Der EU-Beitritt der Türkei. Chancen und Risiken anhand verschiedener Integrationstheorien


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

25 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Theoretischer Rahmen

3. Historischer Abriss zu den Entwicklungen des türkischen Beitrittsgesuchs

4. Der türkische EU-Beitritts – Die Diskussion
4.1 Die Grundsatzdebatte über die prinzipielle Beitrittsfähigkeit der Türkei
4.2 Temporäre Argumente zu Chancen und Risiken eines Türkei-Beitritts
4.2.1 Innen-, außen- und sicherheitspolitische Argumente
4.2.2 Ökonomische und soziale Argumente

5. Argumentationsbewertung und Einbeziehung theoretischer Ansätze

6. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit dem Satz „Der Türkei-Beitritt zerstört die EU“[1] hat der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler maßgeblich dazu beigetragen, dass die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei, die in Europa mehr oder minder seit etlichen Jahren intensiv geführt worden war, eine neue Qualität erhalten hat. Nicht mehr nur temporäre Argumente, wie z. B. die starke Rolle des türkischen Militärs, die Kurdenproblematik, die Konflikte mit Griechenland um Zypern und die Ägäis, die im Gegensatz zur EU verhältnismäßig rückständige Wirtschaft oder generelle Demokratiedefizite der Türkei standen nunmehr im Vordergrund der Diskussion, sondern zunehmend auch grundsätzliche. Sie bezogen sich vor allem auf Unterschiede in Religion, Kultur, geisteshistorischen Traditionen und Geschichte und leiteten daraus eine vermeintliche Unvereinbarkeit europäischer und türkischer Identität her.[2]

Besonders die beiden Historiker Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler argumentieren in diesem Sinne vehement gegen einen EU-Beitritt der Türkei, da diese in ihren Augen nach geographischer Lage, historischer Vergangenheit, Religion, Kultur und Mentalität kein Teil Europas sei.[3]

Ob diese grundsätzlichen Argumente zur Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts, der angeblich zum Verlust der europäischen Identität und dem damit einhergehenden Ende des „Projektes Europas“ führen würde[4], theoretisch und empirisch ausreichend fundiert sind, soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit geklärt werden. Ausgelöst durch die vehemente und grundsätzliche Ablehnung des türkischen EU-Beitritts durch ihre Gegner hat sich aber auch eine Vielzahl von Argumenten für eine Einbeziehung der Türkei in die europäischen Strukturen entwickelt, die u. a. Bezug auf die in den Römischen Verträgen festgeschriebene Formulierung nehmen, dass jeder europäische Staat prinzipiell beitrittsfähig ist.[5] Erst auf dem EU-Gipfel von Kopenhagen 1993 wurden mit den Kopenhagener Kriterien weitere Beitrittsvoraussetzungen formuliert, die für Verfechter der Grundsatzdiskussion jedoch zunächst weniger von Bedeutung sind, da sie lediglich temporäre Faktoren, wie die Entwicklung institutioneller Stabilität als Garantie für eine rechtsstaatliche und demokratische Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie den Schutz von Minderheiten, eine funktionierende Marktwirtschaft, die in der Lage ist, dem Wettbewerbsdruck in der Union standzuhalten und die Fähigkeit, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union und der Wirtschafts- und Währungs-union zu eigen machen zu können, berücksichtigen.[6]

Im Sinne einer geographischen Definition Europas weisen Befürworter immer wieder darauf hin, dass Europa kein klar definierter Kontinent wie etwa Australien oder Afrika sei und die Abgrenzung Europas zu Asien in jeder historischen Epoche neu definiert worden ist.[7]

Auch die prinzipielle Grenzziehung zwischen europäischer und türkisch-osmanischer Historie, Kultur und Religion wird abgelehnt, da der implizierte Bezug auf die europäische Christlichkeit aus Sicht der Befürworter schon aus dem Grund nicht haltbar ist, weil die Idee des vereinten Europas keine christliche Idee gewesen ist, sondern im Gegenteil eine Zurückdrängung der Religion voraussetzte.[8]

Neben der oben angedeuteten Grundsatzdiskussion, deren Pro- und Contra-Argumente im Folgenden ausführlich herausgearbeitet werden sollen, spielt ebenso die temporäre Dimension der Diskussion eine wichtige Rolle. Etliche Argumente beziehen sich nicht nur auf die prinzipielle Beitrittsfähigkeit des Landes, sondern auf die aktuelle Situation der Türkei, aus der heraus sie mögliche Vor- und Nachteile für die EU ableiten, diese abwägen und so letztlich Prognosen über die derzeitige Beitrittsreife der Türkei erstellen. Auch diese temporären Aussagen sollen in dieser Arbeit ausführlich behandelt werden. Zunächst wird jedoch im zweiten Kapitel ein theoretisches Fundament erarbeitet. Dabei werden verschiedene Theoriestränge vorgestellt, die prinzipiell für sich beanspruchen horizontale Erweiterungen der EU erklären zu können. Nachdem im dritten Kapitel dann ein kurzer historischer Abriss über die wichtigsten Stationen des Beitrittsgesuchs der Türkei erfolgt, soll im fünften Kapitel eine Überprüfung und Bewertung der wichtigsten Argumente und ihre Zuordnung zu den verschiedenen Theorien stattfinden (sofern dies immer einwandfrei möglich ist). Das Ziel der Zuordnung und Bewertung ist die Beantwortung einer doppelten Frage. Aus der Überprüfung und Bewertung kann erstens die Frage, welche Argumente theoretisch und empirisch ausreichend fundiert sind, um für eine Ablehnung oder Befürwortung eines türkischen EU-Beitritts tatsächlich geeignet zu erscheinen, beantwortet werden. Zweitens kann die Zuordnung einzelner Argumente zu den verschiedenen Theoriesträngen Abhilfe bei der Beantwortung der Frage schaffen, welchen Erklärungswert einzelne Integrationstheorien am praktischen Beispiel der möglichen Erweiterung der EU um die Türkei wirklich haben und ob eine dieser Theorien und wenn ja welche die vorgebrachten Argumente umfassend erklären kann. Schlussendlich soll ein kurzes Fazit mit Ausblick die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammenfassen und Hinweise auf Alternativen der EU-Türkei-Beziehungen im Falle einer endgültigen Ablehnung des türkischen Beitrittsgesuchs geben.

2. Theoretischer Rahmen

Für die Erklärung horizontaler Integration gibt es eine Reihe verschiedener theoretischer Ansätze, deren vollständige Wiedergabe den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Im Folgenden findet daher eine Konzentration auf insgesamt sechs Ansätze statt. Neben drei typischen Standardansätzen der Integrationsforschung, dem liberalen Inter-gouvernementalismus, dem Neofunktionalismus und dem sozialen Konstruktivismus, finden sowohl der Neorealismus, die sog. Klubtheorie und die Gemeinschaftstheorie Berücksichtigung bei der späteren Argumentationsanalyse.[9]

Um Aussagen über den Analysewert der erwähnten Theorien an einem praktischen Fallbeispiel treffen zu können, ist es sinnvoll sich an dieser Stelle die Hauptaussagen der einzelnen Theorien vereinfacht zu vergegenwärtigen.

Der liberale Intergouvernementalismus geht davon aus, dass das internationale System durch eine komplexe Interdependenz gekennzeichnet ist und Regierungen ihre nationalen Interessen aufgrund dominanter gesellschaftlicher Präferenzen formulieren. Zentrale Akteure sind dabei die Mitgliedsstaaten, der Europäische Rat und der Ministerrat. Diese handeln rational zur Maximierung ökonomischer Eigeninteressen.[10] Die wichtigsten Politikbereiche der Außen- und Sicherheitspolitik bleiben dabei eine Domäne der Mitgliedsstaaten. Erweitert wird die Union nur, wenn der ökonomische Nutzen die Kosten überwiegt. Die dabei bestehenden Präferenzen der Mitgliedsstaaten entsprechen den vorherrschenden, meist wirtschaftlichen Präferenzen der gesellschaftlichen Akteure.[11]

Im Neorealismus spielt vor allem die außenpolitische Dimension eine wichtige Rolle. Neorealisten gehen von einer anarchischen Staatenwelt aus, in der Sicherheit durch Gleichgewichtssysteme hergestellt wird. Die EU wird lediglich als Instrument national-staatlicher Politik angesehen.[12] Auch hier bleiben die „High Politics“ den Mitgliedstaaten vorbehalten, deren nationalstaatliches Interesse an Selbstbestimmung, ebenso wie die Beharrungskraft nationalstaatlicher Bürokratien, die Diversität der nationalen Situation und Interessen sowie externe Akteure und Einflüsse der Integration Grenzen setzt.[13]

Zentrale Akteure sind ähnlich wie beim Intergouvernementalismus der Europäische Rat und die Mitgliedsstaaten. Erweitert wird hauptsächlich aufgrund der staatlichen Sicherheit. Mögliche Erweiterungen richten sich nach der Machtverteilung unter den Mitgliedsstaaten.[14]

Der Neofunktionalismus sieht hingegen im Gemeinschaftsinteresse mehr als die Summe der nationalen Interessen und erklärt mit dem sog. Spill-Over-Effekt vor allem die Dynamik der europäischen Integration. Als zentrale Akteure werden die Kommission und die europäischen Eliten angesehen. Gemeinsame transnationale Probleme, aufgrund hochgradiger Verflochtenheit und ein Interesse an deren Lösung führt zur Übertragung von Kompetenzen auf die supranationale Ebene. Auch die Erweiterungslogik lässt sich von diesem Standpunkt aus als Mittel transnationaler Problemlösung verstehen, welches der Wohlfahrtsmaximierung und der Friedenssicherung dient.[15] Die Neofunktionalisten befürworten konsequent ein Stufenmodell von der Assoziierung bis zur Mitgliedschaft, setzen sich aber auch aktiv für die Verteidigung der Gesamtheit des EU-Rechts ein. Daraus lässt sich die Offenheit des Integrationsprozesses und die Erweiterung als Langzeittrend im Spannungsverhältnis zur Vertiefung erklären.[16]

Der soziale Konstruktivismus geht vor allem davon aus, dass die soziale Wirklichkeit auf Werten und Ideen konstruiert ist. Dementsprechend erscheint die EU als Repräsentantin kollektiver europäischer Identität. Die gesamte Handlungslogik ist normgeleitet. Grund-überzeugungen und Argumentation bestimmen die Präferenzen der Akteure. Erweitert wird lediglich im Rahmen der Ausdehnung der Wertegemeinschaft. Maßgebend für eine Erweiterung sind demnach gemeinsame Werte, Identitäten und Normen.[17]

Die von James Buchanan entwickelte Klubtheorie definiert als Hauptproblem die Schaffung der optimalen Größe einer Staatengemeinschaft. Ein Klub ist demnach ein freiwilliger Zusammenschluss, der öffentliche Güter nur seinen Mitgliedern anbietet und dann die optimale Größe erreicht hat, wenn der Grenznutzen durch die Aufnahme eines weiteren Mitglieds gerade den dadurch entstehenden Grenzkosten entspricht.[18]

Das Klubgut ist an die Mitgliedschaft, insbesondere an die Beitragszahlung gekoppelt. Somit ist bez. des Klubgutes ein Ausschluss anderer von ihrer Nutzung leicht möglich. Die Konsumrivalität zwischen den einzelnen Mitgliedern ist gering oder neutral, beginnt aber bei Erreichung einer bestimmten Schwelle bei zunehmender Mitgliederanzahl zu wachsen. Laut Klubtheorie müssen und können Klubs ihre Mitgliedschaft beschränken, um eine effiziente Produktion und Nutzung des Klubgutes zu gewährleisten. Die Aufnahme neuer Mitglieder hängt somit maßgeblich von den Kosten-Nutzen-Kalkülen der Mitglieder und Kandidaten ab.[19]

Die Kritik an der Klubtheorie und an ähnlichen Theorien, die sich auf Kosten-Nutzen-Kalküle beziehen, bildet den Ausgangspunkt für die letzte hier vorzustellende Theorie, die Gemeinschaftstheorie. Sie geht davon aus, dass Gemeinschaftsorganisationen auf einem kulturellen Fundament, dem sog. Gemeinschaftsethos basieren, der sich aus einer gemeinsamen Wir-Identität, gemeinsamen Normen und Werten zusammensetzt. In inter-nationalen Organisationen sei dieser Gemeinschaftsethos institutionalisiert; erst dies sichere seinen sozialen Einfluss.[20] Erweiterungen finden demnach nicht einfach aufgrund nüchterner Kosten-Nutzen-Bilanzen statt, sondern vor allem dann, wenn die Neumitglieder den Gemeinschaftsethos teilen. Das gilt selbst, wenn der Beitritt Nettokosten für die Altmitglieder oder das Beitrittsland verursacht.[21]

Die Gemeinschaftstheorie ist aber nur ansatzweise konstruktivistisch. Sie fordert keine Abkehr von der rationalistischen Analyse regionaler Organisationen, sondern führt sie mit der konstruktivistischen Analyse zusammen. Demnach haben die Akteure eine große Verhandlungsmacht, deren Präferenzen mit dem Gemeinschaftsethos übereinstimmen. Somit sollen Erweiterungen durch das zentrale Zusammenspiel von Kosten-Nutzen-Erwägungen und Verhandlungsmacht mit Normen und Regeln der EU erklärt werden.[22]

3. Historischer Abriss zu den Entwicklungen des türkischen Beitrittsgesuchs

Die Entwicklungen zur Vorbereitung eines türkischen EU-Beitritts weisen eine lange Geschichte auf, die vermutlich auch in naher Zukunft nicht zu einem endgültigen Ergebnis führen wird. Schon seit der Gründung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk am 29. Oktober 1923 steuerte die Türkei auf eine europäische Orientierung hin. Durch die Abschaffung des Sultanats und des Kalifats realisierte Atatürk einen radikalen Bruch mit der osmanischen Vergangenheit, der jene Reformen ermöglichte, die die Türkei an den kulturellen, ökonomischen und politischen Standard Europas heranführen sollten. Mit zahlreichen Reformen, die Politik, Recht, Bildung und das Alltagsleben säkularisierten und verwestlichten, beabsichtigte Atatürk, die Türkei zu einem bedeutenden Mitglied Europas zu machen.[23]

Entsprechend dieser Zielstellung blieb die Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg bemüht, Mitglied in allen multinationalen, westeuropäischen Organisationen zu werden, um den Prozess der Europäisierung und Integration zu verstärken. Besonderes Interesse hatte die Türkei an einer Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in der die Türkei am besten eine Bestätigung ihres „europäisch-Seins“ erhalten konnte.[24]

Am 31. Juni 1959 stellte sie deshalb einen Antrag auf Assoziierung mit der EWG, dem am 12. September 1963 durch die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens entsprochen wurde. Dieses Abkommen sah verschiedene Schritte bis zur Vollmitgliedschaft vor. So sollte eine Zollunion nach einer Vorbereitungs-, Übergangs- und Endphase bis zum 01. Januar 1995 errichtet werden. Außerdem sollte bis 01. Dezember 1986 die Schaffung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer verwirklicht werden. Die Türkei sollte zudem für die Angleichung ihrer Wirtschaft an die Strukturen der EWG/EG sowie für den Ausgleich der Nachteile, die aufgrund des Abbaus der Zölle entstehen würden, finanzielle Mittel von der EWG/EG erhalten.[25]

In den darauffolgenden Jahren war das türkische Verhältnis zur EG durch drei Militärinterventionen in der Türkei stark belastet. Im Jahr 1987 stellte die Türkei dann einen Antrag auf Vollmitgliedschaft in der EG, die von der EG zunächst mit der Begründung aufgeschoben wurde, dass sie bis zur Realisierung des bevorstehenden Binnenmarktes mit keinem Land Beitrittsverhandlungen aufnehmen könne. Obwohl zusätzlich die Menschen-rechtslage und das wirtschaftliche Gefälle der Türkei bemängelt wurden, wurde der Weg zur türkischen Mitgliedschaft aber nicht völlig blockiert.[26]

Nach Einführung der Zollunion zum 01. Januar 1996 bestätigte der Assoziationsrates auf seiner Sitzung vom 29. April 1997 der Türkei, die notwendige Qualifikation für eine Kandidatur zu besitzen. Zwar wurde die Türkei auf dem Luxemburger Gipfel vom Dezember 1997 noch nicht berücksichtigt, allerdings wurde ihr auf dem Gipfel vom Dezember 1999 in Helsinki der Kandidatenstatus gewährt.[27] Im Jahr 2004 wurde dann beschlossen, formale Beitrittsverhandlungen mit der Türkei 2005 aufzunehmen, die jedoch wegen der Konflikte zwischen der Türkei und dem EU-Mitglied Zypern gefährdet wurden. Als milde Form der Sanktion hat die EU daraufhin die Arbeit an acht der insgesamt dreiunddreißig Verhandlungskapitel ausgesetzt.[28]

4. Der türkische EU-Beitritts – Die Diskussion

4.1 Die Grundsatzdebatte über die prinzipielle Beitrittsfähigkeit der Türkei

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, geht es bei der Grundsatzdebatte vor allem um die prinzipielle Beitrittsfähigkeit der Türkei. Die vorgebrachten Argumente für und gegen einen Beitritt beziehen sich somit hauptsächlich auf Werte, Normen, Identität Kultur, Religion, Geographie, Geschichte und geisteshistorische Traditionen. Auf Seiten der Beitrittsgegner wird in diesem Zusammenhang häufig von der Andersartigkeit der Türkei gesprochen, die aufgrund zahlreicher Unterschiede in den o. g. Punkten mit dem „Projekt Europa“ nicht kompatibel sei.[29]

Dies resultiere angeblich aus verschiedenen Entwicklungen und Tatsachen heraus. Erstens sei die Türkei weder geographisch noch historisch ein europäisches Land. Geographisch, und darüber dürfte tatsächlich kaum Zweifel bestehen, liegt die Türkei, sofern als Maßstab die heute typisch gewordene Abgrenzung Asiens und Europas durch den Bosporus angelegt wird, nur zu einem kleinen Teil auf dem europäischen Kontinent.[30] Die Aufnahme der Türkei in die Union schaffe nach Ansichten der Gegner somit einen Präzedenzfall, der dazu führe, dass anderen außereuropäischen Staaten im Mittelmeerraum der Beitritt auch nicht mehr grundsätzlich verweigert werden könne.[31]

Darüber hinaus wird argumentiert, dass die Türkei auch kulturell kein Teil Europas sei. Diese Ansicht basiert auf der Annahme der grundsätzlichen Unvereinbarkeit der islamischen Religion und Kultur mit der christlichen. Vertreter dieser Annahme gehen von Europa als einem christlichen Projekt aus, in dem die Türkei ein Fremdkörper darstellen würde. Dementsprechend sei eine Mitgliedschaft grundsätzlich strikt abzulehnen.[32]

Die Andersartigkeit der Türkei und die damit verbundene Ablehnung werden kulturhistorisch begründet. Während Europa durch Christentum, Renaissance und Aufklärung geprägt sei, fehlten diese Kulturepochen in der türkischen Geschichte. Auch Pluralismus und Säkularisierung, die seit der im Mittelalter vollzogenen Trennung von Staat und Kirche zu spezifischen Merkmalen der okzidentalen europäischen Entwicklung geworden seien, habe es weder im byzantinischen Kulturkreis noch in der islamischen Welt gegeben.[33]

Diese unterschiedlichen historischen Entwicklungen seien im Kern verantwortlich für heute weitgehend unterschiedliche Normen- und Wertesysteme in der EU auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite. Wehler geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er davon ausgeht, dass es durch eine vernetzte europäische Historie, die auf den o. g. europäischen Spezifika beruht, ein historisch gewachsenes europäisches Identitätsbewusstsein gibt, welches die muslimische Bevölkerung der Türkei weder teilt, noch in der Lage dazu ist zur künftigen Identitätskontinuität beizutragen. Statt der politischen Einheit sieht Wehler durch den Beitritt der Türkei den Einigungsprozess des historischen Europas gefährdet. Seiner Ansicht nach käme es nach dem Türkei-Beitritt zur EU allenfalls zur Entwicklung einer umfassenden Freihandelszone, die vom Atlantik bis eventuell nach Wladiwostok reichen könnte.[34]

[...]


[1] vgl. Titel bei Wehler, Hans-Ulrich: Verblendetes Harakiri. Der Türkei Beitritt zerstört die EU, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2004, Heft 33-34.

[2] Gerhards, Jürgen: Europäische Werte – Passt die Türkei kulturell in die EU?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2004, Heft 38, S. 14.

[3] vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Das Türkenproblem, in: Die Zeit, Nr. 38 vom 12. September 2002, S. 9; Winkler, Heinrich August: Wir erweitern uns zu Tode, in: Die Zeit, Nr. 46 vom 07. November 2002, S. 6.

[4] Kramer, Heinz: EU-kompatibel oder nicht? Zur Debatte um die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union, SWP-Studie, Berlin 2003, S. 6.

[5] Ceylanoglu, Sena: Von der umstrittenen Beitrittsperspektive zu umstrittenen Beitrittsverhandlungen. Wandlungen des Verhältnisses der Europäischen Union zur Türkei, in: Clemens, Gabriele (Hrsg.): Die Türkei und Europa, Hamburg 2007, S. 153-154.

[6] vgl. Yazicioglu, Ümit: Erwartungen und Probleme hinsichtlich der Integrationsfrage der Türkei in die Europäischen Union, Berlin 2005, S. 174.

[7] Burgdorf, Wolfgang: Zur türkischen Geschichte innerhalb Europas. Anmerkungen über die Grundlagen eines EU-Beitritts der Türkei, in: Clemens, Gabriele (Hrsg.): Die Türkei und Europa, Hamburg 2007, S. 40.

[8] Uygun, Yasemin: Auf dem Weg nach Europa? Zu Chancen und Grenzen der Integration der Türkei in die Europäische Union, Nordhausen 2010, S. 133-134.

[9] zu den einzelnen Theorien vgl. Alsen, Katrin: Der Europäische Integrationsauftrag der EU. Überlegungen zur Erweiterungs-, Assoziierungs- und Nachbarschaftspolitik der EU aus der Warte einer europäischen Prinzipienlehre, Berlin 2009, S. 79-97.

[10] ebd., S. 82-83.

[11] ebd.

[12] ebd., S. 82.

[13] Schimmelfennig, Frank: Internationale Politik, Paderborn 2008, S. 293-294.

[14] Alsen, Katrin: Der Europäische Integrationsauftrag der EU. Überlegungen zur Erweiterungs-, Assoziierungs- und Nachbarschaftspolitik der EU aus der Warte einer europäischen Prinzipienlehre, Berlin 2009, S. 82.

[15] ebd., S. 83.

[16] ebd.

[17] ebd., S. 83-84.

[18] ebd., S.84-85.

[19] ebd.

[20] Schimmelfennig, Frank: The EU, NATO and the integration of Europe. Rules and rhetoric, Cambridge 2003, S. 171-172.

[21] ebd.

[22] Alsen, Katrin: Der Europäische Integrationsauftrag der EU. Überlegungen zur Erweiterungs-, Assoziierungs- und Nachbarschaftspolitik der EU aus der Warte einer europäischen Prinzipienlehre, Berlin 2009, S. 88-89.

[23] Zuhâl, Yesilyurt Gündüz: Die Türkei und die Europäische Union. Chancen und Grenzen der Integration, Osnabrück 2000, S. 299.

[24] ebd.

[25] Sen, Faruk: Folgen eines Beitritts der Türkei für die Europäische Union, in: Südosteuropa-Mitteilungen, 43. Jg., 2003, Heft 1, S. 6-7.

[26] ebd.

[27] Kreis, Georg: Europa und seine Grenzen, Bern 2004, S. 104-105.

[28] Brasche, Ulrich: Europäische Integration. Wirtschaft, Erweiterung und regionale Effekte, 2. überarb. und erw. Aufl., München 2008, S. 315-316.

[29] Kramer, Heinz: EU-kompatibel oder nicht? Zur Debatte um die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union, SWP-Studie, Berlin 2003, S. 10.

[30] Keskin, Hakki: Warum die Türkei die Gemeinschaft bereichern würde, in: König, Helmut/Sicking, Manfred (Hrsg.): Gehört die Türkei zu Europa? Wegweisungen für ein Europa am Scheideweg, Bielefeld 2005, S. 64-65.

[31] Kramer, Heinz: EU-kompatibel oder nicht? Zur Debatte um die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union, SWP-Studie, Berlin 2003, S. 19.

[32] Bozkurt, Mahmut: Die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union, Frankfurt a. M. 1995, S. 155-156.

[33] Kramer, Heinz: EU-kompatibel oder nicht? Zur Debatte um die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union, SWP-Studie, Berlin 2003, S. 10.

[34] Wehler, Hans-Ulrich: Der Türkei-Beitritt zerstört die Europäische Union, in: König, Helmut/Sicking, Manfred (Hrsg.): Gehört die Türkei zu Europa? Wegweisungen für ein Europa am Scheideweg, Bielefeld 2005, S. 54-55.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Der EU-Beitritt der Türkei. Chancen und Risiken anhand verschiedener Integrationstheorien
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften)
Veranstaltung
Die EU-Mittelmeerpolitik von den Anfängen bis zur Union für das Mittelmeer. Akteure, Ebenen und Interessen
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
25
Katalognummer
V292935
ISBN (eBook)
9783656901433
ISBN (Buch)
9783656901440
Dateigröße
487 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
eu-beitritt, türkei, chancen, risiken, integrationstheorien
Arbeit zitieren
M. A. Alexander Gajewski (Autor:in), 2012, Der EU-Beitritt der Türkei. Chancen und Risiken anhand verschiedener Integrationstheorien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/292935

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