Der altdeutsche Physiologus - Seine Tiersymbolik unter dem Aspekt des mehrfachen Schriftsinns und christlicher Allegorese.


Hausarbeit, 2004

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsübersicht

1. Einleitung

2. Zur Charakteristik des Physiologus
2.1. Allgemeine Informationen und Entstehungsgeschichte
2.2. Der altdeutsche Physiologus

3. Der mehrfache Schriftsinn in der Bibelhermeneutik
3.1. Charakteristik und Funktionsweise der Schriftsinne
3.2. Bedeutung der Schriftsinne für den Physiologus

4. Tierbeschreibungen im altdeutschen Physiologus exemplifiziert an vier Darstellungen
4.1. Allgemeine Bemerkungen
4.2. Der Löwe
4.3. Die Schlange
4.4. Der Elefant
4.5. Der Ibis

5. Belehrungsanspruch der „Naturkundigen-Schrift“ und kurze Gesamtbeurteilung des Physiologus

6. Fußnoten

7. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

„Gewiss eine der merkwürdigsten Erscheinungen der gesamten Literatur ist das Buch, das wir unter dem Namen »Physiologus« kennen […]“1 – das bemerkt schon Friedrich Lauchert über jenes Werk, das im Zentrum der folgenden Untersuchung steht. Tatsächlich wird man sich des Eindruckes nicht erwehren können, dass diese Schrift eine Sonderstellung in der Literaturgeschichte beansprucht, sobald das Augenmerk auf ihre Wirkungsgeschichte2, ihre über viele Jahrhunderte fortdauernde Tradierung sowie die zahlreichen handschriftlichen Sonderfassungen gerichtet wird. So ist um kaum ein anderes Werk hinsichtlich seiner Quellenfragen eine so umfassende und bisweilen kontroverse Diskussion geführt worden, ohne dass heute von einer wirklich gesicherten Erkenntnis über Entstehungszeit, Abfassungsort und Gestalt des Archetypus gesprochen werden kann. Obgleich die oftmals in der Forschungsliteratur für den Physiologus angewandte Diminutivkennzeichnung „Büchlein“3 verwunderlich anmuten mag, so kann es nicht über den unbestrittenen Autoritätsrang hinwegtäuschen, dessen es sich im Mittelalter rühmen konnte, denn neben der Bibel galt es als wesentliche Quelle der patristischen Dingexegese und besaß einen lang anhaltenden Vorbildeinfluss auf die Naturlehre des Mittelalters. Was genau sich hinter diesem Physiologus, dessen Bezeichnung aus dem griechischen Wort Fusiologoz (physiológos = Naturforscher, Naturkundiger)4 abgeleitet wird, verbirgt und von welcher Beschaffenheit das Buch ist, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.

Die Arbeit soll zunächst über die Entstehungsgeschichte und die allgemeinen Cha-rakteristika der unterschiedlichen Physiologus-Schriften informieren, bevor sie den altdeutschen Physiologus – vor allem die Millstätter Reimfassung in ihrer kritischen Transkription, in der sie von Friedrich Maurer herausgegeben wurde5, fokussiert. In einem weiteren Themenkomplex sind dann die Grundlagen über den geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter zu vermitteln, bevor ich mich der Millstätter Reimfassung in speziellem Bezug auf ihre Symbolik widmen werde. In Kapitel 5 sind schließlich in nuce der zu bestimmende Belehrungsanspruch des Physiologus im Mittelalter und eine kurze Zusammenfassung zu geben. Die Auflistung der Fußnoten erfolgt – der Übersichtlichkeit halber vor dem abschließenden Quellenverzeichnis.

2. Zur Charakteristik des Physiologus

2.1. Allgemeine Informationen und Entstehungsgeschichte

„Ir sult an disen stunden von wises mannes munde / eine rede suochen an disem buoche. / Phisiologus ist ez genennet, von der tiere nature ez uns zellet.“6 Die einführenden Worte im Physiologus der Millstätter Reimfassung lassen vermuten, dass es sich bei dem Physiologus um den Titel des Buches handelt. Betrachtet man hingegen die griechische Physiologus-Schrift, so gibt die präliminäre Formulierung „O Fusiologoz elexe“7, die mehrfach zu Beginn eines Abschnittes vorausgeschickt wird, den Verfasser selbst als Physiologus aus. Letzteres scheint sich durch intensive Forschungen von literaturwissenschaftlicher Seite aus bestätigt zu haben. So weisen sowohl Lauchert als auch Henkel sowie Seel darauf hin, dass der Name Physiologus nicht als Buchtitel zu verstehen ist, sondern als Synonym für eine naturwissenschaftliche Autorität gebraucht wird, der jene „Naturkundigen-Schrift“ zugeschrieben wird, die wir gemeinhin unter dem Namen Physiologus kennen. Dem Physiologus liegt zunächst ein rein naturwissenschaftliches Buch zu Grunde, dem er durch Bearbeitung eine christlich-symbolische Dimension beifügt. Sowohl der Verfasser des Naturbuches, als auch der christlich-allegorisierende Bearbeiter, welcher das Naturbuch zitiert, sind anonym oder zumindest nicht gesichert überliefert. Obgleich vereinzelte Physiologus-Versionen diverse Hinweise über einen Autor enthalten8, so scheinen sich jene Namensnennungen entweder aus reinen Missverständnissen in Folge der Tradierung oder erst in weitaus späteren Überlieferungen ergeben zu haben. Ferner bezeichnet Henkel die Frage nach der Verfasserschaft des naturkundlichen Buches als sekundär, wobei er jedoch bemerkt, dass sich „so einheitliche Bearbeitungstendenzen [zeigen], besonders bei den Tiergeschichten, daß man eine Bearbeiterpersönlichkeit unbedingt wird annehmen müssen.“9

So gelangen wir schließlich zu einem Buch, das sowohl lebende als auch tote Materie – nämlich Tiere, Pflanzen und Steine beschreibt und sie in einen bestimmten Zusammenhang stellt: Eine naturgeschichtliche Schilderung des betreffenden Wesens respektive des Gegenstands wird mit einer Bibelstelle verbunden, in der das Wesen bzw. das Ding erwähnt wird, an die sich nun eine typologische Deutung auf Christus, den Teufel oder den Gläubigen hin anschließt.

Trotz der Unsicherheiten, die hinsichtlich der Quellfragen bestehen, worauf bereits in der Einleitung hingewiesen wurde, sei nun doch auf weitgehend fundierte Datierungen hingewiesen.

Henkel rekapituliert in seinen Studien zum Physiologus im Mittelalter die neuere dies-bezügliche Forschung und weist auf Datierungsdifferenzen unterschiedlicher Wissenschaftler hin; doch befürwortet er deutlich eine zeitliche Einordnung des Ur-Physiologus in das 2. Jahrhundert. Während Petersons Theorie, das Jahr 385 als terminus post quem anzusetzen, von Ursula Treu entschieden zurückgewiesen wurde, ist sie selbst der Auffassung, der Physiologus habe schon Origenes (185-254) vorgelegen. Somit sei ein Zeitpunkt gesetzt, zu dem er spätestens hat existieren müssen, was auch bei Henkel auf Zustimmung stößt. Lauchert will im Physiologus der Urform deutliche Tendenzen der häretischen Gnosis in ihren Anfängen erkennen, was für ihn zu einem noch früheren, aber durchaus gesicherten terminus ante quem führt: „Es weist aber also Alles darauf hin, dass die Entstehung des Buches vor 140 fällt […]“10 Für Henkel habe auch die Datierung Laucherts „viel für sich“11, so dass der Physiologus in jedem Fall auf das 2. Jahrhundert angesetzt werden kann.

Bei der Lokalisierung der Physiologus-Entstehung, vor allem in Hinblick auf die Tiererzählungen, habe man nach Henkel das ägyptische Alexandria anzusehen:

Alexandria war seit dem Hellenismus das Zentrum der antiken Wissenschaft, aber auch zahlreicher mystischer Strömungen. Hier entstehen zahlreiche Kollektaneen von Wundergeschichten, deren Wirkung etwa bei Plinius und Aelian deutlich zu sehen ist. Zudem wurde es bereits in der Mitte des 2. Jhs. Zentrum des Christentums in Ägypten […]. Neben jüdischen, christlichen und heidnisch-mystischen Strömungen war hier auch ein Mittelpunkt antiker Naturwissenschaft und ägyptischer Götterverehrung.12

Zwar weist Henkel auf einen Vorschlag Max Wellmanns hin, der den Entstehungsraum nach Syrien verlegt, doch ist dieser Theorie auf Grund ihrer fehlenden kausalen Logik mehrfach widersprochen worden.13

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der griechische Archetypus des Physiologus’ mit hoher Wahrscheinlichkeit während des 2. Jahrhunderts im ägyptischen Alexandria entstand. Nach der Auffassung Henkels, der sich dabei auf Francesco Sbordone beruft, lässt sich der griechische Physiologus insgesamt in vier Redaktionen einteilen, deren erste als Vorlage für die spätere Übertragung in das Lateinische diente, auf denen wiederum sämtliche abendländischen Fassungen und mithin auch die altdeutschen Versionen beruhen.

2.2. Der altdeutsche Physiologus

Deutsche Physiologus-Übersetzungen sind lediglich aus dem 11. und 12. sowie, unabhängig davon, im 15. Jahrhundert überliefert. Im Mittelpunkt der Untersuchung sollen hier jedoch nur die altdeutschen Fassungen des 11. und 12. Jahrhunderts stehen. Bei einer Analyse der Makrostruktur lässt sich bei ihnen ein Verwandt-schaftsverhältnis zum Physiologus Theobaldi sowie der Dicta Chrysostomi feststellen. Lauchert lokalisiert den jüngeren deutschen Physiologus auf österreichischem Boden, auf dem er vermutlich vor Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden ist, von seiner Sprachform zwischen Alt- und Mittelhochdeutsch steht und vollständig erhalten ist. Friedrich Maurer weist bei seiner Ausgabe darauf hin, dass die mittelhochdeutschen Texte der Wiener Prosa und des Millstätter Reimwerks mit Hilfe des schema homoeoteleuton in Verse gebracht wurden. Zusätzlich zu den mit Eigennamen oder direkten Reden beginnenden Versen, greift Maurer bei Abschnitten mit neuen gedanklichen Zusammenhängen auf die Initialtechnik zurück. Dies führt im Millstätter Reimphysiologus zu Stropheneinheiten, die sich von zwei bis auf acht Zeilen erstrecken können und fortwährenden Langzeilencharakter aufweisen. Was die Reimtechnik anbelangt, so scheint Maurer seine Übereinstimmung zu Studien auszu- sprechen, die das Stück zu den „primitiven Reimern“ zählt. Insgesamt ergeben sich 29 Kapitel (die Einleitung mitgezählt), in deren Zentrum jeweils ein spezielles Tier bzw. eine Pflanze oder ein Stein steht. An späterer Stelle sollen einige von ihnen exemplarisch herausgegriffen und untersucht werden. Auf die Analyse von Herkunft, genauen Verwandtschaftsverhältnissen sowie der Beschaffenheit einzelner Handschriften muss in dieser Arbeit verzichtet werden.14 Wer detaillierte Studien zu der paläographischen Quellenlage oder sprachlich-formalen Spezifika anstrebt, der sei hier auf Friedrich Maurers große Ausgabe von 1964 oder Henkels Studien zum Physiologus im Mittelalter verwiesen.

3. Der mehrfache Schriftsinn

3.1. Charakteristik und Funktionsweise der Schriftsinne

„Die Schöpfung ist ein Buch: wer’s weislich lesen kann, / Dem wird darin gar fein der Schöpfer kundgetan.“15 – Angelus Silesius’ trivial anmutender Satz formuliert, was für das Christentum des Mittelalters wohl die sowohl größte historisch-philologische als auch interpretatorische Aufgabe schlechthin ist. Grundlegend bei der Bibelexegese ist dabei das seit der Patristik vertretene Postulat auf Singularität der Heiligen Schrift, die sich somit prinzipiell von aller antiken und säkularisierten Literatur unterscheidet. Worin nun eine fundamentale Divergenz zwischen Heiliger Schrift und weltlichem Schrifttum besteht, mag der folgende Satz Richard von St. Victor schlagartig beleuchten: „Darin ist das Wort Gottes der Weltweisheit weit überlegen, daß nicht nur die Wortklänge, sondern auch die (sc. mit dem Wort gemeinten) Dinge bedeutungs-haltig sind.“16 Verständlicherweise hebt Friedrich Ohly diese Aussage so entschieden hervor, ebnet sie schließlich im Mittelalter überhaupt erst den Weg zum geistigen Sinn des Wortes. Während also alle profane Literatur lediglich einen historischen Sinn bzw. Buchstabensinn besitzt, enthält das Wort der Heiligen Schrift zusätzlich einen höheren Sinn, der als sensus spiritualis bezeichnet wird. Dabei ist die Frage nach dem geistigen Sinn des Wortes nicht allein den verschiedenen Offenbarungs-religionen gemein, sondern betrifft weiterhin das gesamte christliche Mittelalter und ist dabei unabhängig von der Sprache. So ist die mediävale Philologie mit zwei unterschiedlichen Problemen konfrontiert: Zunächst besteht die Aufgabe in dem Erfassen des sowohl profanen Texten als auch der Bibel innewohnenden Buch-stabensinns (dies wird in Form der Texterklärung von den aus der Spätantike stammenden Disziplinen des Triviums bewältigt). Darauf aufbauend liegt die zweite – und wesentlich diffizilere Bemühung in „der Enthüllung des im Buchstaben verborgenen geistigen Sinns des Worts“17 (diese Aufgabe obliegt den um die Natur-wissenschaften erweiterten Disziplinen des Quadriviums). Die Beschaffenheit dieser offen gelegten mehrfachen Schriftsinne bedarf nunmehr der Erläuterung:

Der reine Buchstabensinn, auch historischer Sinn oder Litteralsinn genannt, besteht aus einem Wortklang (vox), dem – sofern keine Homonymie vorliegt – genau ein bestimmtes Ding (res) zugeordnet ist. (Das Ding kann sowohl tote als auch lebende Materie bezeichnen.) Profane Schriften erschöpfen sich bereits in dem aus dem Wortklang abgeleiteten Ding. Das signifikante Wesensmerkmal der Bibel ist es nun aber, dass die res erst der eigentliche Bedeutungsträger ist; sie selbst weist auf einen höheren Sinn, der ihr durch Gottes Wort eingeschrieben ist und hat demnach eine significatio. Während jedoch genau eine vox immer genau eine res bezeichnet, so kann die res selbst durchaus verschiedene Eigenschaften (proprietates) aufweisen. Um die verschiedenen Bedeutungen eines Dings zu erschließen, ist es also notwendig, sich seiner Eigenschaften bewusst zu werden, denn: „Jedes mit dem Wort gemeinte eine Ding hat selbst eine Menge von Bedeutungen, deren Zahl mit der Summe der Eigenschaften eines Dinges identisch ist.“18 Aufgrund des polysemen Charakters kann ein Ding eine negative oder aber eine positive Bedeutung besitzen. Ohly äußert sich dazu folgendermaßen: „Das gleiche mit einem Wort bezeichnete Ding kann Gott und den Teufel bedeuten sowie den ganzen dazwischen liegenden Bereich der Werte […] durchmessen.“19 Da die Bedeutung jedoch das Produkt aus Kontextbezogenheit und der jeweils anfokussierten Einzelproprietät ist, kann das Ding nicht gleichzeitig Mehreres bedeuten, sondern stets nur Eines und in anderem Kontext etwas Anderes. So kann das Ding ad bonam partem oder ad malam partem ausgelegt werden.

[...]

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Details

Titel
Der altdeutsche Physiologus - Seine Tiersymbolik unter dem Aspekt des mehrfachen Schriftsinns und christlicher Allegorese.
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Mensch und Tier in vormoderner Literatur
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
23
Katalognummer
V22210
ISBN (eBook)
9783638256162
Dateigröße
407 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit untersucht den altdeutschen Physiologus schwerpunktmäßig unter der Aspekt seiner Tiersymbolik (und einer diesbezüglichen Abhängigkeit von der Lehre des mehrfachen Schriftsinns und christlicher Allegorese). Darüber hinaus werden jedoch auch allgemeine Informationen zu Verfasserschaft, Entstehungsgeschichte und dem belehrenden Anspruch der "Naturkundigen-Schrift" gegeben.
Schlagworte
Physiologus, Seine, Tiersymbolik, Aspekt, Schriftsinns, Allegorese, Mensch, Tier, Literatur
Arbeit zitieren
Tim Brüning (Autor:in), 2004, Der altdeutsche Physiologus - Seine Tiersymbolik unter dem Aspekt des mehrfachen Schriftsinns und christlicher Allegorese., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22210

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