Helmut Krausser - Tagebücher: Exhibitionismus für Voyeure? Zum Anteil des Anstößigen in Zeiten totaler Öffentlichkeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

32 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Gliederung

1. Vorbemerkung

2. Exhibitionismus und der Anteil des Anstößigen in Kraussers Tagebüchern
2.1 Privatleben
2.1.1 Alltagsexhibitionismus
2.1.2 Beziehung zu Beatrice
2.2 Erotik und Sexualität
2.2.1 Voyeuristisch-distanzierte Beobachtungshaltungen
2.2.2 Sexuelle Darstellungen/Aussagen
2.3 Freunde
2.3.1 Verallgemeinerte Aussagen
2.3.2 Aussagen über Einzelpersonen
2.3.3 „Spezialfreund“ Dirk
2.4 Personen des öffentlichen Lebens
2.4.1 Schauspieler, Regisseure, Schriftsteller etc.
2.4.2 Feuilleton
2.5 Gesellschaftskritische Darstellungen
2.5.1 Amerikanisierung und Kulturverfall
2.5.2 Antisemitismus und Holocaust

3. Zum Anteil des Anstößigen in Zeiten totaler Öffentlichkeit

4. Schlußbetrachtung

Literaturverzeichnis

Handout / Zusammenfassung

1. Vorbemerkung

Im Mai 1992 beginnt Helmut Krausser jeweils einen Monat pro Jahr Tagebuch zu führen. „Anlaß der Niederschrift war, wie man hört, eine momentane Eingebung, die Lust so etwas zu versuchen.[1] Dieses „Experiment“ beabsichtigt er bis 2003 weiterzuführen. Jährlich soll ein neuer Tagebuchband erscheinen, der an den Monat des vorhergehenden Bandes unmittelbar angrenzt, bis die Reihe schließlich alle zwölf Monate umfaßt und insgesamt eine zwölfjährige Periode gleichsam zu einem „Kunstjahr“ amalgamiert ist.

Tagebuchschreiben – für viele eine Notwendigkeit, eine Art Ventil ihrer Impulsivität, das Beruhigung herbeiführt, oder ein „grausamer Partner[2], den man nicht belügen kann, da man letztendlich nur sich selbst gegenüber untreu werden würde. Tagebücher haben viele Rollen: sie sind zumeist eine Art Selbstgespräch und dienen ihren Schreibern zur Auseinandersetzungen mit sich selbst und mit anderen, zur Gewissenserforschung und zur Reflexion, können also Orte der Bekenntnis, Spiegel der eigenen Seele oder der Welt sein.[3] Nicht selten besitzen Tagebücher die Funktion eines Erlebnisreservoirs oder werden zum Übungsfeld schriftstellerischer Versuche. „Im Ansehen des breiten Publikums, aber auch bei einigen seiner Interpreten, gilt das Tagebuch als eine ausgesprochen intime Form literarischer Gestaltung. Vielfach wird der Wert eines einzelnen Tagebuchs sogar ausdrücklich nach seinem mehr oder weniger ‚privaten‘ Charakter beurteilt.“[4]

Kraussers Tagebücher überschreiten die Grenze vom Privaten zum Öffentlichen, denn sie sind von vornherein auf ihre Veröffentlichung hin konzipiert. Schreiben wird zur beabsichtigten literarischen Produktion und tritt in Kontrast zum eher spontan-beiläufigen, zufälligen und v.a. auch intimen Charakter eines privaten Tagebuchs.

Krausser schreibt somit im Hinblick auf eine implizite, möglicherweise auch bewußt intendierte Leserschaft. Indem er Gefühle, Einstellungen und Privates preisgibt, betreibt er eine Form von Exhibitionismus und setzt sich dadurch freiwillig der Kritik aus.

Die Neigung Kraussers zur eigenen Zurschaustellung ist nicht zu übersehen. Dennoch setzt er innerhalb seines Exhibitionismus „Öffentlichkeitsgrenzen“ und be- bzw. überarbeitet seine Tagebücher in dementsprechender Weise: Das Bewußtsein der Publikation führt ihn zu einer Redigierung, einer Art Selbstzensur. Er streicht

„einige allzu intime Stellen, einige tagespolitische Kommentare, literarische Einfälle, die den Weg in die Melodien oder ein anderes Werk gefunden haben, sowie Stellen, die den strafrechtlichen Bestand der Beleidigung erfüllt hätten“[5]

Es ist daher davon auszugehen, daß Krausser alle Inhalte bzw. Aspekte, die er in seine Aufzeichnungen aufnimmt, sehr bewußt ausgewählt hat, sehr wohl in dem Wissen, stets an der Schwelle des Provokanten zu schreiben.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu hinterfragen, ob Krausser mit/in seinen Tagebüchern „Exhibitionismus für Voyeure“ betreibt. Ein Hauptaugenmerk liegt darauf, herauszustellen, in welchem Grad der Autor seinen Exhibitionismus auslebt und somit für sich selbst definiert. Wo liegen die Grenzen seines Exhibitionismus? Mit welchen Ausführungen bewegt er sich bereits im Bereich des Anstößigen? Inwiefern dienen die exhibitionistischen Einblicke der Tagebücher dem Leser zur Befriedigung seiner (falls überhaupt vorhandenen) voyeuristischen Interessen?

Zunächst ist herauszuarbeiten, in welchen Bereichen Krausser als Exhibitionist tätig wird und wo er sich dem Bereich des Anstößigen nähert. Hauptsächlich herangezogen werden die Tagebücher „Juli“ 1994, „August“ 1995 und „September“ 1996; an einigen Stellen sind auch die Tagebücher „Mai“ 1992 und „Juni“ 1993 mitheranzuziehen, um der Darstellung eines Gesamtbildes gerecht zu werden. Außerdem tragen Zeitungsartikel, Rezensionen und Interviews mit dem Autor zur Verdeutlichung und zum besseren Verständnis einiger Tagebuchpassagen bei.

Abschließend ist der Frage nachzugehen, ob ein Autor – in Zeiten (scheinbar) totaler Öffentlichkeit – durch Exhibitionismus überhaupt noch anstößig sein bzw. wirken kann!

2. Exhibitionismus und der Anteil des Anstößigen in Kraussers Tagebüchern

Das Wort „Exhibitionismus“ – vom lateinischen „exhibere“ abgeleitet - bezeichnet zum einen die schlichte Darbietung oder Vorführung im Sinne von (vor)zeigen, erscheinen oder sehen lassen, beinhaltet aber auch den Aspekt, daß etwas Verstecktes, Unbekanntes, Ungeahntes zum Vorschein gebracht wird. Desweiteren charakterisiert „exhibere“ die Tätigkeit des Herausholens, des Herbeibringens, insbesondere eine Person(zum Verhör, zur Bestrafung u.a.) herschaffen.[6]

Vor allem die zuletzt erwähnte Bedeutung gewinnt hinsichtlich Kraussers Tagebüchern eine besondere Bewandtnis. Unternimmt man nämlich den Versuch, die Tagebucheintragungen in verschiedene Kategorien von Exhibitionismus einzuteilen, kommt man zu folgendem Ergebnis: Auf der einen Seite betreibt Krausser eine Art Seelenexhibitionismus, indem er sich selbst, seine Meinungen und Einstellungen zu verschiedenen Bereichen offen darlegt und seine Leser an nahezu jedem „Denk- und Wahrnehmungsprozeß“[7] detailliert teilnehmen läßt; andererseits exhibitioniert er andere Personen, indem er deren Charaktere der Öffentlichkeit ausliefert und private Detailsüber diese Personen preisgibt. Bei Kraussers dargestellten subjektiven Sichtweisen, die zumeist einen provokativen Beigeschmack besitzen, bleiben Beleidigungen und Angriffe auf die Menschenwürde nicht aus, wodurch die betreffenden Personen bloßgestellt, kritisiert und nahezu angeklagt werden. Wenn man bedenkt, daß der Autor diese Aussagen durchaus bewußt in sein Tagebuch aufnimmt, wie oben bereits erwähnt, kann ein gewisser Grad an Anstößigem nicht ganz zurückgewiesen werden.

Der Autor äußert sich selbst zum Thema „Anstößigkeit“ und bringt damit seine persönliche Einstellung zum Ausdruck:

„Alles was in Sachen Ästhetik über leichte Anstöße hinausgeht, gilt als primär anstößig. Warum so verurteilenswert vorsichtig sein?“[8]

Daraus geht hervor, daß Krausser nicht die Absicht hat, vorsichtig zu sein und auf irgendetwas/irgendjemanden Rücksicht zu nehmen. Er legt bei seinen Ausführungen keinen gesteigerten Wert auf Harmonie, die der Ästhetik eindeutig zuzuordnen ist. Und tatsächlich geizt er innerhalb seiner Tagebücher nicht mit Kühnheiten und Wagnissen[9] und verhält sich „in seinen Formulierungen oft wenig wählerisch, ja geradezu flegelhaft“.[10]

Im folgenden soll nun der in den Tagebüchern aufzufindende Exhibitionismus – unter besonderer Berücksichtigung des Anteil des Anstößigen - näher beleuchtet werden

2.1 Privatleben

2.1.1 Alltagsexhibitionismus

Innerhalb der Tagebücher exhibitioniert Krausser seinen Alltag und damit verbunden auch ein Stück weit sich selbst. „Putzen, einkaufen, essen, saufen, fernsehen, lesen – der Dichter liebt, haßt, geht seinen Passionen nach, überwindet Depressionen, Arbeitskrisen und gibt sich im Freundeskreis die Kanne."[11] Sei es nun eine zweite Biertischgarnitur(S.9), seine Leidenschaft für Musik und Opern (z.B. S.190f.), seine nächtliche Schreibwerkstatt im Gartenhäuschen (z.B. S.37,S.136,S.194), die selbstgemachten Safrannudeln (S.144), der Urlaub in Italien (S.199ff.), das zerrüttete Verhältnis zu seinen Eltern (S.170) oder aber auch der Kontostand, der auf die Vierstelligkeit gerutscht ist (S.26) – der Rezipient kann den Lebensrhythmus, das Alltagsleben und die Person des Helmut Krausser en detail zur Kenntnis nehmen. Und der Alltag ist vollgepackt mit verschiedensten Tätigkeiten und Interessensfeldern, wobei der Diarist seine persönlichen Sichtweisen, seine Gedanken, Charaktereigenschaften, Gewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen und sogar seine Träume offen darlegt, indem er beinahe jede Tätigkeit, jeden Denk- und Wahrnehmungsprozeß fast minutiös aufzeichnet:

„Traum: Ein grauer Palast am Zusammenfluß zweier unterirdischer Ströme (...) Mittags bei prallster Hitze auf dem Flohmarkt (...) Gegen sechs kamen Bernhard und Petra, wir fuhren baden. Dabei einige Male den Bumerang ausprobiert, eher durchschnittliche Ergebnisse (...) Die Portionen im <Alten Wirt> (Krailing) sind immer noch monströs (...) Z.B. gibt es für 7 DM soviel Emmentaler, wie er bei Tengelmann das Doppelte kosten würde. (...) Wie fast immer diesen Sommer kann ich zum Verlauf der Gespräche wenig beitragen, bin tranig und öd. Früh schon nach Hause (...) Im Fernsehen die blöde Bondy-Inszenierung von Figaros Hochzeit. (...) 4 Uhr. Was für eine beschissene Nacht. Trübselig, ideenlos (...) Bin ich schon blödgesoffen? Ich kann nicht mehr denken. (...) Keine Lust etwas zu lesen.“[12]

Auch wenn dabei auf den ersten Blick relativ wenig ausgesagt wird, so kann sich der Leser nach und nach doch auch aus diesen Informationen ein Gesamtbild von Kraussers Alltagsgestaltung machen. Diese stenographische Schilderungen verteilen sich über die gesamten Tagebücher und werden durch ausführlicher dargelegte Gedankengänge ergänzt, so daß die Aufzeichnungen - wie eine Art Collage – das Wesen des Autors mehr und mehr aufdecken; d.h. aber auch so darstellen, wie Krausser sich selbst dargestellt haben will.

Aber nicht nur durch diese Darstellungen gewährt der Autor Einblicke in seinen Alltag und in sein Seelenleben, sondern auch durch die Schilderung seiner Beziehung treibt er seinen „freiwilligen Exhibitionismus“ voran.

2.1.2 Beziehung zu Beatrice

„Ich suchte ein Wesen, in dessen Gegenwart ich dumm sein durfte und zärtlich, albern, nicht zitierfähig, peinlich bis zur Ehrlichkeit, kitschverdächtig, in unverstellter Liebe, unmaskiert, wahrhaftig, häßlich. Unter den Ohren der Geliebten furzen zu dürfen, ohne auf der Schmachtskala abzufallen – diesen Grad der Vertraulichkeit erreichen...“[13]

In der Beziehung zu Beatrice – seit 1991 mit Helmut Krausser verheiratet[14] - hat der Autor anscheinend das gewünschte Vertrauen gefunden. Zwar finden sich innerhalb der Tagebücher keine ausführlicheren Passagen, welche tieferen Einblick in die Beziehung geben würden, allerdings werden gemeinsame Unternehmungen und Erlebnisse (wobei die gemeinsame Italienreise heraussticht) genannt: „Mit Beatrice gedümpelt, sahen uns einfach nur die Sonne an und wurden blind davon.“[15]

Im Tagebuch des Juni schreibt Krausser: „Wir entwickeln langsam unseren privaten Dialekt. Ich sollte alle diese Beispiele mal sammeln.“[16]

Diesem Vorhaben wird der Autor innerhalb seiner Tagebücher durchaus gerecht, denn es lassen sich relativ häufig kürzere Aussagen oder Gesprächsausschnitte auffinden, die sich vorwiegend auf der humorvollen Ebene abspielen und dadurch einen gewissen Unterhaltungswert liefern:

„Vor Wochen bat mich Beatrice, ihr die Butter zu reichen.

Sie: „Dunke.“

Ich: „Butte.“

Wir mußten so viel lachen, daß wir jetzt fast immer dunke und butte sagen, auch im

Beisein von Freunden, die das aufgreifen und weitertragen.“[17]

Zwar sind es meist nur sehr allgemein gehaltene und relativ unbedeutende Gesprächsinhalte, jedoch kann dadurch die Frage aufgeworfen werden, ob nicht gerade dadurch das Allerprivateste preisgegeben wird, da der Leser dadurch die Möglichkeit bekommt, relativ direkt an der Nähe der beiden teilzuhaben.

Während dem Leser durch diese „Gesprächssammlung“ durchaus die Gelegenheit gegeben wird, am harmonischen Miteinander des Ehepaars teilhaben zu können, bleiben ausführlichere emotionale Auseinandersetzungen nahezu gänzlich ausgeklammert. Auch tiefergehende private und persönliche Probleme werden nur andeutungsweise und oberflächlich angeschnitten. Außer der panikartigen Sorge, daß seiner Frau etwas zugestoßen sein könnte, wenn sie nicht absolut pünktlich eintrifft[18], findet man innerhalb der Tagebücher weitestgehend keine Textpassagen, bei welchen sich Krausser tiefere Gedanken um seine Lebensgefährtin und seine Beziehung macht.

Zwar werden Krisensituationen(die eigentlich Grundlage für Reflexionen bieten sollten) und deren Ursachen angesprochen, allerdings bleiben sie dennoch weitestgehend diskret, da keine weiteren Einzelheiten und kein näheres Eingehen darauf erfolgt:

„Krisis. Beatrice und ich gestehen einander schlechte Gewohnheiten, Unaufmerksamkeiten ein. Die Faulheit gegenüber dem andern ist ein bösartiger Virus. Man tut zuwenig dagegen, daß sich die Tage wie Eier gleichen, hat die eigene Reizbarkeit oft nicht mehr unter Kontrolle. Begreift die Liebe zu sehr als Trophäe, denn als immer neue Aufgabe. Wir sprachen offen alles an, versprachen uns einander neu, gelobten Achtsamkeit. Tiefer Moment.“[19]

Hierbei wird keine konkreten Einzelsituationen aufgezeigt. Das Gesagte wirkt wie eine aus der Distanz und von außen abgegebene Zustandsdiagnose ohne emotionale Beteiligung. Eine absolute Selbstoffenbarung, wie sie in Tagebüchern durchaus zu finden ist, sucht man in bezug auf Helmut Krausser und seine Beziehung nahezu vergeblich. Einzig die Anmerkung „tiefer Moment“ stellt andeutungsweise ein emotionale Stellungnahme seitens des Autors dar. Die wirkliche Ursache, beispielsweise eine bestimmte Handlung, die zum Streitauslöser wurde, bleibt außen vor.

Auch an anderen Stellen gibt sich der Autor wenig analytisch und lediglich kürzeste Anmerkungen deuten seine tieferen Emotionen an:

„Zehn Jahre mit Beatrice. Uns zu Ehren lief mehrmals das Liebesduett aus <La Rondine>, wir lagen uns lange schweigend in den Armen. Danach, ausgerechnet heute, Spannungen. Bogen’s aber wieder hin. Wenn man sich die Intensität einer solchen Beziehung deutlich macht, das Glück, das nötig ist, so etwas zustande kommen zu lassen, müsste man Götter erfinden, um ein Dankgebet zu sprechen.“[20]

Krausser deutet zwar bestimmte Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen, die zu Streitigkeiten führen könnten an, trotzdem spart er nahezu weitgehend allzu intime Details aus und will offensichtlich keine näheren emotionalen Ausführungen über seine Beziehung ablegen:

„Beatrices Dünnhäutigkeit multipliziert sich mit meiner Starrsucht zu eruptiven kleinen Szenen, die sich aber immer in Versöhnung zerlösen.“[21]

Krausser spricht viele Bereiche seiner Beziehung an, und so finden sich auch Darstellungen auf der erotischen und sexuellen Ebene der Partnerschaft:

„Wir haben den Rohbau unserer künftigen Wohnung besucht, uns wild gekost dabei, danach den halben Tag im Bett verbracht, wie frisch Verliebte, sehr spannend und entspannend“[22]

Beatrice wird durchaus als Objekt von Kraussers Begierde dargestellt, die in einem toll geschnittenem Hemdchen „klasse“[23] auf ihren Mann wirkt und ihm ihre neuen Handschuhe in „schwarzen Stöckeln und sonst wenig[24] präsentiert, allerdings bleiben die Darstellungen auch hier sehr diskret: So werden „zärtliche Momente[25] und verspielte Nachmittage[26] angedeutet, aber auch hier gibt der Tagebuchschreiber nichts allzu Intimes preis, da er bei den ohnehin selten aufzufindenden Ausführungen sehr objektiv betrachtend bleibt.

Wahrscheinlich macht jedoch für Krausser gerade diese Art der Darstellung das Erotische aus, denn er äußert sich zu diesem Thema selbst im Tagebuch des August:

„Habe die erotische Weihnachtsphantasie für Cosm. [=Cosmopolitain, K.M.] geschrieben. Für eine Rohfassung schon ziemlich gut, wenngleich das Erotische nur im Kopf des Lesers stattfindet, die Story eher züchtig bleibt.“[27]

Somit bietet Krausser seinen Lesern gewisse erotische Vorgaben, die sie mit ihren eigenen Bildern zu füllen haben. Dadurch bekommt die Beziehung des Autors individuelle Züge, je nachdem, wie der jeweilige Leser sich diese Situationen ausmalt; und dem Autor gelingt es, im Bereich des Erotischen, Exhibitionismus vorzutäuschen.

Krausser gewährt seinen Lesern Einblick in seine Beziehung, exhibitioniert dabei sich und seine Lebensgefährtin ein Stück weit, indem er schöne und weniger schöne Momente der Beziehung - zumindest andeutungsweise - sichtbar macht. Allzu tiefgreifende und detaillierte Beschreibungen, welche zu sehr in die Privat- und Intimsphäre eindringen würden, stellen für ihn offenbar eine Grenze seiner Zurschaustellung dar. Damit legt Krausser eindeutig fest, wieweit sein Exhibitionismus hinsichtlich seiner Beziehung gehen darf – alles, was darüber hinausgehen würde, wäre für ihn selbst vermutlich zu indiskret, provokant und anstößig.

2.2 Erotik und Sexualität

2.2.1 Voyeuristisch-distanzierte Beobachtungshaltungen

Krausser ist offenbar selbst gerne als Voyeur tätig. Seine Lust am Schauen, Beobachten und Belauschen kommt innerhalb der Tagebücher deutlich zum Vorschein:

„Schräg über mir (multipler Wortsinn) lebt ein altes Geschwisterpaar. Sie geht mittags zum Supermarkt, wir grüßen uns freundlich. Und sie lächelt aus ihrem roten, zerrissenen Gesicht, zieht einen Handwagen hinter sich her. Er verläßt so gut wie nie die kleine Wohnung. Beide tragen tagsüber Sonnenbrillen, in der Nacht trinken sie und fluchen, halblaut, unverständlich. Beide sehen Geister, begegnen denen mal mit Angst, mal mit Spott. Mehr weiß ich nicht, mehr zu wissen drängt mich nichts.“[28]

Dadurch weist er durchaus die für einen Voyeur typische Verhaltensweise auf: nämlich die des distanzierten Beobachtens! Es scheint als ob der Diarist seine Umgebung stets im Blickfeld behält – nicht nur im nachbarschaftlichen Bereich, sondern vor allem auch im Bereich des Erotischen und Sexuellen – und hier besonders beim weiblichen Geschlecht, bei dem der Diarist seine Schaulust und sein offenes Ohr für alles, was auch nur im entferntesten seine Neugier weckt, nicht mehr verheimlichen kann. Dabei werden auch eigene Interpretationen, Vorstellungen oder Schilderungen, die in den Bereich des Sexuellen oder des Erotischen übergehen, angestellt:

„Eine Frau im Supermarkt murmelte, sie habe ein feuchtes Häschen/Näschen/Höschen – es war nicht genau zu verstehen -, und im selben Moment schob sie schon ihren Wagen zur Kasse, dort nämlich stand gerade niemand an, was einen unbezwingbaren Sog auf sie auszuüben schien.“[29]

Selbst Beschreibungen, die zunächst sachlich und ohne viel Kommentierung erscheinen, verraten auf den zweiten Blick die voyeuristische Tendenz des Autors:

„Am Spätnachmittag baden gegangen im Allinger Weiher, der sich stark abgekühlt hat. Viele nackte Frauen strecken ihren Pelz in die Sonne.“[30]

Ob es sich nun um eine „Sie, mit glänzend-höllenschwarzem Haar, mit weißem Lächelgebiß, das Unschuld suggeriert“[31] oder um „eine wunderschöne Frau mit ewig langen Beinen und einem atemberaubend kurzen Rock“[32] handelt - immer wieder tauchen kurze voyeuristische Schilderungen von Frauen innerhalb der Tagebücher auf, die Kraussers Schautrieb exhibitionieren.

Der Aspekt des Anstößigen kommt dabei insofern zum Tragen, als Krausser Frauen dadurch oftmals zu reinen Anschauungsobjekten degradiert:

„Viel Reizfleisch unterwegs heut‘ nacht. Am gegenüberliegenden Tisch eine Langbeinblondine in Very Very Shorts – aber sie könnte auch überhaupt nichts anhaben, ihren blanken Pelz präsentieren, wär egal.“[33]

[...]


[1] Falcke, E.,S.22

[2] vgl. Canetti, E., Dialog mit dem grausamen Partner

[3] siehe auch: Boerner, P.,S.17

[4] Boerner, P.,S.25

[5] Krausser, H.(1995), S.6

[6] Menge, Hermann, S.16

[7] Behrendt, Eva, S.14

[8] Krausser, H., S.44

[9] vgl. Falcke, E., S.22

[10] Hagestedt, L., „Der würdige Greis und der junge Flegel“

[11] Behrendt, Eva, S.14

[12] Krausser, H., S.134 ff.

[13] Krausser, H., S.47

[14] vgl. Hagestedt, L., „Helmut Krausser“, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen GegenwartsliteraturS.1

[15] Krausser, H., S.98

[16] Krausser, H.(1995), S.173

[17] Krausser, H., S.88

[18] vgl. Krausser, H.(1995), S.216 und Krausser, H., S.163

[19] Krausser, H., S.76

[20] Krausser, H., S.33

[21] Krausser, H., S.80

[22] Krausser, H. (1995), S.194

[23] vgl. Krausser, H., S.117

[24] Krausser, H., S.135

[25] Krausser, H., S.187

[26] vgl. Krausser, H., S.172

[27] Krausser, H., S.152

[28] Krausser, H., S.50f.

[29] Krausser, H. S.154

[30] Krausser, H.(1995), S.222

[31] Krausser, H., S.108

[32] Krausser, H., S.270

[33] Krausser, H., S.121

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Helmut Krausser - Tagebücher: Exhibitionismus für Voyeure? Zum Anteil des Anstößigen in Zeiten totaler Öffentlichkeit
Hochschule
Universität Augsburg  (Lehrstuhl Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Hauptseminar: Das Tagebuch zwischen Arbeitsbuch und Homepage
Note
2,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
32
Katalognummer
V27300
ISBN (eBook)
9783638293853
Dateigröße
892 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Inkl. 4 Seiten Handout.
Schlagworte
Helmut, Krausser, Tagebücher, Exhibitionismus, Voyeure, Anteil, Anstößigen, Zeiten, Hauptseminar, Tagebuch, Arbeitsbuch, Homepage, literaturwissenschaft, literatur
Arbeit zitieren
Katrin Miller (Autor:in), 2000, Helmut Krausser - Tagebücher: Exhibitionismus für Voyeure? Zum Anteil des Anstößigen in Zeiten totaler Öffentlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27300

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