Zur Schuldfrage Enites


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

26 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das Problem der Eheschließung

3 verligen und Enites Geständnis

4 Aventiure
4.1 Sprechverbot
4.2 Blosens Untreue-Verdacht-Theorie
4.3 Enites Klage nach Erecs ‘Tod’
4.4 Der Vergleich mit dem geläuterten Gold

5 Zusammenfassende Interpretation

6 Schluss
Quellenangabe

1 Einleitung

Die Figur der Enite in Hartmann von Aues Artusroman „Erec“, welches er nach dem Vorbild von Chrétiens „Erec et Enide“ schrieb, ist viel diskutiert. Die Frau des Titelhelden wird einerseits als schuldig, beziehungsweise mitschuldig, andererseits als unschuldig am Geschehen charakterisiert, welches sie und Erec nach ihrer Hochzeit einen großen Abstieg erleiden lässt, aus dem sie sich durch eine mühselige Aventiurefahrt wieder emporarbeiten müssen.

Beispielsweise legt Thomas Cramer in seinem Aufsatz „Soziale Motivation in der Schuld-Sühne-Problematik von Hartmanns Erec“ dar, dass Enite eindeutig schuldig ist, da sie einen unverdienten sozialen Aufstieg vollzieht. Auf der anderen Seite steht Hugo Kuhn, der Enite als beinahe heiligengleiche Frau ohne jegliche Schuld dargestellt. Die vielzitierte Aussage Kuhns über Enite als „eine der reinsten Frauengestalten in Mittelalter und Neuzeit“[1] ist gerade wegen ihrer Polarisierung so gängig.

Ziel dieser Arbeit soll sein, die bereits getroffenen Thesen zu Enites Schuld oder Unschuld zu sammeln, zu bewerten und dabei auf weniger beachtete Details bezüglich dieses Themas aus dem „Erec“ einzugehen. Die Ausarbeitung erfolgt - mit Vorgriffen - chronologisch entlang des Geschehens im Roman, wobei in die relevanten Szenen nur kurz eingeführt werden soll, da die Handlung ausreichend bekannt ist. Im Anschluss daran steht eine zusammenfassende Interpretation, welche auf die bis dahin gezogenen Schlüsse und auf neue Gedanken Rücksicht nimmt.

2 Das Problem der Eheschließung

Als Erec bei der Verfolgung seines Widersachers Iders nach Tulmein kommt, wird er bei dem verarmten Grafen Koralus aufgenommen. Dessen Tochter Enite, die von Hartmann als bemerkenswert schöne Frau beschrieben wird, soll Erec bei dem Erringen des Sperberpreises für die schönste Frau zur Seite stehen, damit er gegen Iders gewinnen kann. Nachdem dies gelingt, löst Erec sein zuvor gegebenes Versprechen ein und nimmt Enite mit zum Artushof in Karadigan, um sie dort zu ehelichen. Das Eingehen der Ehe wird von Cramer - nach mittelalterlichem Verständnis - als Vergehen gegen Gottes ordo angesehen, da die finanziell mittellose Enite sich durch diese Verbindung zur reichen Frau macht und somit die „gottverordnete[n] Zustände“[2] eigenmächtig ändert. Abgesehen von diesen religiösen Hindernissen macht laut Cramer der finanzielle Unterschied die Ehe schon von gesellschaftlichen Regeln her unmöglich. Dies ist grundsätzlich nicht zu bestreiten, denn - so die Ansicht im Mittelalter - „soziale Stellung, Ansehen und ‘Ehre’ der Familie, ökonomische Ressourcen [...] sollten bei beiden gleichwertig sein“[3]. Erec jedoch ist ein Königssohn, weshalb auch ein entsprechend hohes Wohlhaben vermutet werden kann. Da die Ehe also gegen Gottes Willen und wider gesellschaftlicher Regeln zustande kommt, wird geschlussfolgert, dass Enite sich hier schuldig macht.

Dieser These darf aber nicht unüberlegt zugestimmt werden. Zunächst muss erwähnt werden, dass die angebliche Eigenmächtigkeit, mit der Gottgegebenes verändert wird, bezweifelt werden kann. Cramer belegt seine These unter anderem mit folgenden Worten Koralus’:

des gewaltes ist alsô vil,

er mac den rîchen swenne er wil

dem armen gelîchen

und den armen gerîchen.[4]

Damit wird zwar veranschaulicht, dass es Koralus’ Meinung nach Gott obliegt, in welchen Lebensumständen ein Mensch lebt. Aber diese Aussage lässt zu, dass Reichtum sowohl genommen, als auch gegeben werden kann. Daher ist es ebensogut vorstellbar, dass Gott nun diese Situation verordnet hat, um Enite (und auch Erec) aus ihrer ausweglosen Lage zu befreien.

Rein standestechnisch ist zudem - was Cramer auch einräumt - einer Heirat zuzustimmen: Erec ist als Sohn des Königs Lac von Geburt her adelig, und auch von Enite wird uns im Zusammenhang mit ihrer Verwandtschaft zum Herzog Imain mitgeteilt, dass „ir geburt was âne schande“[5]. Ihr Vater Koralus hat ohne eigenes Verschulden sein Vermögen verloren, was natürlich in nächster Konsequenz auch Enite betrifft. Wenn nun die Vermählung wegen der unterschiedlichen Vermögenswerte unrechtmäßig ist, so muß dem entgegen gehalten werden, dass Erecs finanzielle Situation der Enites zum Zeitpunkt ihres Treffens nicht unähnlich ist. Erec ist zuvor durch den Geißelschlag des Zwergen gedemütigt worden, was ihn wiederum dazu zwang, sich zu rächen. Um die Spur Iders nicht zu verlieren, musste er ihm sofort folgen, ohne sich zuvor ausrüsten zu können und ohne genügend Vermögen bei sich zu haben. Die selbstauferlegte Frist, die Rache in drei Tagen vollzogen zu haben, macht außerdem eine spätere Ausrüstung unmöglich. So ist Erec in Tulmein, genau wie Enite, „habelôs“[6] und „unerkant“[7]. Damit wäre ihre unterschiedliche ökonomische Situation nivelliert.[8] Eine Gleichstellung Erecs und Enites lässt sich meiner Meinung nach auch wegen einer vielleicht eher nebensächlichen Bemerkung Koralus’ vermuten. Er erzählt, dass Erecs Vater - König Lac - sein Freund war und sie gemeinsam Schwertleite hatten.[9] Wenn nun dadurch Koralus und Lac auf eine Ebene gestellt werden, so wäre der logische Schluß, dass ihre Kinder ebenso nebeneinander stehen. Dies würde die ähnliche Situation von Erec und Enite als noch zusätzlich unterstreichen.

Nun erwähnt Cramer weiterhin, dass Enite nur durch einen „Verdienst - gleich welcher Art - den Makel ihrer Armut kompensier[en]“[10] könne.[11] Diesen Verdienst spricht er ihr im gleichen Atemzug ab. Durch eine fehlende nähere Erläuterung dieser Aussage entsteht schnell der Eindruck, Cramer passe den Roman seiner Interpretation an.[12] Denn Enite bringt im Laufe der Handlung eine ganze Reihe von Leistungen, die ihr als Ausgleich ihres Aufstiegs aus der Armut angerechnet werden könnten. An erster Stelle muss hier ihre Schönheit erwähnt werden. Hierbei muss auf die vom heutigen Verständnis abweichende Bedeutung des Begriffs hingewiesen werden. Schönheit - schoene - gilt im Mittelalter nicht lediglich als äußere, sondern auch als innere positive Beschaffenheit. Dieser Ansicht nach geht die visuelle Schönheit immer mit guten charakterlichen Anlagen der Frau einher. Die schoene wurde schon von Smits als wichtige Qualität Enites erwähnt, mit der sie zum Beispiel die „Kampftüchtigkeit des Mannes“[13] positiv beeinflussen kann. Aber auch, wenn man dies nicht als Leistung anerkennen mag, weil Enite dabei nicht aktiv werden muss, finden sich genug andere Verdienste Enites. Es sei hier auf ihre Pferdedienste verwiesen, von denen der erste bereits in Tulmein stattfindet, wo sie Erecs Pferd versorgt und ihm damit ganz offensichtlich einen Dienst entgegenbringt. Abgesehen davon erweist sie sich als äußerst treu - im Sinne von beständig hinter Erec stehen - was man ihr unbedingt als Verdienst anrechnen kann, vor allem da sie in mehreren schwierigen Lagen auch ohne weiteres gegen Erec hätte handeln können.[14]

Des Weiteren spricht Cramer davon, dass Enites Armut nach kirchlicher Lehre als Sündenfolge zu deuten ist.[15] Von einer Sünde Enites oder ihrer Vorfahren wird allerdings nichts berichtet, vielmehr wird zum Beispiel bei Enites Vater mehr als deutlich gemacht, dass dieser sehr gute Eigenschaften hat, er zeigt Freigebigkeit, indem er Erec in sein bescheidenes Heim aufnimmt, und seine Art, die unverschuldete Armut zu ertragen, zeugt von Ehre. Und auch wenn die Armut als Sündenfolge bekannt war, so muss auch ein ebenso prominentes Gegenstück erwähnt werden. Die Bibel erzählt die Geschichte von Ijob, „dieser Mann war untadelig und rechtschaffen; er fürchtete Gott und mied das Böse“[16]. Trotz seines sündelosen Lebens verliert Ijob sowohl Gesundheit, als auch Reichtum, und dies nur wegen einer Art Wette zwischen Gott und Satan. Weil Ijob während dieser schweren Probe seine Ehrfurcht vor Gott nicht verliert, widerfährt ihm am Ende neues Glück.

Es muß auch erwähnt werden, dass nach der Interpretation Cramers Enite am Ende gar kein ‘Happy End’ verdienen dürfte, da sie ja - seiner Meinung nach - unverdient aus ihrer Armut aufsteigt. Warum aber stehen sie und Erec nach der Mabonagrin-Episode als perfektes Paar da? Man kann Hartmann wohl kaum ein solch enormes Unvermögen vorwerfen, seine - von Cramer vermutete - Intention vom unverdienten Aufstieg mit diesem Schluß nichtig gemacht zu haben.

Was hier demonstriert werden sollte, ist, dass Enites Austritt aus der Armut weder unrechtmäßig noch unverdient ist. Das wiederum zeigt, dass sich eine eventuelle Schuld Enites nicht an diesem Handlungsabschnitt festmachen lässt. Ob sie sich womöglich an anderer Stelle schuldig macht, soll die weitere Untersuchung zeigen.

3 verligen und Enites Geständnis

Nach der Hochzeit in Karadigan und nach dem anschließenden Turnier, an dem Erec mit höchstem Eifer teilnimmt, ziehen er und Enite ins Land seines Vaters, wo sie in Karnant die Herrschaft über das Land übertragen bekommen. Dort verfallen sie bald in einen Liebeswahn, sodass sie, abgesehen von wenigen Anlässen wie Gottesdienst und Mahlzeit, ihre Zeit gemeinsam im Bett verbringen. Erec nimmt nicht einmal mehr an Turnieren teil, was als Ritter und Herr eigentlich seine Pflicht wäre. Der Hof beginnt bald, dieses Verhalten zu missbilligen. Enite bekommt dieses mit, und als sie laut darüber klagt, während sie Erec schlafend wähnt, hört dieser es doch und bringt sie dazu, ihm alles zu erzählen. Daraufhin erfolgt der Aufbruch zur Aventiure.

Welche Äußerungen zum Tatbestand des verligens gibt nun der Text? Nachdem Hartmann den Leser von dem liederlichen Tagesablauf des Paares berichtet hat, erfährt man, wie der Hof das Geschehen bewertet. Hierbei ist auffällig, dass nur von Erecs Ehrverlust die Rede ist:

die minnete er sô sêre

daz er aller êre

durch si einen verphlac,

unz daz er sich sô gar verlac

daz niemen dehein ahte

ûf in gehaben mahte.[17]

Und auch sonst heisst es nur, „er enmüeste sîn verdorben“ und „in schalt diu werlt gar“[18], von Enites Ehre ist keine Rede, und das, obwohl sie doch zuvor sowohl am Artushof, als auch am Hofe von Karnant offensichtlich anerkannt wurde[19] und somit - wie Erec - einen Ruf zu verlieren hatte. Dies erklärt sich vielleicht dadurch, dass Enite weniger in gesellschaftliche Pflichten eingebunden ist als Erec. Das Paar hat auch keine Kinder, um deren Erziehung Enite sich kümmern müsste, sodass sie ihre gesamte Zeit mit ihrem Mann verbringen kann, was sie ja auch tut. Während der Vorwurf des verligens also nur Erec betrifft, wird Enite einer anderen Sache bezichtigt. Der Hof flucht: „des verdirbet unser herre“[20], und weist somit Enite die Schuld an dem Dilemma zu. Dies ist gar nicht so unverständlich, wenn man bedenkt, dass die Frau seit jeher als die Verführerin des Mannes gilt, seit Eva in der biblischen Überlieferung Adam die Frucht vom Baum der Erkenntnis reichte.

[...]


[1] Hugo Kuhn, Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1969, S. 150.

[2] Cramer, S. 101.

[3] Opitz, S. 22.

[4] Hartmann, V. 540ff.

[5] Hartmann, V. 439.

[6] Hartmann, V. 238.

[7] Ebd, V. 245.

[8] Vgl. Smits, S. 9.

[9] Vgl. Hartmann, V. 551ff.

[10] Cramer, S.103.

[11] Ich möchte hier nur am Rande darauf verweisen, dass Cramer mit der Wortwahl ‘Makel’ übersieht, welche Bedeutung der Armut im Mittelalter beigemessen wurde. Diese galt als „Tugend, die der Reichtum niemals werden konnte“ (Vgl. Gurjewitsch, S. 275). Ich halte es deshalb für falsch, Enites Armut - sei die Situation auch noch so schwierig - als ‘Makel’ zu bezeichnen.

[12] Auch Worstbrock wirft Cramer die „Methode selektiver Interpretation“ (Vgl. Worstbrock, S. 17) vor, worauf ich im Hinblick auf Enites Klagerede weiter unten noch eingehen werde.

[13] Vgl. Smits, S. 8.

[14] Man denke nur an die beiden Burggrafen-Episoden.

[15] Vgl. Cramer, S. 101.

[16] Bibel, Buch Ijob, hier vor allem Ijob 1,1 - 2,10 und Ijob 42,7-17, S. 546 und S.575.

[17] Hartmann, V. 2968ff.

[18] Ebd., V. 2982 und V. 2988.

[19] Am Artushof wird sie durch den Kuss als die Schönste ausgezeichnet, von Erecs Vater Lac heißt es, dass Enite ihm sogar noch besser gefalle als sein Sohn. (Hartmann, V. 1750ff und V. 2916)

[20] Hartmann, V. 2998.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Zur Schuldfrage Enites
Hochschule
Technische Universität Dresden
Veranstaltung
Hartmann von Aue: Erec
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
26
Katalognummer
V37146
ISBN (eBook)
9783638365758
Dateigröße
685 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bei Fragen bitte Mail an mich. Meine Adresse steht am Ende der Arbeit.
Schlagworte
Schuldfrage, Enites, Hartmann, Erec, Schuld, Enite
Arbeit zitieren
Caroline Dorn (Autor:in), 2004, Zur Schuldfrage Enites, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37146

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