit“, in: Fachdienst Germanistik 3. Sprache und Literatur in der Kritik deutschsprachiger Zeitungen (März 1996). S.1-4. (Die Zeitschrift ist ein Produkt des iudicium -Verlags in München.) „Handke gegen den Rest der Welt?“, in: Fachdienst Germanistik 11 (November 1996). S.4/5.

[45] Vgl. Susan Sontag im Gespräch mit Rolf Paasch, Frankfurter Rundschau , 13.1.1996. Zit. n. Fachdienst Germanistik 3 , S.1.

[46] Schneider, Peter: Der Ritt über den Balkan. Der Spiegel , 3/96. Abgedr. in: Zülch, Angst des Dichters, S.25- 34. S.25. (Der Titel spielt auf Handkes Theaterstück Der Ritt über den Bodensee von 1970 an.)

[47] Winkler, Willi: Am Stammtisch zum ewigen Krieg. die tageszeitung , 19.1.1996. Abgedr. in: Deichmann, Jugoslawien/Handke. S.19-22. S.21.

[48] Jost Nolte in der Welt , 16.1. 1996, zit. n. Fachdienst Germanistik 3 , S.1.

[49] Deichmann/Reul, Sanfter Totalitarismus (wie Anmerk.2), S.181.

[50] Derrida, Meeresrauschen, S.106.

[51] Derrida, Meeresrauschen, S.114.

[52] Zülch, Tilmann: Sprechen Sie endlich mit den Opfern „Groß-Serbiens“, Herr Handke! In: Zülch, Angst des Dichters, S.11-23. S.22/23.

[53] DER SPIEGEL: Dichters Winterreise. Peter Handkes Serbien-Reportage und die Intellektuellen. Der Spiegel , 6/96. Abgedr. in: Zülch, Angst des Dichters, S.93-97. S.96/97.

[54] Ebenda, S.97.

[55] Diesen hat der Niederländer Wim Boevenik in einem Aufsatz, der die deutschsprachigen Rezeption der Winterlichen Reise sehr gut zusammenfaßt, herausgearbeitet: Boevenik, Wim: Darf Peter Handke einen Stein werfen? Trouw , 17.2. 1996. Abgedr. in: Deichmann, Jugoslawien/Handke. S.71-76.

[56] Seibt, Gustav: Wahn von Krieg und Blut und Boden. Serbien ist Deutschland: Zu Peter Handkes beunruhigendem Reisebericht. Frankfurter Allgemeine Zeitung , 16.1.1996. Abgedr. in: Zülch, Angst des Dichters, S.67-71. S.71.

[57] Ebenda, S.68.

[58] Derrida, Meeresrauschen, S.95.

[59] Derrida, Meeresrauschen, S.12.

[60] Vgl. Fachdienst Germanistik 3 , S.2.

[61] Deichmann/Reul, Sanfter Totalitarismus (wie Anmerk.2), S.184.

[62] Baier, Lothar: Krieg im Kopf. Aufregung um Peter Handkes Reisebericht aus Serbien . Die Wochenzeitung (Schweiz), 26.1.1996. Abgedr. in: Deichmann, Jugoslawien/Handke, S.33-38. S.34.

[63] Ebenda, S.35.

[64] Zit. n. Fachdienst Germanistik 3 , S.3.

[65] Zit. n. Fachdienst Fachdienst Germanistik 11 , S.4.

[66] Zit. n. Fachdienst Germanistik 11, S.4 .

[67] Boevenik, Darf Handke einen Stein werfen? (wie Anmerk.55). S.72.

[68] Zit. n. Fachdienst Germanistik 11 , S.5.

[69] Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses (Ausschnitt aus Die Ordnung des Diskurses . München 1974). In: Engelmann, Jan (Hrsg.): Michel Foucault. Botschaften der Macht (= Der Foucault-Reader Diskurs und Medien). Stuttgart 1999. S.54-73. S.54.

[70] Foucault, Ordnung des Diskurses (wie Anmerk.69). S.54.

[71] Ebenda, S.55.

[72] Ebenda, S.68.

[73] Karahasan, Dževad: Bürger Handke, Serbenvolk. Die Zeit , 16.12.1996. Abgedr. in: Zülch, Angst des Dichters, S.41-53. S.41.

[74] Ebenda, S.51.

[75] Schütte, Wolfram: Die Poetisierung des Ressentiments und ihr politischer Preis. Peter Handkes Winterreise nach Serbien als Strategiepapier einer Offenbarung gelesen. Frankfurter Rundschau , 17.2.1996. Abgedr. in: Zülch, Angst des Dichters, S.81-87. S.83/84. In einer weiteren Polemik in der Rundschau vom 17.1.1996 (abgedr. in: Zülch, Angst des Dichters, S.65/66) zitiert er den Rationalist Lessing gegen Handke: „Wer über bestimmten Dingen den Verstand nicht verliert, hat keinen zu verlieren.“ Handke habe seine „empathische Vernunft“ für die Opfer verloren.

[76] Kunert, Günter: Geistige Niederungen politisierender Poeten. Die Welt , 23.2.1996. Abgedr. in: Zülch, Angst des Dichters. S.61-63.

[77] Schütte, Poetisierung des Ressentiments (wie Anmerk.75), S.87. Die Bezeichnung spielt an auf Handkes 1994 veröffentlichten Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht .

[78] Isfort, Volker: Im Schutt der Lügen. Ein haßtriefendes Märchen: Peter Handkes neuer proserbischer Text „Unter Tränen fragend“. Abendzeitung , 9.5.2000. Dabei diskreditiert sich Isfort durch eine peinliche Verwechslung selbst: Die Winterliche Reise ist bei ihm die sommerliche , der Sommerliche Nachtrag der winterliche !

[79] Radisch, Iris: Peter Handkes Unfall. Wie der Dichter eine geopolitische Ästhetik suchte und sich in Serbien verirrte. Die Zeit , 27.5.2000.

[80] Vgl. Gliewe, Gert: Acapulco liegt im Kosovo. „Die Fahrt im Einbaum oder das Stück zum Film vom Krieg“: Peter Handkes moralpredigender Essay über die Verkommenheit der westlichen Welt ist eine Provokation – Peymann wagt die Uraufführung. Abendzeitung , 7.5.1999.

[81] Moser, Tilmann: Das falsche und das verschüttete Selbst. Über Gefühl, Verstand, Sprache und Subjektivität in Peter Handkes Erzählung „Wunschloses Unglück“. In: Ders.: Romane als Krankengeschichten. Über Handke, Meckel und Martin Walser. Frankfurt/Main 1985. S.153-175.

[82] Durzak, Manfred: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur. Narziß auf Abwegen. Stuttgart 1988.

[83] Vgl. Mecklenburg, Norbert: Beschworene und verdrängte Herkunft. Zu Peter Handkes Erzählung „Wunschloses Unglück“. In: Ders.: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München 1987. S.192-210. S.197-199.

[84] Z. B.: Blumer, Arnold: Peter Handkes romantische Unvernunft. In: Acta Germanica. H.8, 1973. S.123-132.

[85] Vgl. Renner, Rolf Günter: Peter Handke. Stuttgart 1985. S.177.

[86] Ebenda, S.176.

[87] Lorenz, Vorstöße des rebellischen Phänotyps (wie Anmerk.36), S.216.

[88] Vgl. Meyer-Gosau, Kinderland ist abgebrannt (wie Anmerk.35). Sie unterstellt Handke den Wunsch einer Regression in eine heile Kindheitswelt, die er in dem unversehrten Serbien imaginiere. Es liege auf der Hand, „wie konkrete biographische Begebenheiten hier die Projektionen auf Slowenien als Kinder-Land der Wünsche innerhalb des guten, großen und einigen Jugoslawien angefacht und schließlich Handkes Wüten um ´Gerechtigkeit für Serbien´ libidinös noch einmal befeuert haben.“ S.9.

[89] Derrida, Meeresrauschen, S.104.

[90] Vgl. Derrida, Meeresrauschen, S.116.

[91] Ich beziehe mich bei den Daten zu Handke fast ausschließlich auf die lesenswerte Monographie von Adolf Haslinger, der das Leben und Werk Handkes bis Anfang der siebziger Jahre nachzeichnet: Haslinger, Adolf: Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers. Mit zahlreichen Abbildungen (1992). Frankfurt/Main 1995.

[92] Handke, Peter: Wunschloses Unglück (1972). Frankfurt/Main 1992. S.25. Fortan im laufenden Text als WU zitiert.

[93] Vgl. Haslinger, Peter Handke (wie Anmerk.91), S.9.

[94] Vgl. Handke, P.: Die Hornissen (1966). Frankfurt/Main 1977. S. 262-264. Die angesprochene Passage wird mit den Worten „Die Sinne vergehen ihm. Er [der Protagonist Benedikt, R.S.] hat einen Tagtraum“ eingeleitet, die die Erblindung als Folge des Angriffs bewußt in der Schwebe halten. Konkret ist aber der Fliegerangriff: „Dann sieht er aus der Grenze des Himmels kleine Wolken stoßen [...]. Die kleinen Wolken, die über dem Himmel heranstürmen, sind Bomber.“

[95] „Vielleicht bin ich ein Gerechtigkeitsidiot“ (wie Anmerk.42). (Im Kosovo-Krieg wurden der Stern -Reporter Grüner und sein einheimischer Begleiter 1999 hinterrücks von serbischen Heckenschützen ermordet)

[96] Vgl. UT, S.64/65 (Hier datiert Handke den Bombenangriff, der auch den Hof der Großeltern traf, auf April 1945) und Handke, Peter: Der kurze Brief zum langen Abschied (1972). Frankfurt/Main 1974. S.9/10.

[97] Handke, Lehre (wie Anmerk.19), S.67.

[98] Vgl. ebenda, S.28.

[99] Handke, Abschied des Träumers (wie Anmerk.27), S.8. Fortan im laufenden Text als AT zitiert.

[100] Vgl. Haslinger, Peter Handke (wie Anmerk.91), S.69-71.

[101] Übersetzungen von Handke: Januš, Gustav: Gedichte. Zweisprachig. Frankfurt/Main 1983. Ders.: Der Kreis ist jetzt mein Fenster. Gedichte. Frankfurt/Main 1998. Außerdem: Einwenden und Hochhalten. Rede auf Gustav Januš. Laudatio von Peter Handke anläßlich der Verleihung des Petrarca-Preises 1989 an Gustav Januš. Abgdr. in: Handke, Peter: Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980-1992 . Frankfurt/Main 1995. S.125- 135.

[102] Handke, Wiederholung (wie Anmerk.25), S.9.

[103] Vgl. Handke, Noch einmal für Thukydides (wie Anmerk.18). S.19-40.

[104] Dronske, Jugoslawienbild in den Texten Handkes (wie Anmerk.34), S.71.

[105] Ich folge hier der Argumentation Armin A. Wallas (wie Anmerk.34). Wallas deduziert den Begriff „Spiegel- Völker“ dabei von einer Aussage des Ich-Erzählers in der Wiederholung : „ [Und] ich gehörte mit meinem Spiegelbild zu diesem Volk.“ (S.18)

[106] „Nackter, blinder blöder Wahnsinn“. Peter Handke im Gespräch mit Wolfgang Reiter und Christian Seiler . profil , 18.3.1996. Abgedr. in: Deichmann, Jugoslawien/Handke, S.147-158. S.150. Im gleichen Interview stellt Handke jedoch klar: „[...] Slowenien war ein ganz anderer Verlust. Serbien war und ist für mich ein fremdes Land. Ich bin ganz und gar nicht dorthin gegangen, um wieder eine Heimat zu finden.“ (S.150/151)

[107] „Vielleicht bin ich ein Gerechtigkeitsidiot“ (wie Anmerk.42), S.107.

[108] Handke, Peter: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt/Main 1972. In dem Kontext der Magisterarbeit sind folgende Aufsätze von vorgeordnetem Interesse: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967), S.19-28; Zur Tagung der Gruppe 47 in den USA (1966), S.29-34; Die Literatur ist romantisch (1968), S.35-50; Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit (1968), S.203-207. Fortan im laufenden Text als IBE zitiert. Im Vorwort spricht Handke die Warnung aus, es handle sich nicht um einen gängigen Aufsatzband, aus dem ein „referierbares Weltbild“ herausspringe – dennoch geben die Essays, meiner Meinung nach, einen guten Überblick über die Distanzierung Handkes von der damals vorherrschenden Literaturtheorie und -praxis.

[109] Bei Haslinger, Peter Handke (wie Anmerk.91), S.110-115, ist das Tonbandprotokoll dieser „Rede“, einschließlich der positiven Erwiderung Hans Mayers abgedruckt, nach dieser Quelle wird im folgenden zitiert. Zum ersten Mal wurde der vollständige Wortlaut erst 1989 (!) publiziert: Vgl.: Im Wortlaut. Peter Handkes „Auftritt“ in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. In: Peter Handke. München 1989 (= Text+Kritik, 5.Aufl.: Neufassung). S.17-21.

[110] Vgl. Haslinger, Peter Handke (wie Anmerk.91), S.116-121. Vgl. ebenso: Holzinger, Alfred: Peter Handkes literarische Anfänge in Graz. In: Fellinger, Helmut (Hrsg.): Peter Handke. Frankfurt/Main 1985. S.11-24.

[111] Daß sich Handke den manuskripten immer noch verbunden fühlt, zeigt die Tatsache, daß er der Feier zum vierzigjährigen Jubiläum der Zeitschrift beiwohnte. Vgl.: Löffler, Sigrid: Blindes Zutrauen und tiefer Unernst. Alfred Kolleritsch rief, und alle, alle kamen – Zur 40-Jahr-Feier der Literaturzeitschrift „manuskripte“. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen. Januar 2001. S.118/119.

[112] Zit. n. Haslinger, Peter Handke (wie Anmerk.91), S.120. Die Romantexte Handkes der sechziger und frühen siebziger Jahre schreiben sich in diese Literaturpraxis ein, denn sie lassen sich durchgängig als produktive Verfremdung gängiger Genres lesen: Die Hornissen – der Roman thematisiert seine Entstehung zwischen Fiktion und authentischer Lebensgeschichte – erscheint als ironisierter Heimatroman; der Roman Der Hausierer (1967) und die Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1969) orientieren sich am Schema des Kriminalromans, der Kurze Brief zum langen Abschied (1971) schließlich arbeitet mit den Erzählstrategien und –topoi des Bildungsromans – der Protagonist liest ständig den Grünen Heinrich Gottfried Kellers. Besonders ausgeprägt findet sich die Metaebene, die die Narrativität von Geschichten im Feld von Authentizität und Fiktion hinterfragt, im schon mehrfach angesprochenen Wunschlosen Unglück : Handke fragt, wie es möglich ist, die Geschichte einer spezifischen Person, der eigenen Mutter, mit der normalen, auf Verständigung abzielenden Sprache, die jeder versteht, erzählen zu können, ohne die Authentizität des erzählten Lebens im Allgemeinen der Sprache einzubüßen. Den aufgezählten Texten gemeinsam ist, gerade in Abkehr vom „Neuen Realismus“, die Selbst-Reflexivität, die dem Rezipienten die Möglichkeit verschafft, die Entstehung eines Textes, der immer eine Konstruktion ist, nachzuvollziehen. Dieser Gedanke der Transparenz wirkt bis zu den Texten zu Jugoslawien fort. Der Titel des Theaterstücks Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg indiziert bereits die eben angesprochene Metaebene: Es ist ein Stück über die Entstehungsbedingung eines Films vom Krieg (mehr dazu in Punkt 7).

[113] Vgl. Meyer-Gosau, Kinderland ist abgebrannt (wie Anmerk.35), S.4/5.

Ende der Leseprobe aus 148 Seiten

Details

Titel
Die Kunst, Geschichte zu schreiben - Peter Handke und die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Deutsche Philologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
148
Katalognummer
V114489
ISBN (eBook)
9783640145393
Dateigröße
1129 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kunst, Geschichte, Peter, Handke, Jugoslawienkriege, Jahre
Arbeit zitieren
M.A. Roland Schmeltzer (Autor:in), 2001, Die Kunst, Geschichte zu schreiben - Peter Handke und die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114489

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