Die Entwirrungen des Zöglings Törleß

Die (strukturelle) Bedeutung der Mathematik in Musils Debütroman


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


1. Einleitung

„Alle Religionen, Künste und Wissenschaften sind Zweige desselben Baumes. All diese Bestrebungen sind darauf gerichtet, das menschliche Leben zu erhöhen, es aus der Sphäre bloßer physischer Existenz zu erheben und das Individuum zur Freiheit zu führen.“1

Albert Einstein

Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts lebt der Mensch in einer Welt die er im Gegensatz zum früheren mittelalterlich-theologischen Ansatz, auf naturwissenschaftliche bzw. neuzeitlich-moderne Weise zu begründen versucht.2 Während zu mittelalterlichen und antiken Zeiten auch Literaten die Welt erklärten - man denke nur an das mittelalterliche Augurenwesen - verhielt sich die Literatur im Positivismus des 19. Jahrhunderts zur Naturwissenschaft allenfalls noch kontrastiv.3 Durch die krisenhaften Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann einer Auffassung der Weg bereitet, nach der die Naturwissenschaften nicht mehr länger als der einzige Weg zur objektiven Wahrheit verstanden wurden. Durch den damit einhergehenden Wandel des wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses bekam die Literatur die Möglichkeit „auf naturwissenschaftliche Konzepte Bezug zu nehmen, ohne nur einem Fremdkörper gegenüber stehen zu müssen oder bloß thematisch über ihre Ereignisse berichten zu können.“4 Diese alle kulturellen Bereiche betreffende Krise ging im Bezug auf die Mathematik als „Grundlagenkrise“5 in die Geschichte ein.6 Die Mathematik stand damals vor dem Scherbenhaufen ihres bis dato vorherrschenden Selbstverständnisses einer Wissenschaft, welche die bereits bestehende Ordnung repräsentativ und reproduktiv zu analysieren glaubte. Denn „die Mathematiker - jene, die ganz innen herumgrübeln“7, erkannten dass das ganze Dasein, so wie sie es erschlossen hatten und auf das sich jeder Fortschritt bezog, in der Luft stand.8 Die Mathematik bekam nun im Bezug auf ihre Begriffe einen schöpferischen bzw. synthetischen Charakter zugesprochen, wodurch sich die Zuverlässigkeit der Mathematik und deren Erkenntnisse - und damit auch das ganze mathematisch erschlossene Dasein - als Fiktion entpuppte.9 Im Zuge dieses neuen Selbstverständnisses - das noch keines war - wurde der unökonomische und leidenschaftliche Charakter der Mathematik (wieder-) entdeckt. Der so dargestellte Mathematiker ist nun nach Musil und im Gegensatz zu dem ökonomisch und zweckorientierten Wissenschaftler „eine Analogie […] für den geistigen Menschen, der kommen wird.“10 Dieses neue Verständnis von Mathematik und Wissenschaft allgemein brachte auch ein neues Selbst- Bewusstsein für die Literatur und die Philosophie mit sich.

Diese Geisteswissenschaften „plärr[t]en [bisher] für das Gefühl gegen den Intellekt“11 und verstanden sich somit als eine Art Gegenbewegung zu den starren und abgeschlossenen Formen der Mathematik. Nun sah sich der Dichter in eine Situation geworfen, die von einem starken Willen nach Ganzheitlichkeit beherrscht wurde. Dieser forderte die Erkenntnis von Rationalem und Irrationalem, von Rationalität und Sinnlichkeit, von Verstand und Gefühl als zwei Teile eines großen Ganzen:

„dieser Verstand frißt um sich und sobald er das Gefühl erfaßt, wird er Geist.“12

Nach diesem Verständnis bestehen die Literatur und auch das Leben an sich aus zwei sich ergänzenden bzw. sich vervollständigenden Hälften - der analytischen und der synthetischen.13 In Musils Debütroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß wird diese Verbindung der zwei Hälften des Daseins nun literarisch verwirklicht. Denn „nur von seinem stofflichen Sujet her kann man Musils Werk dem Schulroman zuordnen, in dem sich um 1900 die Krise der Erziehung und die Krisensituation des jungen Menschen [Törleß] spiegeln. Beide sind wiederum Teilaspekte einer gesellschaftlichen Gesamtsituation [deren Auswirkung auf die Mathematik als Wissenschaft bereits erläutert wurde].“14 Somit werden in Musils Debütroman - anhand der Figur eines jungen Mannes - das neue Weltbild und die damit einhergehenden Schwierigkeiten im Bezug auf erkenntnistheoretische Fragen dargestellt. Diesen daraus resultierenden Verwirrungen des Protagonisten versucht dieser auf verschiedene Weisen Herr zu werden.

Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt aufzuzeigen, inwiefern Robert Musil die Mathematik in seinen Debütroman als strukturierendes Element einbezieht und dieser Wissenschaft somit eine Schlüsselfunktion im Bezug auf die Verwirrungen seines Protagonisten verleiht. Durch eine konkrete Textarbeit, welche gerade jene Textpassagen untersuchen wird, in denen die Mathematik explizit genannt wird und als literarisches Motiv dem tieferen Verständnis des Romans dient, soll nun eben diese Wissenschaft der Zahlen, Fakten und Formen in den Bedeutungszusammenhang des Erstlingswerks eingeordnet werden.

2. Musil, Törleß und die Mathematik

Um die Bedeutung der Mathematik in Musils erstem Roman diskutieren zu können, soll nun zunächst die Frage geklärt werden, welche Rolle diese Wissenschaft für den privaten Menschen Robert Musil spielte. Denn auch wenn in dem jungen Törleß kein detailgetreues Abbild des Dichters Musil verstanden werden soll - was literaturwissenschaftlich ohnehin recht bedenklich wäre15 - war es doch eben dieser historische Mensch, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts einen Stift zur Hand nahm und dieses Werk zu Papier brachte, in dem er unter anderem die Mathematik als (vor allem strukturierendes) Motiv nutzt. So „wäre [es] ein arger Fehler, wenn man glauben wollte, die intensive berufliche Aktualisierung einer Denkweise, wie sie ein Studium darstellt, lasse die außerhalb dieser Haupttätigkeit liegenden Gebiete unberührt.“16 Im Umkehrschluss zeigt nun gerade Musils Debütroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, dass die Mathematik ein Thema ist, welches den Autor auch in seinem nicht-literarischen Leben beschäftigte.

2.1 Robert Musil. Eine (mathematische) Biographie

Die Kindheit Robert Musils war aufgrund der Karriere des Vaters, Alfred Musil, von vielen Wohnortwechseln geprägt. Somit besuchte der junge Robert, je nach Lehranstellung seines Vaters an verschiedenen Hochschulen, jeweils auch eine andere Schule. Im Fach Mathematik bleibt Robert Musil jedoch trotz dieser wechselnden, äußeren Umstände konsequent einer der Klassenbesten. Im Jahre 1898 beginnt Musil an der Deutschen Technischen Hochschule in Brünn sein Maschinenbaustudium, welches auch das Studium der Fächer Mathematik und Physik einschließt17. In dieser Zeit entstehen „trotz - oder wegen - des nüchternen, weltzugewandten Studiengangs […], für das er sich wohl auch auf Druck seines Vaters entschieden hat, […] die ersten lyrischen Texte Musils.“18 Musil schließt sein Studium nach einer relativ kurzen Studienzeit als geprüfter Ingenieur erfolgreich ab. In diesen Lebensabschnitt fällt auch ein Ereignis im Leben des jungen Studenten, das für sein Interesse an mystischen Erfahrungen bzw. der anderen Seite der Wirklichkeit von grundlegender Bedeutung ist: seine große aber unerfüllte Liebe zu Valerie. In dieser durch die unerreichbare Geliebte ausgelösten sinnlichen Erfahrung erlebt Musil das, was er später als den anderen Zustand, als ein „Leben nach ganz anderen Gesetzten“ beschreibt.19

Später, während eines Praktikums an der Königlich Technischen Hochschule Stuttgart, beginnt Musil sich mit dem Werk des Philosophen und Physikers Ernst Mach auseinanderzusetzen. Den österreichischen Denker und Gelehrten wählt Musil im Jahr 1908 dann auch zum Gegenstand seiner Dissertation, welche den Abschluss seines 1903 in Berlin begonnenen Philosophie- und Psychologie-, Mathematik- und Physikstudiums bildet.20 In dieser beschäftigte sich Musil mit der Erkenntnistheorie von Ernst Mach.21 Mach war „einer der Hauptvertreter des Empiriokritizismus“22, der vor allem im Bezug auf den DopplI, Physiologie, Mathematik und Psychologie berühren […]“23. Durch die Beschäftigung mit Ernst Mach lernt Musil „die erkenntnistheoretische Problematik des Wirklichkeitsbegriffs als eines der modernen naturwissenschaftlichen, wie philosophischen Grundprobleme [kennen].“24

Gerade im Bezug auf Musils ersten Roman wurde Machs‘ Einfluss auf den Autor Musil nachgewiesen. Dieser Einfluss bezieht sich auf das „Verhältnis von Bewusstsein und Wirklichkeit im Bereich der Erfahrung“. Und zwar insofern, als dass Mach die Sinneswahrnehmungen als höchste Instanz der menschlichen Erfahrung herausstellt und Musil diese Beschränkung kritisiert. Nach Musils Verständnis ist die sinnliche Wahrnehmung somit nicht die einzige Grundlage der Erkenntnis.25

Mit dem Ende seines Studiums endet auch Musils wissenschaftliche Beschäftigung mit den Gegenständen der Mathematik, obwohl ihn mathematische Probleme und erkenntnistheoretische Fragen auch weiterhin beschäftigen, was sich unter anderem in seinen Essays, Tagebüchern als auch in seinem gesamten literarischen Werk zeigt. Somit wird deutlich, dass das Werk Robert Musils ohne dessen mathematische Bildung und das allgemeine Interesse an der Mathematik in der heute erhaltenen Weise nicht möglich gewesen wäre. In der Vielseitigkeit Musils „zeigt sich [dessen] Zerrissenheit […] zwischen der rationalen, prosaischen Welt des Technikers und der romantischen Welt der Poesie“, die sich auch in seinen frühen lyrischen und prosaischen Schriften wiederspiegelt.26

Gerade im Bezug auf Musils ersten Roman müssen in Hinsicht auf die dazustellenden Zusammenhänge auch die Parallelen - wenn auch vorsichtig - berücksichtigt werden, welche zwischen dem Autor Robert Musil und seinem Protagonisten, dem jungen Herrn von Törleß, bestehen. „Musils erste bedeutende Veröffentlichung“27 basiert auf den persönlichen Erfahrungen des Autors, welche er „als Schüler in der Militär-Oberrealschule von Mährisch- Weißkirchen [machte und] die er von 1894 bis 1897 besuchte.“28 Natürlich ist Törleß kein genaues Abbild des Autors, weshalb an dieser Stelle nicht detailliert nach Parallelen zwischen der realen und der fiktiven Figur gesucht werden soll. Jedoch lassen sich verschiedene Vorkommnisse im Leben des Autors ausmachen, die eindeutig in sein Erstlingswerk eingeflossen sind. Ein Beispiel dafür ist, dass sich Musil selbst, ebenso wie sein Protagonist, von den Studien der kant`schen Transzendentalphilosophie schon in jungen Jahren eine letzte Antwort auf philosophische und in erster Linie erkenntnistheoretische Fragen erhoffte. Sowohl bei Törleß als auch bei dem 20jährigen Musil selbst scheiterte dieser Versuch jedoch.29

Nun stellt sich die Frage, inwiefern Musil seinen aus Studium und Beruf resultierenden Bezug zur Mathematik gerade in seinen ersten Roman einfließen lässt. Hierzu soll nun zunächst eine knappe Skizzierung der Situation folgen, in der sich die Mathematik zur Zeit der Werkentstehung befand. Anschließend wird sich ein kurzer Überblick über das Werk und die explizite Erwähnung der Mathematik anschließen, bevor die Bedeutung dieser Wissenschaft für den jungen Törleß textimmanent belegt und interpretiert wird.

2.2 Exkurs: Formalismus vs. Intuitionismus

Nun gilt es diese (mathematische) Biographie Robert Musils in ihren historischen Kontext einzuordnen. Hierbei sollen nun die beiden zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Folge der mathematischen Grundlagenkrise entstandenen Strömungen in der Mathematik - Formalismus und Intuitionismus - dargestellt werden. Ziel dieser Darstellung ist es, die im weiteren Verlauf vertretene These, dass es gerade der formalistische Ansatz ist, welcher auf das Denken des Robert Musil Einfluss nahm bzw. dessen Weltbild entsprach, auf ein inhaltliches Fundament zu stellen.

Durch den Wegfall der noch am Ende des 19. Jahrhunderts proklamierten mathematischen Grundwahrheiten30, sahen sich die modernen Mathematiker vor die Herausforderung gestellt, eine neue, moderne Mathematik zu entwerfen. Diese Krise beschreibt Robert Musil in seinem Essay Der mathematische Mensch von 1913 wie folgt:

„Und plötzlich, nachdem alles in schönste Existenz gebracht war, kamen die Mathematikerjene, die ganz innen herumgrübeln,- darauf, daß etwas in den Grundlagen der ganzen Sache absolut nicht in Ordnung zu bringen sei; tatsächlich, sie sahen zuunterst nach und fanden, daß das ganze Gebäude in der Luft stehe. Aber die Maschinen liefen! Man muß daraufhin annehmen, daß unser Dasein bleicher Spuk ist; wir leben es, aber eigentlich nur auf Grund eines Irrtums, ohne den es nicht entstanden wäre. Es gibt heute keine zweite Möglichkeit so phantastischen Gefühls wie die des Mathematikers.“31

[...]


1 Clifford, S.11.

2 Vgl. Billen, S.7.

3 Vgl. Bendels. S.12ff.

4 Ebd., S.14.

5 Ebd., S.27.

6 Die Auswirkungen dieser Krise und die aus ihr entstehenden Strömungen - Formalismus und Intuitionismus - werden im Laufe dieser Arbeit in Form eines Exkurses zum historischen Kontext näher ausgeführt.

7 maMe, S.1006.

8 Vgl. Ebd..

9 Vgl. Bendels., S.27f.

10 maMe, S.1007.

11 Ebd., S.1007.

12 Ebd., S.1007f.

13 Vgl. AuS.

14 Großmann, S.15.

15 Vgl. Kroemer, S.87.

16 Jäßl, S.55.

17 Schröder- Werle, S.33.

18 Kroemer, S.62.

19 Vgl. Ebd. S.63.

20 Corino, S.122f und Schröder- Werle, S.33.

21 Vgl. Großmann, S.88.

22 Jäßl, S. 264.

23 Diersch, S.28ff.

24 Jäßl, S.264.

25 Vgl. Großmann, S.88.

26 Vgl. Kroemer, S.62.

27 Roseberry, S.30.

28 Ebd..

29 Kroemer, S.110.

30 Ebd. S.32.

31 maMe, S.1006.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die Entwirrungen des Zöglings Törleß
Untertitel
Die (strukturelle) Bedeutung der Mathematik in Musils Debütroman
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Veranstaltung
Hauptseminar NDL
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
22
Katalognummer
V194100
ISBN (eBook)
9783656193661
ISBN (Buch)
9783656194408
Dateigröße
581 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Formalismus, Immanuel Kant
Arbeit zitieren
Meike Völz (Autor:in), 2012, Die Entwirrungen des Zöglings Törleß, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194100

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