Millennium - Gespräche mit namhaften internationalen Persönlichkeiten


Wissenschaftliche Studie, 2010

109 Seiten


Leseprobe


INHALT

Einleitung

1. Transdisziplinäre Naturwissenschaft
Prof. Dr. Vasily Vasilyevich Nalimov
Biomathematiker und Neurophysiologe, Staatsuniversität Moskau/Rußland
Dr. Peter Russell
Physiker, Computerwissenschaftler, Zukunftsforscher, London/England

2. Nationale und internationale Gesellschaftsordnung
Prof. Dr. Christian J. Dominicé
Generalsekretär d. Instituts für Internation. Recht, Genf/Schweiz
Dr. Karan Singh
ehem. indischer Minister und Botschafter in Washington, Präsident des India Council of Cultural Relations, Neu-Delhi/Indien

3. Die Medizin
Prof. Dr. Joseph E. Murray
Nobelpreisträger der Medizin, Harvard University, Boston/USA
Dr. Rajan Sankaran
Experte für Homöopathie, Bombay/Indien

4. Politik und Frieden
Dr. Francisco Barahona Riera
Rektor d. Friedensuniversität der Vereinten Nationen, San José/Costa Rica

5. Wirtschaft und Währung
Dr. John F. Nash
Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Princeton University, Princeton/USA

Einleitung

Das dritte Millennium ist da. Wir starten nicht nur in ein neues Jahrhundert, ein neues Jahrtausend, sondern offenbar in eine gänzlich Neue Ära:

„Aurora“ weckt die Menschheit bisweilen unsanft in der Morgendämmerung dieser Neuen Zeit; ein Erwachen, bei dem wir erstaunt feststellen, daß unsere gestrigen Ansätze und Maßstäbe vom Persönlichen über das Gesellschaftliche bis hin zum Planetaren, ja Kosmischen, heute nicht mehr dienlich sind, wenn wir der Herausforderung der Neuen Zeit begegnen wollen. Es ist in der Tat mehr als ein Erwachen. Es ist vielmehr die Neugeburt in eine neue Epoche globaler Entwicklung, deren Konturen und Koordinaten sich erst allmählich abzeichnen. Der Morgen der Neuen Zeit bricht an und man ist sich unschlüssig, ob man die kommende Herausforderung annehmen will und voller Hoffnung und Sorgen um das, was uns das Neue bringen wird. Doch die Zeit wartet auf niemand und wir müssen uns ihr stellen, wenn wir sie meistern wollen. Dazu möchten diese Gespräche mit führenden Vertretern zukunftsrelevanter Bereiche um den ganzen Erdball herum, mit Persönlichkeiten die in der Vorderfront der menschlichen Evolution stehen, einen Beitrag leisten.

Wir wissen, daß wesentliche Koordinaten der Zukunft die des technisch- wissenschaftlichen Zeitalters mit einer neuen Ethik im Rahmen globaler Kommunikation und Information auf allen Ebenen unserer materiellen Existenz sein werden. Wir wissen auch, daß wir allzu menschlich-lange in Morpheus' (altgr. Gott des Schlafes) Armen gelegen haben und deshalb den Neuen Tag der anbrechenden Zeit mit beträchtlichen Altlasten angehen. Deshalb ist es unverzichtbar, eine Bestandsaufnahme und eine Kursüberprüfung und -bestimmung an dieser kritischen, historischen Zeitenschwelle vorzunehmen. Diese Kursbestimmung kann nur über eine zweckdienliche Information und Kommunikation erfolgen. Doch die gegenwärtige Informationsflut schwillt in derart exponentiellem Ausmaß an, daß kein Mensch, ja nicht einmal die sakrosankte Kuh des totalen Informationsmanagements durch die Vernetzung aller Computersysteme ihr Herr werden kann. Und dennoch ist es unverzichtbar, die rechte Information zur rechten Zeit zu besitzen, zum einen, um uns nicht verunsichern zu lassen, zum anderen, um die rechten Entscheidungen zu treffen.

Dieses Bändchen möchte dem verehrten Leser ein synoptisches Informations- und Orientierungswerkzeug und eine Antwort auf die Überflutung mit Information und die daraus resultierende Sinn- Orientierungskrise sein. Das vorliegende Interview-Buch unternimmt den Versuch, repräsentative Persönlichkeiten relevanter Bereiche aus allen Teilen der Welt zu Wort kommen zu lassen, um ein hochverdichtetes Gesamtbild der brennendsten Fragen unserer Zeit zu entwerfen. Die breite geographische Streuung der Proveninez meiner Gesprächspartner und der breitbandige thematische Ansatz soll, über die nationalen und spezialdisziplinären Belange hinaus, den supranationalen und transdisziplinären Erfordernissen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts und des dritten Jahrtausends gerecht zu werden, um ein sinnvolles punktuelles Handeln im Lichte globalen Denkens zu ermöglichen. Meine Gesprächspartner zeichnen sich nicht nur durch ihren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Status aus: Als Elite und Speerspitze der Entwicklung wollen sie konstruktiven und ethischen Beitrag zu einer nachhaltigen, menschenwürdigen Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung beisteuern, indem sie ihre wissenschaftlichen und menschlichen Erkenntnisse und persönlichen Einsichten dem Nichtexperten auf einer leicht überschaubaren Anzahl von Seiten anbieten. Somit ist es ein praktisches, kosten- und zeitsparendes Informationsinstrument. Aber mehr noch:

Zum anderen soll es, über den Informations- und Orientierungscharakter hinaus, auch der Erbauung des Lesers dienen. Schließlich ist das Buch als Interview-Buch konzipiert, damit sich der Leser durch die kulturelle Vielfalt inspiriert und beflügelt fühlt, die sich aber letztlich als eine Vielfalt in der Einheit enthüllt, da meine Gesprächspartner im Bewußtsein des kreativen Globalismus bereits fortgeschritten sind.

Die Interviews wurden in Berlin in vier/fünf Sprachen, in Englisch, Französisch, Spanisch und Russisch (Deutsch als Übersetzungshilfe) geführt. Somit ist dieses InterviewBändchen ein fünfsprachiges Produkt und repräsentiert die Weltkulturen. Verschiedene deutsche Gesprächspartner, die eine interessante Ergänzung im Hinblick auf eine bilanzierende und prognostizierende Synopsis des Wissens und der Erkenntnisse gewesen wären, haben leider keine Zeit für Interviews gehabt.

Die Gesprächspartner - namhafte internationale Persönlichkeiten - sind entweder selbst Nobelpreisträger oder sie standen in einem Bezug zu derartig herausragenden Gelehrten. Professor Dr. Vasily Vasilyevich Nalimov z. B. war ein enger Mitarbeiter von Kolmogorow, dem „Einstein des Ostens“, dem größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts und Dr. P. Russell studierte Physik mit seinem Betreuer Steven Hawking, dem Nobelpreisträger der Physik der Universität Cambridge. Professor Dr. Christian Dominicé ist Generalsekretär des Instituts für Internationales Recht in Genf, das den Nobelpreis erhalten hat. Professor Dr. John Forsythe Nash von der Universität Princeton und Professor Dr. Joseph E. Murray von der Harvard Medical School waren respektive Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften und der Medizin. Dr. Karan Singh, Freund von I. Prigogine, dem Nobelpreisträger der Chemie, ist ein Maharadscha (ehem. König) und war Botschafter der indischen Regierung in Washington. Professor Dr. Francisco Barahona Riera war amtierender Rektor der Friedensuniversität der Vereinten Nationen. Rajan Sankaran ist ein zweiter internationaler Experte der Medizin und zwar der homöopathischen Medizin. Das Verständnis der Gespräche erfordert kein Spezialwissen.

Anmerkung: Stellen die mit (...) gekennzeichnet sind können darauf hinweisen, daß eine

Stelle auf dem Band, auf dem die Interviews aufgezeichnet wurden, nicht exakt zu hören waren. Manche Interviews fanden an öffentlichen Orten mit einer Geräuschkulisse statt.

1. Transdisziplinäre Naturwissenschaft

Interview auf Russisch mit

Prof. Dr. Vasily Vasilyevich NALIMOV- Biomathematiker und Neurophysiologe, Staatsuniversität Moskau/Rußland

E.H: Können Sie uns bitte etwas über ihr Lebenswerk erzählen, ihre wissenschaftliche Forschung, und wie sie als Physiker dazu kamen, sich auch mit ganz anderen Bereichen intensiv zu befassen?

Prof. Nalimov: Wenn Sie mich danach fragen, was ich gemacht habe, nachdem ich von der Uni geflogen bin Ich habe Mathematik studiert und bekam dann politische Schwierigkeiten mit meinen Kommilitonen. Ich mußte meine Fakultät verlassen und bin deshalb Physiker geworden. Ich habe in Moskau am größten physikalischen Institut gearbeitet. 1936 bin ich verhaftet und interniert worden. Ich habe während dieser Zeit als Holzfäller, als Goldwäscher und dann in einem Metallurgiebetrieb gearbeitet, wo ich ein ganzes metallurgisches Labor geleitet habe. Und als ich dann freigelassen wurde, habe ich weiterhin als Physiker gearbeitet, unter anderem in der geologischen Erkundung von Erdölvorkommen und weiterhin nach erneuter Verhaftung. Erst nach dem Tod Stalins bin ich wieder freigelassen worden. Und zu der Zeit standen nur noch fünf Jahre meiner Haftzeit aus, die mir erlassen wurden. In Moskau durfte ich in der Akademie der Wissenschaften nur am Institut für Information arbeiten. Und dort habe ich als Physiker die gesamte europäische Physik referiert: Ich konnte das auch in allen Sprachen, außer in der ungarischen. Und obwohl ich die Universität nicht habe absolvieren können, erhielt ich die Erlaubnis, eine Dissertation zu verteidigen. Meine Dissertation beschäftigte sich mit dem Thema der Anwendung der wissenschaftlichen Statistik. Dieses Thema galt damals aber als antiwissenschaftlich. Und da gab es bei der Verteidigung meiner Dissertation interessante Episoden. Nachdem die Diskussion beendet war, stand der Vorsitzende des Rates auf und sagte: „Wenn jemand seine Stimme dafür abgeben möchte, kann er es jetzt tun." Und dann bin ich an das Institut für Seltene Metalle gegangen, und dort habe ich die erste mathematische Gruppe gegründet und den ersten Computer beschafft. Das war ganz interessant, der stellv. Direktor rief mich und sagte: „ Wir haben noch Geld auf dem Konto, das unbedingt im Laufe des Jahres noch ausgegeben werden muß. Wir müssen etwas kaufen." Und ich sagte: „Na gut, ich kann einen Computer kaufen. Der ist aber sehr teuer." „Oh wunderbar!" Es war noch viel Geld da. „Dann kaufen wir also einen Computer.“ Nach drei Monaten rief mich der stellvertretende Direktor. „Was hast du da gemacht, was hast du da gekauft? Ich dachte, du hättest etwas Kleines gekauft, das man auf den Tisch stellen kann, aber... jetzt stellt sich heraus, daß wir fünfzig Quadratmeter freimachen müssen, und ich weiß gar nicht, wo ich diese 50 Quadratmeter im Haus her bekommen kann." Ach, da gab es noch eine Episode: Ein Akademiemitglied, das auch stellv. Direktor war, hat ein halbes Jahr nicht mit mir geredet. Er hatte gesagt: „Was macht der Nalimov dort überhaupt, sind wir denn hier ein astronomisches Observatorium? Ich bin dreißig Jahre in der Wissenschaft und habe überhaupt noch niemals mit was gerechnet." Und dann kam ich an die Moskauer Universität. Ich wurde Professor der Moskauer Universität, obwohl ich keinen Universitätsabschluß hatte. Kolmogorov, einer der weltweit bedeutendsten Mathematiker hatte ein fakultätsübergreifendes statistisches Forschungslabor, ein interdisziplinäres Labor für statistische Mathematik gegründet. -

Frau und Herr Nalimov: Kolomogorov war der größte Mathematiker des 20. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Mathematik war nicht geringer als die Einsteins für die Physik. Ich wurde sein erster Stellvertreter. Damals waren viele empört, daß ein Außenstehender der erste Stellvertreter von Kolmogorovs wurde, obwohl er von vielen sehr fähigen Schülern umgeben war. Und die nächste Empörung gab es, als ich die mathematische Statistik in der Linguistik und in der Philosophie anwandte. Und es gab eine Versammlung, bei der ich Rapport erstatten mußte. Ich habe Bericht erstattet und Kolmogorov ist aufgestanden und hat gesagt: „Nalimov soll tun, was er für richtig hält."

Dann ist er rausgegangen. Es gab keine weiteren Fragen. Aber einige Zeit danach schlug man mir vor, in die Partei einzutreten. Ich habe abgelehnt... und das Labor wurde aufgelöst. Ich blieb an der Universität, bin dann aber zur biologischen Fakultät übergewechselt und meine Arbeit fortgesetzt. - Ich habe mich mit mathematischer Statistik beschäftigt... eines ist wichtig: Kolmogorov pflegte zu sagen: „Wir haben einen Vorteil. Wir können in Wahrscheinlichkeiten denken." Ich arbeite jetzt immer noch in der biologischen Fakultät, obwohl ich kein Biologe bin. Unser Dekan pflegt zu sagen: „Ein Biologe kann jeder sein, der einen Raben von einer Krähe zu unterscheiden vermag." Und das kann ich bis heute nicht. Ich habe mehr als hundertfünfzig Artikel veröffentlicht und 15 Bücher. Von diesen Büchern sind fünf in Englisch, eins auf Deutsch. Ich wende praktisch das Wahrscheinlichkeitsdenken an, versuche auf diesem Wege die Struktur der Sprache und die Natur des Menschen zu verstehen.

Frau Nalimov: Die Theorie der Wahrscheinlichkeiten und die mathematische Statistik und das Wahrscheinlichkeitsdenken...in Anwendung auf das Gebiet der Psychologie der Sprache; im weitesten Sinne auf das Verständnis der Natur des Menschen. Prof. Nalimov: Hier liegen drei Bücher und eine Broschüre und vielleicht kann Jeanna (die Frau Prof. Nalimovs) etwas darüber erzählen. Sie hat an all diesen Arbeiten teilgenommen.

Frau Nalimov: Das sind Bücher, die in den letzten drei Jahren veröffentlicht wurden. Eines heißt: „Auf der Suche nach neuen Sinninhalten". Es ist praktisch das Thema der Friedensuniversität. (Prof. Nalimov kam anläßlich der Gründung einer Friedensuniversität nach Berlin) Und die Tatsache, daß er schon lange über dieses Thema nachdenkt und eine Reihe von Artikeln geschrieben hat, die in diesem Buch zusammengefaßt sind, gab ihm die Möglichkeit und den Anlaß, diese Konferenz zu besuchen und seine Gedanken darzulegen. Er ist wie der berühmte Physiker David Bohm der Meinung, daß Wissenschaftler immer getrennt voneinander sind und daß es das allerwichtigste ist, zusammenzukommen und Gedanken auszutauschen. Wenn wir uns nicht ansehen können und keine Möglichkeit haben, unsere Gedanken auszutauschen, wie sollte man sich dann verstehen? Dem gleichen Thema ist diese Broschüre gewidmet, die eigentlich ein längerer Artikel mit dem Titel „Am Vorabend des dritten Jahrtausends" ist. Wasily Vasilyevich hat ein langes Leben gelebt. Er ist fast fünfundachtzig Jahre alt. Das heißt, er beobachtet schon bald ein ganzes Jahrhundert lang, was im Land und auf der Welt vor sich geht. Und er versteht, daß unsere Kultur krank ist. Sie hat sich erschöpft. Prof. Nalimov: Sie siecht dahin. Kulturen sterben ebenso wie Menschen sterben. Unsere Kultur ist zweitausendfünfhundert Jahre alt geworden und geht jetzt zu Ende. Frage: Warum?

Prof. Nalimov: Warum sterben wir?

E.H: Aber Kultur ist auch dann noch vorhanden, wenn Menschen sterben.

Prof. Nalimov: Es sammeln sich immer mehr Schlacken an, die nicht mehr überwunden werden können. Von Zeit zu Zeit bedarf es in der Kultur großer Umbrüche. Frau Nalimov: Die Kultur hat sich deshalb erschöpft, weil sie aufgespalten ist, in eine große, große Vielzahl von Disziplinen aufgespalten worden ist, die nicht mehr zusammenkommen können. Und sie funktioniert nur und kann sich nur erneuern, wenn sie pulsieren kann, also ein einheitliches Ganzes ist.

Prof. Nalimov: Und ein weiteres Problem besteht darin, daß die Religion, die eigentlich den Kern jeder Kultur bildet, sich nicht erneuert hat und seit zweitausend Jahren eine und dieselbe ist. Das Problem besteht vor allem darin, daß es zu einer Aufspaltung zwischen der Wissenschaft und ihrer/unserer Weltanschauung auf der einen und der religiösen Weltanschauung auf der anderen Seite gekommen ist, und dieser Prozeß führt zur Erschöpfung der Kultur. Es gibt allerdings Menschen, die versuchen, das zu überwinden. Und da sehe ich vor allem in der deutschen Theologie solche Ansätze, und ich achte sie sehr, aber sie sind noch nicht in die Kultur integriert worden.

Frage: Also die Spezialisierung der Wissenschaften hat eigentlich dazu geführt, daß die Kultur am Verschwinden ist?

Prof. Nalimov: Ich habe auch auf der Konferenz gesagt, daß das Problem darin besteht, aufzuhören, an den Universitäten enge Spezialisten auszubilden. Man muß kulturvolle Menschen, Intellektuelle ausbilden, die in der Lage sind, Prozesse, Zusammenhänge zu erfassen und nicht Leute mit statischem Wissen. Dann kann man auch die Schulbildung verändern.

Frau Nalimov: Was nötig ist, nennt Vasily Vasilyevich ein transdisziplinäres Herangehen.

Prof. Nalimov: Was die Religion betrifft, so kann ich sagen, daß ich vor kurzem einen Artikel mit dem Titel „Bin ich ein Christ" geschrieben habe.

Frau Nalimov: So lautet der Titel. Dann kommt ein Doppelpunkt und danach folgt: „Wie ist eine persönliche Theologie möglich?"

Prof. Nalimov: Ich mache die Erfahrung, daß es sehr, sehr schwer geworden ist, Bücher in einem anderen Land zu veröffentlichen. Ich betrachte mich zum Beispiel als ein Fortsetzer der deutschen Philosophie, aber es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen, hier in Deutschland etwas zu veröffentlichen. In den USA ist das letzte Buch von mir 1984 veröffentlicht worden, und mein wichtigstes Werk:

Prof. Frau Nalimov: „Die Spontaneität des Bewußtseins, ein Wahrscheinlichkeitsmodell des Bewußtseins und die Sinnarchitektonik der Persönlichkeit" ist im Westen noch völlig unbekannt.

Herr Nalimov: Und dieser Zustand, der ist wirklich auch ein Teil der allgemeinen Getrenntheit voneinander, der Spaltung voneinander. Man weiß hier nichts davon, was wir tun; ebenso in Frankreich.

E. H.: Haben Sie den Weg gewechselt? Warum versuchen Sie Naturwissenschaft weiter zu treiben, mit den Sozialwissenschaften anzureichern?

Prof. Nalimov: Eigentlich nicht, keine Abweichung vom Weg. Ich habe mich von frühester Jugend an für Philosophie und Fragen des Bewußtseins interessiert. Meine Jugend ist in einer Stadt verlaufen, in der die Kultur sich schon immer mit diesen Fragen beschäftigt hat, und es waren eigentlich nur die Jahre der Unterdrückung, der Repression, die das abgebrochen haben. Ich halte mich aber deshalb nicht für einen Philosophen, weil ich niemals Geld für philosophische Tätigkeiten erhalten habe. Aber ich habe mein ganzes Leben mit der Philosophie gearbeitet. Und das hat mich eigentlich immer gerettet. Und jetzt erzählt Jeanna noch etwas über dieses Buch. Das haben wir zusammen geschrieben; es ist das wichtigste Buch meines Lebens.

Frau Nalimov: Es ist ein biographisches und ein philosophisches Werk. Hier legt Vasily Vasilyevich seinen Lebensweg und den seiner Familie dar, und im Anhang sind Auszüge aus Archiven des KGB wiedergegeben, die wir, das heißt, die Jeanna zwei Jahre lang recherchiert hat. Und die Archivmaterialien, die sind deshalb so bedeutsam, weil sie die

Geschichte der geistigen Bewegung in Rußland in den frühen zwanziger Jahren darstellen, die nirgendwo dargestellt werden konnte und über die bis zur Perestroika niemand etwas wissen konnte. Hier gibt es Kapitel, die sich mit den geistigen Lehrern Vasily Vasilyevichs befassen. Wenn ich Ihnen etwas darüber erzähle, dann wird klar, warum er sich so für Psychologie, Philosophie und für Mathematik interessiert. Sein Lehrer, der Mathematiker Solonovich hat ihn gelehrt, die Mathematik und den Sinn zu lieben und daß man die Philosophie über die Mathematik begreifen kann. Das war eine neuphythagoreische Richtung.

Prof. Nalimov: Es steht oft die Frage: „Warum ist Wissenschaft erfolgreich, wenn sie sich an die Mathematik wendet?" Ich antworte darauf in der Regel so: „Weil unser Bewußtsein mathematisch beschaffen ist. Deshalb, weil der Raum, der auch unserem Bewußtsein zugrundeliegt, eine mathematische Kategorie ist. Die Dimension der Zeit ist ebenfalls eine mathematische Kategorie.“ Darüber hat schon Kant geschrieben. Worüber er nicht geschrieben hat, ist die dritte Komponente, die Zahl. Also Raum, Zeit und Zahl. Sehen sie zum Beispiel: Hier liegt ein Buch, noch ein Buch und noch ein Buch; also drei Bücher. In der realen Welt existiert jedes einzeln für sich, aber in unserem Bewußtsein existieren sie als 3 Bücher. Die Rolle der Zahl in der Mathematik ist etwas Erstaunliches. Über sie... sehr viel verstehen. Und unsere Philosophen brechen ein, weil sie in der Mathematik nicht bewandert sind. Sie kennen sich nicht aus in der modernen Physik und Kosmogonie.

Frau Nalimov: Das Problem der heutigen Philosophie ist eben, daß sie nicht die moderne Physik, die moderne Mathematik und die moderne Kosmologie kennt. Sehen sie, die Philosophie stagniert praktisch, tritt auf der Stelle; unter anderem auch die deutsche Philosophie. Es gibt zum Beispiel das sogenannte anthrope Prinzip. Dieses sagt aus, daß diese Welt auf dem Verhältnis der Zahlen basiert. Wenn sich in dem Verhältnis der Zahlen auch nur etwas verändern würde, würden wir nicht existieren.

Frau Nalimov: Es sind die Grundkonstanten.

Herr Nalimov: Es entsteht daraus die philosophische Hauptfrage: „Woher kommen diese Grundkonstanten?“ Und existieren sie überhaupt irgendwo? Weshalb lenken sie die physische Welt?

Denn die Zahl ist keine physische Erscheinung, sondern eine semantische, und daraus entsteht die Frage: Warum leitet die semantische Welt die physische? Und von den Philosophen beschäftigt sich niemand mit ihr.

Frau Nalimov: Das ist ein sehr schwieriges Thema, dem die Philosophen früher wie jetzt ausgewichen sind. Z. b.: Die russische Übersetzung der Abhandlung Plotins über die Zahl, die er „Dialektik der Zahl“ nannte; die Philosophen haben diese Abhandlung nicht übersetzt.

Prof. Nalimov: Sie halten es für Mystik!

G.D.: Glauben sie, daß man das Leben und das Bewußtsein mathematisch formulieren kann?

Prof. Nalimov: Ja, ich baue eine axiomatische Theorie des Bewußtseins und es beruht auf einer neuen Logik und zwar auf einer nicht aristotelischen Logik, sondern auf der Logik von Beyes, und ich nenne das auch den Syllogismus von Beyes. Ich denke, daß die Philosophie sich axiomatisch aufbauen sollte. Und dann ist es völlig natürlich und unentbehrlich die Mathematik anzuwenden. Ich möchte aber noch mal für eine Minute zum anthropen Prinzip zurückkommen. Um das anthrope Prinzip zu verstehen, müssen wir begreifen, daß es in der Welt neben dem Bewußtsein des Menschen noch anderes Bewußtsein gibt. Wie könnte die Zahl sonst überhaupt wirken in der Welt.

G.D.: Betrachten sie die Zahl also als das höchste schöpferische Prinzip?

Prof. Nalimov: Ja, in der Tat, wie sie gesagt haben, die Zahl ist das Universelle Schöpferische Prinzip der Welt und nur durch die Zahl ist die Welt erkennbar, denn... leben in einer Welt, die wir selbst erdacht haben. Wenn gefragt wird, was denn die Realität sei, so kann man darauf nicht antworten. Damit habe ich mich speziell beschäftigt. Es gibt keine Kriterien der Realität. Wir leben in unserer eigenen von uns selbst erdachten Welt, die sich in Wechselwirkung mit einer gewissen anderen Welt, die außerhalb des Menschen ist, befindet.

Frau Nalimov: Vasily Vasilyevich hat ein Buch geschrieben, dessen Titel auf Russisch „Die Welt als Maß und Geometrie" heißt.

Prof. Nalimov: Das ist ein Buch über die Evolution, über die Vielfalt der Arten in der Natur.

Frau Nalimov: Dieses Buch ist in den USA in den achtziger Jahren erschienen und der englischsprachige Titel lautet: „Zeit, Raum und Leben“.

Aber V. V. möchte, daß ich noch etwas über sein biographisches Buch sage. Wenn ich es tue, werden Sie verstehen, warum er möchte, daß ich darauf eingehe. Das hat etwas mit seinen geistigen Lehrern zu tun, die schon zu Beginn des Jahrhunderts am Beispiel Rußlands erkannt hatten, was die Krise der Kultur bedeutet. Und das, was diese Lehrer zu Beginn des Jahrhunderts formulierten, hat sich fortgesetzt - und findet sich als Problemstellung in nahezu allen Beiträgen im Rahmen dieser Sommeruniversität wieder - in solchen Schlüsselworten wie Gewaltlosigkeit, Freiheit, Bewußtsein. Nur sind die Dimensionen des Problems noch viel gefährlicher und furchterregender, weil die Technik sich in hohem Tempo entwickelt hat, während das Bewußtsein stark zurückgeblieben ist. Die Bewegung, der V. V. in den zwanziger Jahren angehörte nannte sich "mystischer Anarchismus". Es handelte sich dabei in der Tat um die russische Abteilung des Templerordens. Das war natürlich unter den damaligen Verhältnissen nicht legal, aber diese Bewegung umfaßte einen großen Teil der Intelligenz: Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Theaterschaffende, alle, die direkt einen realen Beitrag zur Entwicklung der Kultur leisten konnten, weil die Lage im Land mit dem Anwachsen der Repression immer schlimmer wurde.

Prof. Nalimov: Denn der Templerorden basierte auf der Gnosis. Die Gnosis hat immer im Untergrund der europäischen Kultur gelebt und ebenso der Templerorden. Er war immer sehr geheim. Zu Beginn des Jahrhunderts faßte eine kleine Gruppe der Templer in einer der „Konklaven“, wie es sich nannte, den Beschluß, an die Öffentlichkeit zu treten, auf den großen Weg sozusagen hinauszugehen. Der Beschluß beruhte darauf, daß die Tendenz der Verschlimmerung der Situation sich ganz klar abgezeichnet hat. Und sie nahmen das Risiko auf sich, mißverstanden und verleumdet zu werden. Und die Idee bestand darin, daß diese Leute schon zu Beginn des Jahrhunderts begriffen hatten, daß das Gewaltpotential in Rußland unheimlich im Anwachsen war. Und es ist wichtig zu wissen, daß der Führer des Ordens, der aus Frankreich gekommen ist, der eine sehr hohe Einweihungsstufe in dem Orden hatte, in den ersten Jahren nach der Revolution Mitglied des zentralen Exekutivkommittees war. Der Templerorden hat sich in Rußland am schnellsten und erfolgreichsten entwickelt, gerade in Rußland, nicht nur in Europa und den USA. Aber es bestand damals noch eine Verbindung mit den USA, nach Frankreich und mit Deutschland.

Frau Nalimov: Sie wurden alle vernichtet, ausgerottet. Er ist wahrscheinlich der letzte.

Prof. Nalimov: Ich war zehn Jahre mit dieser Organisation verbunden, aber ich hatte nur den ersten Einweihungsgrad...

Frau Nalimov: Er hält gerne Lektionen. Solange sie Fragen stellen, werden Sie den ganzen Tag zu hören haben.

Prof. Nalimov: Nur zwei Worte noch: Wir haben bisher in der Kultur gelebt, die auf Antworten basierte. Nun gehen wir, bzw. sollten wir in eine andere Kultur übergehen, in die Kultur der Fragen. Eine gut gestellte Frage gibt uns mehr als eine schlechte Antwort. G.D.: Ich würde sie gerne fragen, welche die richtige Frage zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist?

Herr Nalimov: "Wie - muß - die - neue - Kultur - aussehen?" Warum haben wir aufgehört, einander zu verstehen? Man muß auch noch das beachten: Jede richtige Frage enthält auch schon einen Ansatz der Antwort, auch wenn er nicht zum Ausdruck gebracht wird... aber er ist da irgendwie drin. Man stellt niemals Fragen ohne eine Grundlage. - Ich möchte noch ganz kurz folgendes sagen: Mein Vater war ugro-finnischer Abstammung. Und dort herrschte nicht das Christentum, sondern eigentlich noch Heidentum. Die Muttersprache meines Vaters war nicht Russisch. Er hat schlecht Russisch gesprochen. Er hat von dieser Kultur einiges akzeptiert und anderes strikt abgelehnt. Hier in diesem Buch ist recht ausführlich beschrieben, was in der vorrevolutionären Zeit einen Menschen erwartete, der bereit war, eine vorchristliche Kultur zu schützen. Er war Anthropologieprofessor an der Moskauer Universität... er hat praktisch eine neue Disziplin geschaffen, die ethnische Ökologie. Leider hat auch das keine Fortsetzung finden können, weil er 1938 im Gefängnis gestorben ist.

Frau Nalimov: Hier etwas, das ich aus den Archiven des KGB entnommen habe. Das ist seine Mutter. Sie war Chirurgin. Sie gehörte zu der ersten Gruppe von Absolventinnen, die universal ausgebildet waren.

G.D.: Die Fragen, die wir heute stellen müssen, sind also nicht neu.

Prof. Nalimov: Ja, darum geht es ja, die sind nicht neu. Es war eigentlich schon klar zu

Beginn des Jahrhunderts und in den zwanziger Jahren, als sie schon im Raum standen.

Frau Nalimov: Es ist die Frage der Technik. Es war damals schon zu sehen, daß die Technik sich intensiv entwickeln würde... und das Zurückbleiben des Bewußtseins und der Moral. Und das hat eben zu dem Zustand von heute geführt, daß die Technik soweit ist, daß nicht nur ein Staat Gewalt und zwar absolut zerstörerische Gewalt anwenden kann, sondern im Prinzip ein Mensch mit einem Koffer Sprengstoff - und es muß ja nicht immer nur Sprengstoff bleiben - praktisch die Welt zerstören kann, wenn dieses Zurückbleiben der Moral und der Ethik so bleibt. Wir erleben doch, daß ein Mensch unter Verweis auf nationale Ideale oder Ziele ohne weiteres ein Flugzeug runterholt oder einen Zug sprengt und dergleichen.

Prof. Nalimov: Die Menschen haben das Bewußtsein für den Sinn ihrer Existenz und damit auch für Verantwortung verloren. Sie fallen praktisch in die Vergangenheit, in vergangene Muster zurück. Und es ist in Zukunft so, daß die Nationen nicht mehr die Rolle spielen können, die sie einmal gespielt haben. Das Blickfeld, das jetzt möglich ist, ist das der ganzen Welt, der ganzen Menschheit.

Die Ethik: Ich habe gesehen, wie sie in Rußland Stück für Stück kaputtgegangen ist. Ich erinnere mich an meinen Großvater, einen Kaufmann, was war das für eine ethische Persönlichkeit.

Frau Nalimov: Der Großvater, dem wurde nach der Revolution alles weggenommen und er wurde verbannt. Und er war ein derart integerer Mensch, daß er auch diese Wende in seinem Schicksal als etwas hingenommen hat, was ihn gar nicht zerstören konnte. Er war eigentlich der gleiche geblieben, der er vorher war.

Prof. Nalimov: In dieser Broschüre schreibe ich, daß das Hauptelend darin besteht, daß wir die Verbindung zwischen Leben und Tod verloren haben. Alle früheren Kulturen haben irgendwie begriffen, wie Leben und Tod miteinander zusammenhängen. Und auch das haben wir verloren. Die alten Vorstellungen der Religion, die sind schon zu naiv für uns, aber Ersatz ist keiner gekommen. Ich habe Hochachtung vor Heidegger. Er hat viel darüber geschrieben, aber das Thema ist offen geblieben. Wenn diese Frage nicht sinnfällig beantwortet wird, dann verliert sich eine Kultur. Frau Nalimov: Alle Kulturen sind daraus entstanden, daß man versucht hat, an diese Frage zu gehen. Und mit dem Verlust dieses Aspekts im Leben haben wir das sakrale Element des Seins verloren.

Prof. Nalimov: Bei den Templern wurde dieses Problem gelöst. Es gab beispielsweise Meditationen mit der Aufgabe, sich seiner früheren Inkarnationen zu erinnern. Ein ganzes Jahr lang. Eine andere Meditation galt der Gestalt des Ritters. Der Ritter, das war die Ethik.

Frau Nalimov: Ich sage immer, daß er nicht soviel reden soll. Aber dieses starke Verlangen zu sprechen, das er hat, hängt damit zusammen, denke ich, daß er 18 Jahre seines Lebens, die er im Gefängnis, Lagern, Verbannung verbringen mußte, überhaupt nicht die Möglichkeit hatte, das zu tun und sich als Mensch, als denkendes Wesen überhaupt zu realisieren. Deshalb ist dieses Verlangen so stark, obwohl er 85 Jahre alt geworden ist, und er kann solange reden, wie man ihm Fragen stellt. Da gibt es kein Hindernis.

G.D.: Ich bin bereit - Frau Nalimov, sie haben zusammen mit ihrem Gatten geforscht, in den Bereichen der Mathematik, der Biologie etc.

Frau Nalimov: Ja, in demselben Loboratorium. Es hieß früher: "Labor für mathematische Theorie in der experimentellen Forschung". Die Verwendung der mathematischen Methoden unter Einbeziehung verschiedener Disziplinen gestattete uns ein anderes Herangehen. Einst dachte Vasily über die Bedeutungen nach. Er maß dem semantischen Kontinuum einen grundlegenden Stellenwert bei. Es war eine seiner Prämissen. Dann suchte er seine Ideen experimentell abzusichern. Er schlug vor, die Meditation einzusetzen, nicht als Ziel an sich, sondern als Werkzeug zur Erforschung der Bedeutung. Das Resultat der diesbezüglichen Forschungsergebnisse ist dieses Buch. Wir arbeiteten 10 Jahre mit einer Gruppe von Künstlern zusammen... es wird in Kürze in Frankreich erscheinen...und dieses Buch scheint mir auch von grundlegender Bedeutung zu sein. Es geht nicht so sehr um das persönliche Leben, sondern vielmehr ein Beispiel für persönliches Leben vor dem Hintergrund des gesamten Landes...persönliches Leben und Philosophie - Dokumente, Dokumente. Ich würde sagen, wir haben hier zum ersten Mal einen Bericht über die spirituellen Anstrengungen zu Beginn dieses Jahrhunderts. Alle wußten, daß die Anstrengungen vergeblich wären, aber sie gaben dennoch nicht auf. Ich würde sagen, daß alle einen der wesentlichsten Archetypen, den des Königs, realisierten, als die Situation es erforderte, und persönliche Opferbereitschaft abverlangte, da gab es eine beträchtliche Gruppe von Menschen, die bereit waren, sich für ich weiß nicht was zu opfern, praktisch jeder war dazu bereit. Und nun würde ich sagen, daß die Initiation Vasilys durch seine Lehrer, durch ihren Geist, ihr Mentales, ihre Intelligenz, und ihr Herz ihm half, nicht nur das Arbeitslager zu überleben - das war ziemlich einfach für ihn - vielmehr half sie ihm, sich als Mensch zu verwirklichen, stets und überall selbständig zu sein, im Arbeitslager, in der Wissenschaft und stets seinen eigenen Weg zu gehen, unabhängig vom Paradigma, den Meinungen, überhaupt allem zu sein. Ich möchte sagen, er hatte eine Art „access mundi“ in seinem Innern. Es war die Macht der Initiation... Ich habe der Sache nicht getraut, aber nun scheint mir, daß die Meditation etwas bewirkt. Ich kann es nicht erklären, und ich kenne den Mechanismus des Phänomens nicht. Und als Person mit einer dominierenden linken Gehirnhemisphäre würde ich den Mechanismus gerne kennenlernen. Ich kenne ihn nicht, doch ich kann sagen, daß er funktioniert...

Wir waren im Laboratorium für Anomale Phänomene der Pennsylvania State University, wo ich einem Pendel Gedichte rezitierte. Da war ein Computer und ein Pendel, und ich hatte drei Minuten, um die Schwingung des Pendels zu verändern, dieses zu verlangsamen oder zu beschleunigen. „Tue, was du willst, aber berühre es nicht!" Das Pendel befindet sich hinter Glas. Ich rezitierte Gedichte und stellte fest, daß ein Feedback vorhanden war. Es verändert seine Farbe, wenn es sich verlangsamt, zuerst wird es grün und dann dunkelblau und wenn es sich beschleunigt, wird es zuerst gelb und dann dunkelrot; sehr schön. Es ist eine transparente Kugel an einem langen Stab. Und wenn es mir gehorcht, stelle ich fest, daß es seine Farbe verändert. Und es traten praktisch keine Fehler auf. Ich habe eine Woche mit einem Pendel zugebracht und es gehorchte, aber manchmal trat eine Umkehrung des Ergebnisses ein: Ich wollte es beschleunigen und es verlangsamte sich.

Prof. Nalimov: Freier Wille.

Frau Nalimov: Hier handelt es sich um ein Phänomen, dessen Mechanismus nicht erklärbar ist. Aber Vasily sagt, wir leben in einem Feld - das Bewußtsein ist auch eine Art

Feld - und die Situation im Feld hat sich aufgrund meiner Anstrengung verändert und das

Pendel reagierte. Andernfalls muß ich sagen, daß das Pendel sein eigenes Quasi- Bewußtsein hat. Worauf sollte es reagieren?...also haben wir etwas gemeinsam! Prof. Nalimov: Dieses Experiment hat Ähnlichkeit mit der Hypnose. Und die Hypnose kann man durchaus diskutieren...Bewußtsein existiert außerhalb der Persönlichkeit. Frau Nalimov: Sonst könnte ich einen Computer nicht verstehen. Er ist nur eine Maschine. Warum sollte er mir gehorchen? Er ist ziemlich unabhängig von mir. Er hängt vom Operator ab, der ihn programmiert... Das Resultat war am besten, wenn ich still war und wenn mein Herz oder mein Mentales, ich weiß nicht was, sich in einem Zustand tiefer Ruhe befanden...

Nun wurde die Reinkarnationsfrage erörtert

Frau Nalimov: Vasily erklärt einige Dinge gern über die Reinkarnation, obwohl es schwierig ist, zu sagen, ob Reinkarnation stattfindet oder nicht. Wenn man an die Reinkarnation glaubt, hat man Unrecht, wenn man nicht daran glaubt, hat man ebenfalls Unrecht.

Prof. Nalimov: Es gibt einen Professor an der University of Virginia, Stevenson, der 35 Bücher über dieses Thema verfaßt hat, wovon einige sehr bedenkenswert sind. Die Frage der Reinkarnation muß also erörtert, analysiert und interpretiert werden.

G. D.: Gibt es ein wissenschaftliches, physikalisches Herangehen an die Frage der Reinkarnation, ein mathematisches?

Prof. Nalimov: Es ist möglich. Die Wissenschaft kann nicht handeln, kann nicht einsetzen, ohne ein Axiom. Es kommt darauf an, dieses Axiom zu benutzen Wenn ich das Bewußtsein erkläre, dann gehe ich so ran, nach Platon: Als erstes existiert immer ein Ursinn... Wenn man diese Hypothese von Platon annehmen würde, dann kann man eine Theorie des Bewußtseins erarbeiten, aber ohne das braucht man gar nicht erst anfangen. Wichtig dabei ist, daß man sich fragt, wer hat diese Ideen geschaffen, wo kommen sie her, wo gehen sie hin. Und ich antworte auf die Frage, ob es die überhaupt gibt mit einer Gegenfrage und zwar: Wo bitteschön befinden sich die Naturkonstanten? Wer hat sie geschaffen? In welchem Verhältnis stehen sie zu unserem Gedächtnis, zu unserem Bewußtsein?" Wir bauen das Bild unserer Welt, indem wir uns auf ein System von

Axiomen gründen. Wenn die nicht da sind, können wir überhaupt nichts tun. Der Fehler der Psychologen und Philosophen besteht darin, daß sie das nicht verstehen. Nietzsche hat in einer seiner Arbeiten geschrieben, wir haben zuerst die Welt neuralgisiert und dann haben wir sozusagen das andere darauf zugeschnitten.

Frau Nalimov: In seinem Buch „Der Wille zur Macht“. Erst logisieren wir das, und dann suchen wir die ganze Realität dort irgendwie reinzupacken.

Prof Nalimov: Man muß anerkennen, daß es in der Welt ein Mysterium gibt. Der Sinn ist nicht zu versuchen, dieses Geheimnis zu lüften, sondern es zu erweitern. Großes Wissen ist dynamisch. Man muß es jedesmal wieder neu eröffnen. Wir sind Dienende, die diese Rolle erfüllen. Das heißt, daß jeder ein Schüler ist. Das hat mit der Gnosis zu tun, den Templern. Und heute kehrt es in der modernen europäischen Theologie wieder: Jeder Mensch ist ein Theologe.

Ich habe mich gewundert, warum man zu dieser Konferenz nicht die großen deutschen Theologen eingeladen hat, die sich mit einem neuen Verständnis des Christentums beschäftigen. Es ist in Deutschland, überhaupt im Westen so, daß sich die Philosophie in sich selbst geschlossen, und dann kurzgeschlossen hat. Und die Theologie hat sich geöffnet und eine philosophische Bedeutung gewonnen.

Frau Nalimov: Eine Theologie, die sich an jeden einzelnen Menschen wendet. Bultmann, Bonhoeffer, Moltmann. Bonhoeffer wurde vor kurzem ins Russische übersetzt und die Bücher waren sofort vergriffen, weil das auch mit dem persönlichen Beispiel zu tun hat. Herr Nalimov: Und die Artikel von Moltmann und Bultmann sind in "Woprosy Filosofii" (Fragen der Philosophie) erschienen. Das wäre zu früheren Zeiten undenkbar gewesen. Es war ja mal ein marxistisches Organ. Natürlich rechne ich ebenfalls dazu Tillich, ein deutscher Philosoph, der in den USA lebt und Küng. Bei uns war Küng im „geschlossenen Fonds". Aber wir haben Küng gelesen. Wenn ich Bücher aus dem Ausland zugeschickt bekommen habe...der Zustand in dem die ankamen, da fehlten oft Seiten.

Frau Nalimov: Wir haben ein Buch von Stanislav Grof geschickt bekommen und da waren ganze Seiten rausgerissen, weil man meinte, es sei Pornographie. Wir hoffen, daß so etwas nie wieder passiert...wer weiß! Ich denke, daß so etwas eigentlich nie wieder passieren kann, denn wir sind beide der Meinung, daß die Erde jetzt unmittelbar bedroht ist. Er ist der Meinung, daß in einer solchen Situation auf der Erde Verkörperungen erscheinen müssen, die eine so große Erfahrung der Verkörperung über die Welten und Jahrhunderte in sich tragen, daß sie ein neues schöpferisches Potential auf der Erde schaffen können. Düster scheint mir die Perspektive der Entwicklung der orthodoxen Kirche und Theologie. Der Pater Alexander Meen, er war bei uns das, was in Polen Kapeluschka war...ist einem Anschlag zum Opfer gefallen. Er war eine Persönlichkeit, die weit über den Rahmen einer orthodoxen Theologie hinausgegangen ist. Er war eine der Persönlichkeiten in der orthodoxen Kirche, die am meisten auf der Höhe der Zeit standen und verfügte über umfangreiches Wissen auf verschiedenen Gebieten.

G.D.: Wie sehen Sie die Zukunft Rußlands? Prof. Nalimov: Düster

Frau Nalimov: V.V. stand in unserem Land eine Zeitlang an der Spitze einer Schule für Planung der mathematischen Theorie des Experiments und beschäftigte sich mit der Planung von Experimenten. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung besteht immer darin, eine Situation anhand der Faktoren, die in ihr wirken, zu beurteilen und daraus Schlüsse zu ziehen; die Extrapolation des Möglichen. Extrapolation in dem Sinne: „Was wird sein, wenn die Dinge laufen, wie sie laufen?“ Und alle unsere Systeme sind jedoch offene Systeme und es sind immer Außeneinwirkungen und überraschende Entwicklungen möglich.

Frau Nalimov: Und sind außerdem multifaktoriert, also mit vielen Faktoren. Wir wissen nicht, welcher in welchem Moment praktisch omnipotent werden kann. Herr Nalimov: Tragisch ist, daß sich wieder der Nationalismus erhebt. Aber es sind andere Waffen entstanden.

Frau Nalimov: Der Nationalismus war noch nicht so schlimm, als die Technik noch nicht die heutige Qualität hatte.

Prof. Nalimov: Warum hat Frankreich da jetzt wieder seine Atomwaffentests aufgenommen?

Frau Nalimov: Und alle Länder machen, wohin man sieht, die größten Gewinne im Waffenexport. Dazu sind sehr große kollektive Anstrengungen nötig, weil die Probleme, um die es da geht, tatsächlich multifaktoriert sind. Deshalb ist auch eine Zusammenarbeit, eine breite Zusammenarbeit nötig.

Prof. Nalimov: Das wichtigste, was nötig ist, ist, daß die Menschen anfangen zu denken. Sie denken noch nicht. Sie haben im Kopf Geldideen - Autokaufen und solche Dinge, aber es ist noch kein Denken.

Frau Nalimov: Wie kann man den Menschen klar machen, daß jeder einzelne Mensch auf der Erde für sein eigenes Leben, aber auch für das der anderen Verantwortung trägt? Prof. Nalimov: Das Problem ist, daß der Mensch Bedürfnisse hat. Die Psychologen sind nicht imstande, sie zu definieren. Eines der wichtigsten Bedürfnisse eines jungen Mannes ist, ein Held zu sein. Wie kann man heute ein Held werden? Ein Bandit, ein Mafioso werden, ein ausländisches Auto einer guten Marke kaufen.

Frau Nalimov: Dann ist er schon ein Held. Worauf es ankommt ist, die menschliche Natur zu verstehen und - davon ausgehend - neue Ansätze der Bildung entwickeln. Ein Frau ist in der Lage, ihr ungeborenes Kind zu verstehen. Das System der paradigmatischen Sinninhalte, das ist es, was sich verändern muß.

Prof Nalimov: Also die Suche nach neuen Sinninhalten, nach neuen Ideen

G. D: Neue Werte.

Prof. Nalimov: Dieses Thema der Suche nach neuen Sinninhalten, das ist es eigentlich, worauf es ankommt.

Frau Nalimov: In Rußland sind die Werke von Carlos Castaneda sehr populär. Sie werden jetzt sogar veröffentlicht, aber vor 15 Jahren sind sie im Samisdat (Selbstverlag) herausgekommen. Und ich glaube gerade bei Carlos Castaneda, da gibt es vor allem eine Stelle, die mit der Verantwortung des Menschen auf der Erde zu tun hat und die klingt eigentlich ganz einfach: ...so zu leben, als würde man den letzten Tag leben. Memento mori! hieß es in der hellenischen Zeit. Und wenn die Menschen das begreifen, dann bekommen sie auch wieder ein moralisches Herangehen an das Problem des Todes und der Wiedergeburt, der persönlichen Moral und Ethik.

Prof. Nalimov: Dieses Problem kann man nicht verstehen, wenn man sich nicht ernsthaft mit der Reinkarnation beschäftigt. Das Christentum hat bis zum fünften Jahrhundert die Reinkarnation anerkannt.

Frau Nalimov. Für eine neue Kultur brauchen wir also eine neue Axiomatik.

Prof. Nalimov: Darüber hat Heidegger gesprochen.

Frau Nalimov: Sein (Vasily Vasilyevichs) Hauptthema ist Zeit, Raum und Zahl. Und aus diesem philosophischen Interesse hat sich ein neues ergeben. "Was ist Wirklichkeit?" Prof. Nalimov: Ich habe nach den Kriterien der Realität gesucht. Es gibt sie nicht. Man kann sie nicht entdecken. Das ist ein Begriff, der sinnentleert zu sein scheint. Ich habe darüber einen Artikel geschrieben - wenn es jemand übersetzen würde. Aber mit diesem Thema haben sich schon die alten Griechen beschäftigt.

Frau Nalimov: Die Griechen haben keine einheitliche, sondern verschiedene Wirklichkeiten gehabt. Die der Mysterien, die des alltäglichen Lebens, die der Philosophie, verschiedene. Wir sprechen über den Raum, aber Vasily Vasilyevich sagt, eigentlich gibt es den Raum als solchen gar nicht, sondern es gibt unheimlich viele Ebenen des Raumes, auch Geometrien des Raumes.

Prof. Nalimov: Die heutige Mathematik hat die Aussage von Kant bestätigt, daß die Zeit die a priori gegebene Form der Erkenntnis ist. Wir wissen nicht, in welcher Geometrie wir leben und welche real ist. Oder nehmen wie die Geometrie Riemanns, auf der die Relativitätstheorie von Einstein basiert, ist die real?

Der Rektor unserer Universität hat in einem Buch geschrieben, daß sich Einstein möglicherweise in der Riemannschen Geometrie verirrt hat, und daß es viel leichter gewesen wäre, seine Theorie darzulegen, wenn er stattdessen auf die Geometrie Minkowskis zurückgegriffen hätte, d. h. es geht dabei eigentlich um die Euklidische Geometrie - mit einer Besonderheit ... weil verschiedene Geometrien im Prinzip dasselbe aussagen können. Aber für bestimmte Objekte gibt es jeweils eine, die besonders geeignet ist oder andere, die weniger geeignet sind. Aber eine Verifizierung ist nicht möglich.

Frau Nalimov: Die Verifizierung ist nicht möglich, weil die Entdeckung der schwarzen Löcher praktisch der Beweis wäre. Und die Frage nach ihrer Existenz ist offen. Aber wir wissen nicht, wie man sie entdecken sollte. Wenn man das nicht kann, dann kann man auch nicht entdecken, daß es sie nicht gibt. -

Haben Sie Ideen, wie man zusammenarbeiten könnte?

G. D.: Bücher übersetzen, Wissen vermitteln...Das ist in der Tat noch eine sehr gute Frage.

Was tun?

Wie antworten Sie auf diese Frage?

Prof. Nalimov: Wichtig ist, daß es ins Wachbewußtsein der Gesellschaft genommen wird, daß es überhaupt einmal ins Bewußtsein genommen wird.

Frau Nalimov: David Bohm ist kurz vor seinem Tod auf einer von Stanislav Grof veranstaltete Konferenz über transpersonale Psychologie in Prag aufgetreten. Er sagt, es ist nötig, daß sich alle zusammenfinden, die etwas dazu zu sagen haben und ihre Gedanken austauschen. Es war für ihn ungeheuer wichtig, daß sie erst 'mal alle zusammen sind.

Prof. Nalimov: Man muß praktisch Alarm schlagen, damit die Leute wach werden, man muß sie aufwecken, richtig aufwecken.

Frau Nalimov: David Bohm war ein wunderbarer Mann. Das Zusammensein mit ihm das war wunderbar, selbst wenn er dasaß und überhaupt nichts gesagt hat. Er war ein begeisternder Mensch, der wunderbar zuhören konnte. Und das was er hörte, konnte er verstehen. Er war der angenehmste und klügste Physiker und Mensch unter den vielen, vielen Menschen, die wir getroffen haben. Seine Idee ist ganz einfach: Wenn sich alle Menschen zusammenfinden und sprechen, über ein bestimmtes Problem sprechen, dann hören die Zuhörenden die Schlüsselworte heraus, und die können sich dann neu organisieren. Und daraus entsteht dann ein neuer Sinn und Gedanke. Und wenn das Problem erst mal ausgesprochen worden ist, dann ist damit auch die Frage ausgesprochen und dann setzt der Prozeß der Antwort, der Lösung ein. - Das wichtigste für mich ist, was er (Vasily Vasilyevich) hier geschrieben hat: „...daß großes Wissen dynamisch ist. Man muß es jedesmal wieder neu aufschließen. Wir sind Diener, die diese Rolle erfüllen. Wir sind alle Teilnehmer dieses schöpferischen Prozesses. Wichtig ist, daß man daran teilnimmt.“

Prof. Nalimov: Ich kann auf die Frage antworten: "Worin besteht der Sinn des Lebens?" Wir müssen die Struktur, den Bau der Welt erkennen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 109 Seiten

Details

Titel
Millennium - Gespräche mit namhaften internationalen Persönlichkeiten
Autor
Jahr
2010
Seiten
109
Katalognummer
V160240
ISBN (eBook)
9783640804191
ISBN (Buch)
9783640804757
Dateigröße
799 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Physik, Medizin, Wirtschaftswissenschaften, Recht, Politik, Nobelpreisträger, Interviews, nobel prize laureates, interviews with leading scientists
Arbeit zitieren
D.E.A./UNIV. PARIS I Gebhard Deissler (Autor:in), 2010, Millennium - Gespräche mit namhaften internationalen Persönlichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/160240

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