Variationen eines Märchens. Unterschiede in "Der gestiefelte Kater" von Ludwig Tieck und von den Gebrüdern Grimm


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Analyse
2.1 Genese der Märchen
2.2 Formale Unterschiede
2.3 Inhaltliche Unterschiede
2.4 Romantische Ironie bei Tieck und sein Publikum
2.5 Intentionen der Autoren

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der karnevaleske Titel Der gestiefelte Kater verspricht zunächst ein Katzenmärchen zu sein, das nahezu jeder kennt. Man vermutet dahinter eine kindgerechte Geschichte, die darstellt, wie ein Kater einem armen Müllerssohn zu Reichtum und Ehre gelangte. Doch sollen hier zwei Versionen beliebten Katzengeschichte untersucht werden: Der gestiefelte Kater von Ludwig Tieck, veröffentlicht 1797 und das gleichnamige Kindermärchen der Brüder Grimm, veröffentlicht im Jahre 1812. Beide Märchen entstanden etwa zur gleichen Zeit, tragen denselben Titel, erzählen dieselbe Geschichte und weisen doch bemerkenswerte Unterschiede auf.

An Tiecks Kater zeigt sich deutlich, dass eine Zweiteilung des Stückes vorliegt. Es handelt sich hierbei um ein prototypisch ausgestaltetes Kunstmärchen, das durch seinen szenischen Rahmen und das Spielen der Rollen durch Theaterschauspieler den Gattungsgesetzen von Lustspielen folgt. Die zweite Komponente dieses Werkes, eine nämlich eine durch Illudierung hervorgehobene Publikumssatire, lässt die Grenzen allerdings unauffällig verschwimmen. Der wohl größte Unterschied der zwei Versionen dieses Märchens ist die bei Tieck vorhandene Illusion, das Publikum sei de facto ein Publikum, während er es eine Rolle in dem Stück spielen lässt, ohne dass es sich dessen bewusst ist. Diese Besonderheit macht die eigentliche Katerhandlung nur zum Nebenschauplatz. Vielmehr muss das Augenmerk auf die Rahmenhandlung gelegt werden, in dem extemporierende Figuren, Regiegespräche und das tumultartig disputierende Publikum als Regelverstöße dem Werk seine romantische Ironie verleihen. ÄEs wird ständig desillusionierend durch Kommentare gebrochen und stellt zugleich doch eine Form potenzierter, spielerisch ironischer Poesie dar, in der das Aus der Rolle-Fallen und das Rollenspiel der Figuren vorgeführt werden.“1

Im Gegensatz zum Kunstmärchen, das sich durch einen einzigen nennbaren Urheber auszeichnet, entsteht bei den Brüdern Grimm ein schlichtes Volksmärchen. Die mündliche Tradierung kennzeichnet hier bei diesen Märchenstoff und ist somit als ein Allgemeinbesitz des Volkes anzusehen. Durch Brentanos und von Arnims Liedersammlung ÄDes Knaben Wunderhorn“ wurden Jacob und Wilhelm Grimm dazu angeregt ÄKinder- und Hausmärchen“ zu sammeln und zu veröffentlichen und schafften damit eine ÄMischung aus Erzählung, wörtlicher Rede und eingestreuten Versen in schlichter volkstümlicher Fassung auch in der Niederschrift zu bewahren.“2

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die Fragen: Inwieweit und warum unterscheiden sich diese zwei Werke also teilweise recht eminent voneinander? Was genau macht Tiecks romantische Ironie aus und wie funktioniert sie? Handelt es sich wirklich, wie Karl Pestalozzi sagt, um eine ÄDemonstration des Scheiterns der Kommunikation zwischen Dichter und Publikum“3 ? Außerdem sollen die Intentionen der unterschiedlichen Ausgestaltungen des Katerstoffs betrachtet werden. Neben der Untersuchung der verschiedenen Absichten der Autoren möchte ich natürlich auch die äußeren und thematischen Unterschiede näher untersuchen.

2. Analyse

2.1 Genese der Märchen

Die Entstehungszeit der Märchen kennzeichnet eine Phase der künstlerischen Auseinandersetzung und Infrage stellen der Aufklärung. Mündliche Überlieferungen, besonders mit französischem und italienischem Einfluss, wie auch schriftlich vorliegender Drucke wurden zahlreich aus mehreren Varianten zu einem Märchentext zusammengefügt. RÖLLEKE nennt dafür mehrere Gründe: die Texte waren fragmentarisch, widersprüchlich und schludrig, bisweilen auch anstößig und obszön. Ohne Änderungen durch die Grimms kein Verleger zum Druck bereit gewesen und das Publikum hätte seine Missachtung kundgetan. Wie auch Lachmann seiner Zeit schufen sie aus mehreren vorhandenen Varianten eine nicht überlieferte Urfassung, die in Motivik und Stil teilweise erstaunlich gut gelang (wie es sich bei einer kontaminierten Fassung des Märchens ‚von einem der auszog das Fürchten zu lernen‘ zeigt).4 So schreiben Jacob und Wilhelm Grimm in der Vorrede zu ihren Kinder- und Hausmärchen:

Wir haben […] aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten; dass der Ausdruck und die Ausführungen des einzelnen von uns herrührt, versteht sich von selbst.

Ihre wichtigste Quelle nennen die Grimms hier Dorothea Viehmann - eine alte Bäuerin und zugleich eine gebildete Frau mit hugenottischen Wurzeln, die mit französischen Märchen ebenso vertraut war wie mit der regionalen Erzähltradition. Auch Jeanette Hassenpflug - ebenfalls mit hugenottischem Hintergrund - soll ihren mündlichen Beitrag geleistet haben, indem sie die bis dahin vorwiegend garstig dargestellte Frauenkonzeption in schöne Prinzessinnen und liebliche Feen verwandelt habe. Eine Verkindlichung des Sprachstils (so wird aus einer Hand beispielsweise ein Händchen) und eine Dramatisierung der Begebenheiten (der Wald wird zum großen dunklen Wald) verleihen den Grimmschen Texten somit die poetischen Ausgestaltungen. Besonders die bereits in der Einleitung erwähnten eingestreuten Verse, wie etwa ‚Die schlechten ins Kröpfchen, die guten ins Töpfchen‘ oder ‚Rucke di guh, rucke di guh, Blut ist im Schuh‘ sorgen für einen naiven Charme und bleiben im Gedächtnis des Rezipienten. Wortspielereien in den Bremer Stadtmusikanten bringen sogar neue Redewendungen hervor wie ‚die Katze machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter‘ und versprechen den Grimms damit eine Rezeption des Volkes in alles Alters- und Ständegruppen. RÖLLEKE listet in seinem Buch Alt wie der Wald sämtliche von Wilhelm Grimm geschaffenen bzw. neubelebten Redewendungen auf und interpretiert ein vergnügliches Déjà-vu-Erlebnis hinein, die den Leser an seine Kindheit oder andere vergangene Zeiten erinnern soll.5

Während der Stoff der Grimm‘schen Märchen überwiegend aus mündlichen Überlieferungen stammen, deren Schöpfer nicht auszumachen ist, verarbeitet Tieck den Märchenstoff nach einer französischen Geschichte von Charles Perrault (1628-1703), mit dem ursprünglichen Titel Le Maître Chat ou le Chat botté.

Unter dem Pseudonym Peter Leberecht wurde 1797 in ÄVolksmärchen“, 2. Band, erstmals Ludwig Tiecks Gestiefelter Kater veröffentlicht. Es ist Tiecks einziges Kindermärchen und erfreute sich großer Beliebtheit, sodass es bald allein und sogar in zweiter Auflage verkauft wurde. Erst in der zweiten Auflage ist der Name des Verlegers Friedrich Nicolai zu finden, weil er offensichtlich bis dato das französische Volk als Autor eines solchen Stoffes für zunächst Äüberschätzt“ hielt.6 So begann gelang Tieck der erste ironische Streich, indem Äausgerechnet ein repräsentativer Verlag der späten Aufklärung zum Geburtshelfer charakteristischer Produkte der Frühromantik wurde.“7 Neben den vom Verlag geforderten Nacherzählungen von französischen Dichtungen, wagt Tieck auch erste eigene Versuche romantischer Märchendichtung. Er Ä‚bedient‘ sich sozusagen der von der Aufklärung verdammten und von Herder ‚entdeckten‘ Volkspoesie, um neue Ideen zu vermitteln.“8 Mit der Subsumtion der verschiedenen Genres macht deutlich, wie vage sich der Begriff

‚Volksmärchen‘ zu Beginn der Romantik definieren ließ.9 Tieck erkennt mit Herders Hilfe den Wert von Volkssagen und Volksliedern und meint neben dem ÄZeitvertreib des Pöbels“ poetische Kraft für seine Dichtungen zu finden.

2.2 Formale Unterschiede

Bei dem Vergleich der beiden Versionen des Gestiefelten Katers fallen als erstes die unterschiedlichen Titel auf, weil Tieck seinem Werk einen Untertitel verleiht: Kindermärchen in drei Akten. Mit Zwischenspielen, einem Prologe und Epiloge. Hierbei muss der Terminus Kindermärchen genauer untersucht werden. Schon beim Betrachten des Titelblattes wird also deutlich, dass neben der kindlichen und phantasievollen Katzengeschichte eine Rahmenhandlung mit Zwischenspielen beigefügt ist. Während des Lesens von Tiecks Werk bemerkt der Leser recht schnell, dass diese Rahmenhandlung, die Szenerie eines misslungenen Theaterabends, mindestens den gleichen Stellenwert einnimmt, wie die Erzählung vom Kater Hinze und Gottlieb. Ein kritisierendes und disputierendes Theaterpublikum, das sich mit Dichter und Schauspielern über den Sinn des Stückes streitet, scheint aber keineswegs Kinderstoff zu sein. Auch sind weder auf der Bühne, noch davor Kinder zu finden. Die Berechtigung, das Stück Märchen für Kinder nennen zu dürfen, wird also beim ersten Hinsehen nicht klar und suggeriert somit schon eine ironische und Verwirrung stiftende Bedeutung. Die Bezeichnung Märchen dagegen ist bei der phantasievollen Umsetzung selbsterklärend. Ein sprechender, aufrechtgehender und cleverer Kater Ästeht im Gegensatz zur vernünftigen Tagwelt und deren Darstellung.“10 (Auch die Auswahl des Tieres begründet sich übrigens von selbst, wenn man das Zusammenleben mit einem eigensinnigen und sturen Kater kennt. Das tierische Geschöpf manipuliert naturgemäß den Menschen nur zu gern zu seinem eigenen Vorteil.) PESTALOZZI assoziiert mit dem Terminus Märchen im Übrigen Begriffe wie Traum, Kindheit, Natur oder Volk, die sich in Tiecks Stück bestätigen und damit seinerseits die Berechtigung dieses Untertitels Märchen schaffen.

Aufgrund seiner ausschmückenden Elemente und der ‚doppelten Geschichte‘, die sich auf und vor der Bühne abspielt, ist auch der Umfang von Tiecks Kater deutlich größer. So beläuft sich die Reclam-Version von Tieck auf 62 Seiten, während die Brüder Grimm mit ihrer formal recht nüchternen und verkürzten Ausgabe gerade einmal vier Seiten im Hamburger Leseheft einnehmen.

[...]


1 Ruth Petzold: Albernheit mit Hintersinn. Intertextuelle Spiele in Ludwig Tiecks romantischen Komödien. Stiftung für Romantikforschung. Band 7. Würzburg 2000, S. 188.

2 Brüder Grimm: Kinder und Hausmärchen. 197. Hamburger Leseheft. Hamburg 2011, S. 92.

3 Karl Pestalozzi: Ludwig Tieck. Der gestiefelte Kater. In: Die deutsche Komödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Walter Hinck. Düsseldorf 1977, S. 110-126, hier S. 125.

4 Vgl. Heinz Rölleke: Alt wie der Wald. Reden und Aufsätze zu den Märchen der Brüder Grimm. Schriftenreihe Literaturwissenschaft 70. Trier 2006, S. 4f.

5 Heinz Rölleke: Alt wie der Wald, S. 21.

6 Hermann Bausinger: Formen der Volkspoesie. Berlin 1980, S.17ff.

7 Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater, S. 73.

8 Judith Braun-Biehl: Ausschweifende Geburten der Phantasie. Eine Studie zur Idee des ‚Kindermärchens‘ bei Tieck, Brentano, Jacob und Wilhelm Grimm und E.T.A. Hoffmann. Diss. Mainz 1990, S. 23.

9 Vgl. ebd., S. 27.

10 Karl Pestalozzi: Tieck. Der gestiefelte Kater. S. 111.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Variationen eines Märchens. Unterschiede in "Der gestiefelte Kater" von Ludwig Tieck und von den Gebrüdern Grimm
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
14
Katalognummer
V301563
ISBN (eBook)
9783956872921
ISBN (Buch)
9783668003873
Dateigröße
679 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
variationen, märchens, unterschiede, kater, ludwig, tieck, gebrüdern, grimm
Arbeit zitieren
Cathrin Utesch (Autor:in), 2013, Variationen eines Märchens. Unterschiede in "Der gestiefelte Kater" von Ludwig Tieck und von den Gebrüdern Grimm, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/301563

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