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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Bin durch so manch’ Projekt gestolpert. Reflexionen zur Zukunft der Medizinischen Informatik: Schriftliche Ausarbeitung einer Abschiedsvorlesung, gehalten am 22. September 2021 an der TU Braunschweig, nach fast einem halben Jahrhundert Medizininformatik-Tätigkeit

Having stumbled through some projects. Reflections towards the future of medical informatics: Written version of a farewell lecture, held on September 22, 2021, at TU Braunschweig, after almost half a century of biomedical and health informatics activities

Systematischer Rückblick und Perspektiven

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  • corresponding author Reinhold Haux - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Braunschweig, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2022;18(1):Doc01

doi: 10.3205/mibe000234, urn:nbn:de:0183-mibe0002344

Published: February 23, 2022

© 2022 Haux.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Ziel dieser Ausarbeitung ist es, Hinweise zur zukünftigen Entwicklung und zur Rolle des Faches Medizinische Informatik in Form von Reflexionen zu geben.

Um diese Reflexionen zur Zukunft der Medizinischen Informatik besser verständlich zu machen, erschien es dem Verfasser notwendig zu sein, über seine bisherige, fast ein halbes Jahrhundert umfassende Tätigkeit als Medizininformatiker zu berichten. Sie begann 1973 mit einem Medizininformatik-Studium. 1978, vor über vier Jahrzehnten, begann die berufliche Tätigkeit. Nach Abschluss des Sommersemesters 2021 wurde er entpflichtet. Dies war der Anlass, diese Abschiedsvorlesung auszuarbeiten.

In 20 Reflexionen werden Überlegungen vorgestellt zu fachlichen Werdegängen (R1 – ‚Orte’), zum Fach Medizinische Informatik (R2 – ‚Interdisziplinarität’, R3 – ‚Ausrichtungen’, R4 – ‚Zugehörigkeiten’), zu Forschung (R5 – ‚Dualität’, R6 – ‚Zusammenflüsse’, R7 – ‚Zusammenhänge’, R8 – ‚Zusammenwirken’), zur Lehre (R9 – ‚Gemeinschaft’, R10 – ‚Kompetenzen’, R11 – ‚Zugänge’), zu akademischer Selbstverwaltung (R12 – ‚Selbstständigkeit’), zu Mitgestaltung (R13 – ‚Sisyphos’, R14 – ‚Fachgesellschaften’, R15 – ‚Respekt’, R16 – ‚Gratwanderung’) und zur Wissenschaftlichkeit (R17 – ‚Zeitinvarianten’, R18 – ‚Zeitgeist’, R19 – ‚Erkenntnisgewinn’, R20 – ‚Einüben’).

Schlüsselwörter: Medizinische Informatik, Forschung, Lehre, akademische Selbstverwaltung, Mitgestaltung, Wissenschaftlichkeit

Abstract

The aim of this essay is to provide guidance on the future development and role of medical informatics, or biomedical and health informatics, in the form of reflections.

In order to make these reflections on the future of medical informatics more understandable, it seemed necessary for the author to report on his previous work as a medical informaticist, which spans almost half a century. It began in 1973 when he started to study medical informatics. In 1978, more than four decades ago, his professional work started. He retired at the end of the 2021 summer semester. This was the occasion to prepare this farewell lecture.

In 20 reflections, thoughts are presented on professional careers (R1 – ‘places’), on medical informatics as discipline (R2 – ‘interdisciplinarity’, R3 – ‘focuses’, R4 – ‘affiliations’), on research (R5 – ‘duality’, R6 – ‘confluences’, R7 – ‘correlations’, R8 – ‘collaboration’), on education (R9 – ‘community’, R10 – ‘competencies’, R11 – ‘approaches’), on academic self-governance (R12 – ‘autonomy’), on participation (R13 – ‘Sisyphos’, R14 – ‘professional societies’, R15 – ‘respect’, R16 – ‘tightrope walk’), and on good scientific practice (R17 – ‘time invariants’, R18 – ‘Zeitgeist’, R19 – ‘knowledge gain’, R20 – ‘exercising’).

Keywords: medical informatics, biomedical and health informatics, research, education, academic self-governance, participation, good scientific practice


1 Einleitung

1.1 Zur Einstimmung

Mein fachlicher Lebenslauf
Mein fachlich Werk ist bald erzählt.
Nach Abi, Studium und so fort
Professor als Beruf ich wählt’.
War hier mal tätig und mal dort.
Auf fachlich-methodischen Krücken,
ein leichtes Bündel auf dem Rücken,
bin ich getrost dahingeholpert,
bin durch so manch’ Projekt gestolpert,
mitunter grad, mitunter krumm,
und schließlich musst ich mich verschnaufen.
Bedenklich rieb ich meine Glatze
und sah mich in der Gegend um.
O weh! War ich im Kreis gelaufen?
Stand ich nicht noch am alten Platze?

Die Originalfassung des Gedichts, mein Lebenslauf, stammt von Wilhelm Busch ([1], S. 236]). Ich habe es etwas modifiziert. So wird nicht mehr über Steine, sondern durch Projekte gestolpert. Und es ist unvollständig wiedergegeben; zwei Verse fehlen. Am Schluss werde ich nochmals darauf zurückkommen.

Die Originalfassung des Gedichts steht in Anhang 1 [Anh. 1]. Wilhelm Busch (1832–1908) ist vielen von uns durch Kindergeschichten wie Max und Moritz bekannt. Ihn verband eine enge Beziehung zu meinem aktuellen Wohnort Wolfenbüttel, Nachbarstadt von Braunschweig. Zwischen 1862 und 1887 verbrachte er dort bei seinem Bruder Gustav Busch seine Sommer [2].

1.2 Zur Zielsetzung

Ein Ziel dieser Ausarbeitung ist es, Hinweise zur zukünftigen Entwicklung und zur Rolle des Faches Medizinische Informatik zu geben. Ich habe sie Reflexionen genannt. Es sind 20 geworden und sie betreffen nicht nur die Medizinische Informatik. Dies könnte Sie, die Sie diesen Beitrag lesen, interessieren. Ein weiteres Ziel ist es, über meine bisherige Tätigkeit als Medizininformatiker zu berichten. Dies mag weniger interessant sein. Um meine Reflexionen zur Zukunft der Medizinischen Informatik besser verständlich zu machen, erschien mir dies jedoch notwendig zu sein.

Zudem ergab sich damit die Gelegenheit, eine Art Tätigkeitsbericht abzugeben bzw. die Frage ‚Was macht denn so ein Professor den ganzen langen Tag?’ wenn auch nicht umfassend zu beantworten so doch aber vielleicht näher zu erläutern. Ein weiterer Aspekt: Manche, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, kennen nur einzelne oder nicht alle meiner fachlichen Lebensabschnitte. Vielleicht mag die Gesamtschau für sie interessant sein.

Meine Reflexionen zur Zukunft werden nach fast einem halben Jahrhundert Medizininformatik-Tätigkeit vorgestellt. 1973, vor fast 50 Jahren, begann ich Medizinische Informatik zu studieren. 1978, vor über vier Jahrzehnten, fing meine berufliche Tätigkeit an.

Berichte ich wirklich über meine bisherige Tätigkeit als Medizininformatiker? Eigentlich ist dies nicht möglich, da ich immer mit anderen Personen zusammengearbeitet habe. Viele Personen, die ich während dieser fast fünf Jahrzehnte kennengelernt habe, haben mich nicht nur beeindruckt, sondern auch geprägt. Von diesen Personen habe ich gelernt und lerne ich noch heute, übrigens bei weitem nicht nur von Kolleginnen oder Kollegen in meinem Fachgebiet. Nenne ich hier Erreichtes, dann haben diese Personen dies mit erreicht. Seit 1987, seit fast 35 Jahren, bin ich Professor. Mein Bericht mag auch als ein Beispiel für die Tätigkeiten von Professorinnen und Professoren dienen.

Leider kann vieles hier nur gestreift und muss vieles vereinfacht dargestellt werden.

Solche Reflexionen müssen subjektiv sein, auch wenn sie meines Erachtens nicht unbegründet sind. Der Bericht über meine Zeit als Medizininformatiker soll keine Wertung über meine Tätigkeit enthalten. Es ist meine Überzeugung, dass eine solche Wertung einem selbst nicht zusteht, sondern ggf. durch andere zu erfolgen hat. Die Leserschaft einer solchen Ausarbeitung ist heterogen und dürfte von Medizininformatiker_innen verschiedenster ‚Entwicklungsstufen’ (von Studierenden bis zu Emeriti) über Personen mit anderem fachlichen Hintergrund bis hin zu Entscheidungsträgern reichen. Allen gleichermaßen gerecht zu werden ist – zumindest mir – nicht möglich. Je nach fachlichem und nach Tätigkeitshintergrund könnten manche Literaturhinweise zur Erläuterung von hier gemachten Aussagen hilfreich sein.

1.3 Doch zuerst …

Doch zuerst: Es ist mir ein Anliegen, diese Abschiedsvorlesung auch dazu zu nutzen, um um Entschuldigung zu bitten …

  • … bei all denjenigen, die ich verletzt habe
  • … oder die ich unangemessen oder ungerecht, zudem möglicherweise auch arrogant, überheblich und abwertend behandelt habe.

Mir fallen immer wieder Situationen ein, bei denen dies der Fall war. Oft ergab sich dann keine Gelegenheit mehr, die Personen selbst um Entschuldigung zu bitten. Und zudem wird es manche solcher Situationen gegeben haben, bei denen ich dies gar nicht erkannt hatte. Wenigstens auf diesem Wege möchte ich zum Ausdruck bringen, dass ich mir dessen bewusst bin, dass ich dies bedaure und dass ich, in aller Bescheidenheit, um Entschuldigung bitten möchte.

1.4 Die Blickwinkel

Um auf die Reflexionen zur Zukunft der Medizinischen Informatik einzugehen, werde ich eine in diesem Fachgebiet übliche Vorgehensweise wählen. Wir wissen aus der Konstruktion von Ordnungssystemen, dass es Sinn machen kann, einen Gegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln zu charakterisieren und anhand solcher ‚Dimensionen’ einen mehrdimensionalen Raum aufzubauen.

Diese Blickwinkel bezeichnen wir bei Ordnungssystemen als semantische Bezugsysteme. Für die Fachfremden: Das klingt jetzt vielleicht komplizierter als es ist. Bei Krankheiten und deren Diagnosen wissen wir, dass diese etwa durch die semantischen Bezugssysteme Topographie (Wo manifestierte sich eine Krankheit?), Ätiologie (Wodurch wurde eine Krankheit verursacht?) und Morphologie (Welche Gewebeveränderungen ergaben sich durch eine Krankheit?) charakterisiert werden können.

Für diese Reflexionen, habe ich folgende, jeweils auf das Fach Medizinische Informatik bezogenen Blickwinkel gewählt (Untergliederungen in Klammern):

als Hauptblickwinkel

  • Forschung (inhaltlich, methodisch) und
  • Lehre (Unterricht, Curricula)

sowie als weitere Blickwinkel

  • akademische Selbstverwaltung,
  • Mitgestaltung und
  • Wissenschaftlichkeit.

Dennoch geht es immer um eine Sache, die nur aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird; so wie auch eine Krankheit eine topografische, ätiologische oder morphologische Ausprägung haben kann.

Für die Reflexionen aus diesen Blickwinkeln werde ich Bezug auf meine fachlichen Lebensabschnitte nehmen. Zudem war es sinnvoll, zunächst das Fach Medizinische Informatik zu charakterisieren, beides ebenfalls mit Reflexionen dazu.

1.5 Literaturverweise

Eine solche Ausarbeitung führt fast notwendigerweise zu einer erheblichen Anzahl an Eigenzitaten und damit auch zu einem Konflikt im Hinblick auf das Einhalten der Regeln zu guter wissenschaftlicher Praxis, die bei wissenschaftlichen Ausarbeitungen aus guten Gründen erwarten, dass der Anteil an Eigenzitaten klar begrenzt sein soll. Gerne ist der Verfasser dem Vorschlag der Gutachter und der Hauptherausgeberin gefolgt, dies zu berücksichtigen. Die hier gefundene Lösung:

  • Im Literaturverzeichnis befinden sich nur Arbeiten, bei denen der Verfasser nicht beteiligt war. Diese Zitate sind mit arabischen Ziffern gekennzeichnet.
  • Im Text erwähnte Arbeiten, an denen der Verfasser beteiligt war, sind mit römischen Ziffern gekennzeichnet. Sie werden nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt, sondern sind in Anhang 2 [Anh. 2] aufgelistet.

2 Die Reflexionen zu fachlichen Lebensabschnitten und zur Medizinischen Informatik als Fach

2.1 Die fachlichen Lebensabschnitte

Meine fachlichen Lebensabschnitte sind in Abbildung 1 [Abb. 1] als gerichteter Graph dargestellt. Eine zeitlich gegliederte Darstellung befindet sich in Abbildung 2 [Abb. 2]. Der obere Teil mit den Hochschulen wird in den Reflexionen weiter als Orientierung genutzt und in den weiteren Abbildungen verwendet.

In beiden Abbildungen wurde vereinfacht. Eine detailliertere Darstellung ohne diese Vereinfachungen befindet sich in Anhang 3 [Anh. 3]. Ein Bericht über die meisten dieser fachlichen Lebensabschnitte mit zusätzlichen Informationen, insbesondere mit Nennung von Personen, die mich in meiner fachlichen Entwicklung in besonderer Weise geprägt haben, befindet sich in [I].

Den Abbildungen kann entnommen werden, dass die längsten fachlichen Lebensabschnitte mit der Universität Heidelberg (insgesamt 18 Jahre) und mit der Technischen Universität Braunschweig (bisher 17 Jahre) verbunden sind. Auch wenn jeder meiner fachlichen Lebensabschnitte von Bedeutung war, so waren diese beiden die am meisten prägenden.

Die fachlichen Lebensabschnitte beginnen in den 1970er-Jahren. Sowohl gesellschaftlich-politisch als auch wissenschaftlich-technologisch waren diese Jahre im Vergleich zu den 2020er-Jahren von heute erheblich anders. Es gab einen West- und einen Ostblock, der Europa durch einen die Menschen be- und unterdrückenden eisernen Vorhang trennte und der Deutschland in zwei Staaten teilte. Noch gab es keine PCs, kein Internet und keine E-Mail-Kommunikation. Lochkarten waren ein durchaus übliches Kommunikationsmedium. Mit der gerade eingeführten Computertomografie gab es zwar erhebliche Fortschritte in der bildgebenden medizinischen Diagnostik; bis zur klinischen Nutzung der Magnetresonanztomographie wird jedoch noch über ein Jahrzehnt vergehen. Die Lebenserwartung bei Geburt betrug in Deutschland 71 und weltweit 58 Jahre; heute liegt sie mit 81 bzw. 72 Jahren deutlich höher [3].

In dieser Zeit etablierte sich weltweit und auch frühzeitig in Deutschland ein neues Fachgebiet, die Informatik [4]. Ich hatte das Glück in einem der ersten, wenn nicht dem ersten Medizininformatik-Studiengang weltweit [5] einen der ersten Studienplätze zu erhalten, dem gemeinsam von der Universität Heidelberg und der Hochschule Heilbronn seit dem Wintersemester 1972/73 angebotenen Studiengang Medizinische Informatik [6]. Wir, die wir uns mit diesen damals noch neuen Informatik-Methoden und -Werkzeugen befassten, spürten förmlich sowohl die Aufbruchstimmung durch Informatik, den Beginn eines neuen Zeitalters, das heute das Zeitalter der Digitalisierung oder das Zeitalter der Informationsgesellschaft genannt wird, als auch sein Potential für die Medizin und die Gesundheitsversorgung.

„Computer verändern die Medizin“ lautete der Titel eines Buches aus dieser Zeit [7]. Der erste Medizininformatik-Weltkongress im Jahr 1974 belegte die weltweite Bedeutung dieser Entwicklung. Auch in Deutschland gab es sozusagen sichtbare Entwicklungssprünge beispielsweise in der Diagnostik (z.B. [8], in der Therapieforschung (z.B. [9]) oder bei Krankenhausinformationssystemen (z.B. [10]).

Reflexionen

R1 – ‚Orte’: Die Wechsel an verschiedene Einrichtungen haben mir gut getan. Als Selbstverständlichkeiten angenommene Dinge, sei es in der Methodik, sei es in dem Umgang miteinander, relativierten sich; der eigene Horizont wurde breiter; übrigens auch die Wertschätzung von Dingen, die vorher einfach als sowieso gegeben hingenommen wurden. Nicht nur wie in meinem Fall bei Hochschulkarrieren sollten Wechsel unterstützt und auf möglichst einfache Weise auch im internationalen Kontext ermöglicht werden können.

Das PLRI ist seit 2015 in der MHH federführend im Austauschprogramm BMEP (Biomedical Education Program) engagiert [11]. Seit 1979 werden über dieses Programm Auslandsaufenthalte von Studierenden aus biomedizinischen Studiengängen gefördert. Über 750 Studierende haben bisher davon profitiert, einschließlich Studierender und Doktorand(inn)en der Medizinischen Informatik.

2.2 Medizinische Informatik: das Fachgebiet und seine Ziele

Die Medizinische Informatik befasst sich mit der systematischen Organisation, Repräsentation und Analyse von Daten, Informationen und Wissen in Medizin und Gesundheitsversorgung. Ihr Ziel ist es, über Grenzen hinweg, zu einer qualitativ hochwertigen, effizienten wie auch bezahlbaren Gesundheitsversorgung für die Menschen auf unserer Erde sowie zum Fortschritt der Wissenschaften beizutragen. Auf den Einschub „über Grenzen hinweg“ werde ich in Abschnitt 3.4 eingehen. Bei Methodik und Werkzeugen kann die Medizinische Informatik der Informatik zugeordnet werden. Im Hinblick auf ihre Zielsetzung gehört sie zur Medizin: Wie bei wohl allen medizinischen Fachgebieten geht es ihr um die Sorge um die Gesundheit der Menschen und damit auch – dies mag besonders in der heutigen Zeit ergänzt werden – um die Welt, in der wir leben.

Medizinische Informatik als Fachgebiet adäquat zu definieren, war mir praktisch von Beginn an ein Anliegen und auch Gegenstand zahlreicher Diskussionen mit Kolleg(inn)en. Es dauerte lange, bis ich zu einer für mich zufriedenstellenden Definition gekommen bin. Eine vollständige, nach meiner Überzeugung passende Definition des Faches befindet sich in [II], Abschnitt 2 und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Dass Medizinische Informatik nicht nur in den 1970er-Jahren, sondern bis heute ein spannendes, faszinierendes Fach ist, mag die Beschreibung in Anhang 4 [Anh. 4] verdeutlichen. Als ein vergleichsweise abstraktes Fachgebiet war es besonders in den Anfangszeiten der Informatik nicht immer leicht, fachfremden Personen die Tätigkeit eines Medizininformatikers zu erklären. Eine Anekdote hierzu befindet sich in Anhang 5 [Anh. 5].

Die Zielsetzung der Medizin – und damit auch die der Medizinischen Informatik – wurde von Prof. Klaus Gahl, wie ich finde, in bemerkenswerter Weise charakterisiert:

„Für die Medizin scheint mir ihr selbst-reflektierender Charakter besonders wichtig: eingefügt in unser aller sozio-kulturellen Raum hat sie immer auch zu bedenken, vor welchem Menschenbild, in welchem Wertehorizont zwischen Gesund- und Kranksein, zwischen ‚Normalität’ und ‚Abnormität’ sie handeln

  • muss – das betrifft die Frage der Dringlichkeit für den Kranken –,
  • soll – das betrifft den praktischen Aspekt für den Kranken und das medizinische Selbstverständnis –,
  • darf – das betrifft die individual- und sozial-ethische, die moralische und die rechtliche Dimension –,
  • kann – das betrifft die medizinische Kompetenz und die institutionalisierte Dimension des Gesundheitswesens – und schließlich auch
  • will – das betrifft die Entschlossenheit der an der Gesundheitsversorgung beteiligten Personen – von Ärztinnen/Ärzten und Pflegekräften bis hin zu Angehörigen und zur betroffenen Person selbst – unter Berücksichtigung derer ‚Einbindungen’.

Mit diesen Modalitäten des Handelns ist ‚die Medizin’ zudem nicht nur dem Status praesens sondern auch der Prognose (der aktuellen Krankheit und der Entwicklung der Medizin und der Gesellschaft) verpflichtet.“ ([12]. Klaus Gahl nimmt dabei Bezug auf Viktor von Weizsäckers pathische Kategorien muss, soll, darf, kann und will [13]).

Eine ähnlich beeindruckende und motivierende Beschreibung des Fachgebietes Informatik kenne ich nicht. Vielleicht gibt es sie. Ansonsten würde es sich lohnen, sie zu verfassen. Die Charakterisierung von Medizinischer Informatik in Anhang 4 [Anh. 4] mag Anregungen dazu geben.

Reflexionen

R2 – ‚Interdisziplinarität’: Medizinische Informatik gehört zur Medizin und zur Informatik. Das Fachgebiet ist in hohem Maße interdisziplinär, was Multi- bis hin zur Transdisziplinarität mit umfassen kann (vgl. z.B. [14], [II], S. 258]). Dies bedingt, sich sowohl mit anderen Fachgebieten der Medizin und der Informatik auszutauschen, dies bei den Methoden und Werkzeugen, wie auch bei den zu erreichenden Zielen. Hinzu kommt der Austausch mit weiteren Fächern. Personen, die auf diesem Gebiet arbeiten, müssen interdisziplinär und im Team arbeiten können und dies möglichst auch wollen. Diese in diesem Fachgebiet vermutlich besonders ausgeprägte Interdisziplinarität sollte in Ausbildungsinhalten wie auch in der Organisation der Arbeit in Medizininformatik-Einrichtungen berücksichtigt und gefördert werden.

R3 – ‚Ausrichtungen’: Eine Frage, die sich spätestens seit meiner beruflichen Tätigkeit als Professor immer wieder gestellt hat, ist, ob Medizininformatik an Universitäten als eine ‚experimentelle und beobachtende’ oder auch als eine ‚gestaltende’ Disziplin gelebt werden soll. Anders formuliert: Sollen Medizininformatik-Institute an Universitäten neue Methoden und Werkzeuge experimentell untersuchen und prototypisch entwickeln und deren Anwendung in der Praxis der Gesundheitsversorgung zwar nach wissenschaftlichen Methoden beobachten und bewerten, aber diese nicht selbst zur Verfügung stellen? Dann würde Medizininformatik an Universitäten als experimentelle und beobachtende Disziplin gelebt werden, so wie wohl die meisten Fachgebiete mit ihren Forschungseinrichtungen an Universitäten ausgerichtet sind. Oder soll Medizininformatik an Universitäten auch in der Praxis der Gesundheitsversorgung tätig werden, wie dies beispielsweise in manchen Ingenieurswissenschaften der Fall ist oder wie dies für viele klinische Fächer zutrifft, in denen Forschung, Lehre und Krankenversorgung als Einheit gelebt wird? Gestaltend könnte bedeuten, dass digitale Diagnostika und Therapeutika auch angewandt werden oder dass das Management der Informationssysteme der Universitätsklinika als Medizininformatik-Aufgabe mit übernommen wird. Weltweit haben sich beide Varianten in verschiedensten Ausprägungen etabliert. Diese Frage sollte auch in der Zukunft immer wieder neu gestellt und geprüft werden.

R4 – ‚Zugehörigkeiten’: Wenn Medizinische Informatik zur Medizin und zur Informatik gehört, welcher Untergliederung innerhalb einer Hochschule, beispielsweise welcher Fakultät einer Universität, sollte ein Institut für Medizinische Informatik dann zugeordnet werden? Empfehlen möchte ich eine Zugehörigkeit zu beiden Fakultäten, Medizin wie Informatik, wie es beispielsweise mit dem Aufbau des Peter L. Reichertz Instituts gelungen ist. Diese doppelte Zugehörigkeit umfasst unter anderem das Promotionsrecht in der Medizin, hier an der MHH, und in der Informatik, hier an der TU Braunschweig. In dem PLRI wird sowohl zum Dr.med. als auch zum Dr.rer.nat. und zum Dr.-Ing. promoviert. Andere organisatorische Möglichkeiten bis zu einer eigenständigen Untergliederung in einer Hochschule sind denkbar und wurden auch umgesetzt. Diese Zuordnungen sind keine Selbstverständlichkeit. Für sie sollte im Sinne einer gelebten Interdisziplinarität auch in Zukunft geworben werden.


3 Die Reflexionen aus verschiedenen Blickwinkeln

3.1 Forschung

Um meine Tätigkeiten aus der Forschungsperspektive zu charakterisieren, macht es Sinn, diese sowohl inhaltlich – gemeint ist hier die medizinische Zielsetzung oder das medizinische Fachgebiet – als auch methodisch zu beschreiben. In Abbildung 3 [Abb. 3] wurde eine Zusammenfassung versucht. Die exemplarische Nennung größerer Forschungsvorhaben, bei denen ich mitarbeiten durfte (in verschiedenen Rollen, zu Beginn als Mitarbeiter, später auch als Teilprojektleiter oder als Sprecher), mögen die inhaltlich-methodischen Zusammenhänge verdeutlichen. Dies sind nur einige unter zahlreichen anderen Forschungsvorhaben, die hier leider nicht genannt werden können. Inhaltlich war ich mit Problemen aus zahlreichen medizinischen Fachgebieten befasst und zwar sowohl zur Diagnostik und Therapie als auch zu Informationssystemen zur Organisation der Gesundheitsversorgung. Methodisch konzentrierten sich meine Arbeiten im Wesentlichen auf die in Abbildung 3 [Abb. 3] genannten Themen.

Ausführlichere Berichte darüber dazu befinden sich in den in meinem Publikationsverzeichnis aufgeführten Publikationen in [III]; auf einige wenige wird hier auch beispielhaft verwiesen.

Zu den inhaltlich-methodischen Zusammenhängen, die hier sehr vereinfacht und exemplarisch dargestellt werden müssen – erheblich differenzierte Darstellungen befinden sich in den genannten Publikationen:

  • Im Schwerpunktprogramm Virushepatitisforschung: Inhaltlich ging es primär um ein besseres Verständnis der viral verursachten Lebererkrankungen und deren Diagnostik, Therapie und Prävention. Dazu war es auch nötig, Datenanalyseverfahren zu entwickeln, welche die Struktur und Verteilung der in den im Schwerpunktprogramm durchgeführten empirischen Studien [IV], [V] erfassten Daten passend modellierten, um damit zu adäquaten Auswertungen beizutragen. Hierzu mussten lineare Rangtests entwickelt und hinsichtlich ihrer ‚Präzision’ untersucht werden, welche u.a. die Multizentrizität der Studien sowie die besondere Typisierung und Verteilung der Daten berücksichtigten [VI], [VII]. Es erfolgten entsprechende Implementierungen, um die in dieser Zeit sich etablierenden statistischen Auswertungssysteme wissenschaftlich adäquat zu nutzen und, möglicherweise, zu deren besserer Konstruktion beizutragen [VIII]. Inhaltlich trug das Forschungsvorhaben mit dazu bei, dass Virushepatitiserkrankungen heute erheblich differenzierter und erfolgreicher behandelt werden können. Methodisch wurden aber auch Beiträge geleistet, die Voraussetzungen zur Planung und Durchführung klinischer Studien sowie zur Analyse der gewonnenen Daten zu verbessern.
  • Im Sonderforschungsbereich Leukämieforschung: Inhaltlich ging es primär um eine differenzierte Diagnostik und Therapie für Patienten, die an Leukämie erkranken. Von Bedeutung war eine weitergehende Differenzierung der Typisierung des menschlichen HLA-Systems (HLA: human leukocyte antigen) verbunden mit einem besseren Verständnis der Immunreaktion bei der Transplantation von Knochenmark. Methodisch wurden semantische Datenmodelle erarbeitet, die diese klinischen wie auch molekulargenetischen Daten mit ihren strukturellen Beziehungen so berücksichtigen konnten, dass diese Repräsentationen gut für Diagnostik und (Transplantations-)Therapie genutzt werden konnten [IX]. Auch dieses Forschungsvorhaben mag dazu beigetragen haben, dass Leukämieerkrankungen heute viel besser behandelt werden können. Es wurde aber auch ein Beitrag dazu geleistet, dass biomedizinische Daten mit ihren spezifischen strukturellen Merkmalen besser repräsentiert und damit auch adäquater genutzt und analysiert werden können.
  • Im Schwerpunkt Medizinische Wissensbasen ging es um eine verbesserte und vor allem wissensbasierte Diagnose- und Therapieunterstützung in der klinischen Medizin, u.a. basierend auf einer formalen Repräsentation von medizinischem Wissen zu Erkrankungen verbunden mit für die klinische Praxis geeigneten Methoden zur Inferenz. Inhaltlich bezog sich diese Forschung auf verschiedene medizinische Fachgebiete. Methodisch konnten unter anderem die zu dieser Zeit erheblich leistungsfähigeren rechnerunterstützten Krankenhausinformationssysteme in diese Entscheidungsunterstützung mit einbezogen und damit konnte Entscheidungsunterstützungsfunktionalität weitaus konkreter, als dies vorher möglich war, in Versorgungsprozesse eingebettet werden [X]. Dies schloss auch den (heute völlig selbstverständlichen) Zugriff auf medizinisches Wissen am klinischen Arbeitsplatz ein [XI]. Der Zugriff auf medizinisches Wissen am klinischen Arbeitsplatz und eine auch auf Wissen basierte Diagnose- und Therapieunterstützung ist heute in wohl allen medizinischen Fachgebieten zur Selbstverständlichkeit geworden. In diesem Schwerpunkt wurde dabei auch dazu beigetragen, besser zu verstehen, wie klinische Dokumentationen und wie Krankenhausinformationssysteme gestaltet werden müssen, um diese für die Versorgungsqualität wichtige Entscheidungsunterstützung gut nutzen zu können.
  • Im Forschungsverbund Gestaltung altersgerechter Lebenswelten ging es um die Identifikation, Weiterentwicklung und Evaluation neuer Verfahren der Informations- und Kommunikationstechnik für altersgerechte Lebenswelten. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung – etwas sehr Positives, aber wohl auch verbunden mit Problemen – ging es inhaltlich um Lebensqualität (‚Selbständigkeit in den eigenen vier Wänden’) und um passende, zeitgemäße Ansätze in der Gesundheitsversorgung geriatrischer Patienten oder einfach nur alter und hochaltriger Personen [XII]. Methodisch stellten sich Fragen, wie assistierende Gesundheitstechnologien passend konstruiert werden konnten – für die Personen selbst, für deren Zugehörige (Angehörige oder andere nahestehenden Personen) oder für professionell an der Versorgung beteiligte Fachkräfte und Einrichtungen (z.B. ambulante Pflegekräfte, geriatrische Kliniken) und wie auch die persönlichen Umgebungen, insbesondere die Wohnung (als weiterer ‚diagnostisch-therapeutischer Raum’) in Versorgungsprozesse passend eingebettet werden können. Von besonderer Bedeutung waren einrichtungsübergreifende (‚transinstitutionelle’) Informationssystemarchitekturen und -infrastrukturen, die auch die nun verfügbare Sensorik für Aufgaben der Prävention und der Diagnostik mit nutzen können, dies bei Berücksichtigung des Datenschutzes und der informationellen Selbstbestimmung [XIII], [XIV]. Dieser Forschungsverbund dürfte zu einem besseren Verständnis beigetragen haben, wie transinstitutionelle Versorgungsprozesse auszusehen haben und wie assistierende Gesundheitstechnologien genutzt und zur Lebensqualität und zur adäquaten Versorgung älterer und hochaltriger Menschen beitragen können. Dies bezieht sich sowohl auf Personen aus ‚inhaltlichen’ Fachgebieten wie Geriatrie oder Gerontologie als auch auf ‚methodische’ Fachgebiete wie Informatik oder Ingenieurwissenschaften.
  • Das offene Rechteck in Abbildung 3 [Abb. 3] soll andeuten, dass es bei mir auch zukünftig Aufgaben in der Forschung geben wird, wenn auch in anderen Rollen. Die Artificial Intelligence in Health Grand Challenge als Teil des Forschungsprogramms Artificial Intelligence Singapore ist ein mit erheblichen Mitteln ausgestattetes nationales Forschungsvorhaben mit dem Ziel auch in Zukunft ein leistungsfähiges nationales Gesundheitssystem zu haben, dies mit Hilfe moderner Informatik-Methoden und Werkzeuge [15]. Als das auf fünf Jahre ausgelegte Forschungsprogramm im Jahr 2018 begann, wurde ich gebeten, den Vorsitz der internationalen Gutachterkommission für das Forschungsvorhaben der Artificial Intelligence in Health Grand Challenge zu übernehmen.
  • Bei Informationssystemen des Gesundheitswesens ging es um die adäquate Nutzung von Informationssystemen für die Gesundheitsversorgung und die dazugehörigen Methoden des Informationsmanagements. Besonders am Anfang, in den 1980er- und 1990er-Jahren, stand die damals aufkommende Nutzung vernetzter Rechnersysteme mit entsprechender Anwendungssoftware im Vordergrund, dies einrichtungsbezogen auf Krankenhäuser und dort vor allem auf Universitätsklinika [XV]. Schrittweise hinzu kam Forschung zur einrichtungsübergreifenden patientenbezogenen Versorgung bis aktuell hin zur personenbezogenen, die Prävention und das Alltagsleben einbeziehenden Gesundheitsversorgung [XVI].

Medizinische Informatik als universitäres Fach kann neben Aufgaben in Forschung und Lehre auch in die Praxis der Gesundheitsversorgung eingebunden sein (vgl. R3). Diese Praxiseinbindung fand bei mir bei Informationssystemen statt, dort bei Krankenhausinformationssystemen. Exemplarisch sei in diesem Fall auf die insgesamt sieben Rahmenkonzepte zur Informationsverarbeitung der Universitätsklinika in Aachen, Tübingen, Heidelberg und Innsbruck sowie dem Klinikum Braunschweig hingewiesen, die jeweils von Bedeutung für die Architektur und Infrastruktur der Informationssysteme sowie für deren Informationsmanagement waren und die in erheblichem Maße die Investitionen dieser Unternehmen beeinflussten. Diese Rahmenkonzepte zur Informationsverarbeitung sind in Anhang 6 [Anh. 6] aufgelistet.

Kann man die Aufwände und den Umfang dieser Forschungsaktivitäten verdeutlichen? Am besten wäre es, über die Ergebnisse jedes einzelnen Forschungsvorhabens zu berichten, auch davon, was gelungen ist und was nicht erreicht wurde. Dies ist nicht möglich, aber dies kann in den Schriften, in denen über diese Forschung berichtet wird, nachgelesen werden. Bis zum Zeitpunkt der Abschiedsvorlesung entstanden 684 solcher Schriften, an denen ich beteiligt war oder die von mir verfasst wurden [III]. 423 davon wurden in referierten Zeitschriften und Tagungsbänden eingereicht und zur Veröffentlichung angenommen. Bei 52 Schriften handelte es sich um Bücher oder andere Monographien. Bei drei Vierteln dieser Schriften (502 von 684 bzw. 330 von 423) handelte es sich um Berichte über Forschung. Wie zu Beginn erwähnt, ist Medizinische Informatik ein interdisziplinäres, mit Teamarbeit verbundenes Fachgebiet. 865 Mitautor(inn)en aus Medizin, Informatik und zahlreichen anderen Disziplinen waren an diesen 684 Publikationen beteiligt. Solche Forschungsvorhaben sind bei jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern häufig verbunden mit dem Verfassen ihrer Doktorarbeit. Bei 56 solcher Dissertationen bin ich als Doktorvater genannt.

Reflexionen

R5 – ‚Dualität’: Die hier beschriebene Dualität von medizinischer Zielsetzung und informatischer Methodik ist wohl typisch für Medizininformatik-Forschung. Diese Dualität zu leben ist anspruchsvoll und motivierend zugleich. Auch in Zukunft wird es ‚echte’ Medizininformatik-Forschung wohl nur in dieser Dualität geben. Wie auch schon in R2 erwähnt, ist es wichtig Wissenschaftler_innen die Möglichkeit zu geben, diese Dualität einzuüben.

R6 – ‚Zusammenflüsse’: Zumindest bei mir, aber vermutlich auch bei vielen anderen Personen, verändern sich die Inhalte wie auch die zur Bearbeitung der Inhalte relevanten Methoden. Inhalte und Methoden fließen sozusagen, manchmal auch hin und her. Eine breite methodische wie auch inhaltliche Basis war für meine Forschung von Bedeutung und kann m.E. nur empfohlen werden. Ein Beispiel: Die im Schwerpunktprogramm Virushepatitisforschung erworbenen Kompetenzen zur Studienplanung und zur statistischen Datenanalyse waren für unsere Forschungen zum häuslichen Langzeit-Monitoring von geriatrischen Patienten mit mobilitätseinschränkenden Frakturen mittels assistierender Gesundheitstechnologien im Forschungsschwerpunkt GAL – auf den ersten Blick ein völlig anderes Thema – sehr hilfreich. Auch Grenzen von Fachgebieten waren und sind fließend. Sie sollten immer wieder überprüft und angepasst werden. Für die jeweils adäquate Ausrichtung mag die die in Abschnitt 2.2 gegebene Definition von Medizinischer Informatik als Fachgebiet als Orientierung dienen.

R7 – ‚Zusammenhänge’: Für Medizininformatik-Forschung erscheint es mir wichtig zu sein, sich zu vergegenwärtigen, dass Gesundheitsversorgung als integraler Teil des Lebens zu sehen ist: „Gesundheitsversorgung beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. In manchen Situationen unseres Lebens ist der Anteil an Gesundheitsversorgung vergleichsweise gering und findet kaum Beachtung, in einigen Lebenssituationen ist der Anteil höher und sozusagen spürbar“ ([XVI], S. 8, übernommen aus [XVII], Kapitel 1). Gesundheitsversorgung umfasst Lebenssituationen wie Prävention, Behandlung akuter und chronischer Erkrankungen oder Pflege. Sie geschieht durch Fachkräfte in Gesundheitsberufen wie Ärztinnen und Ärzte oder Pflegekräfte. Sie geschieht auch durch Zugehörige (Angehörige oder andere nahestehenden Personen). Keinesfalls zuletzt müssen auch die betroffenen Personen selbst genannt werden. Orte, in denen Gesundheitsversorgung stattfindet, sind professionelle Einrichtungen wie Krankenhäuser, Arztpraxen oder Pflegeheime, aber häufig auch Orte wie die Wohnung oder der Arbeitsplatz bis hin zu weiteren Orten des täglichen Lebens wie etwa Fahrzeuge. Medizininformatik-Forschung konzentrierte sich bisher vor allem auf Krankenversorgung durch Ärztinnen und Ärzte oder Pflegekräfte in professionellen Versorgungseinrichtungen. Diese Forschung bleibt weiterhin wichtig, sowohl bei Diagnostik und Therapie, als auch bei Informationssystemen. Der in den letzten Jahrzehnten erreichte methodische und technische Fortschritt ermöglicht es nun auch, Gesundheitsversorgung in weiteren Lebenssituationen, mit weiteren Personengruppen und an weiteren Orten in die Forschung mit einzubeziehen und damit weitergehend zu berücksichtigen, dass Gesundheitsversorgung integraler Teil des Lebens ist. Dies betrifft sowohl die Forschung zu Versorgungsprozessen als auch die Forschung zur Gewinnung neuer Erkenntnisse über Krankheiten und über deren Diagnostik, Therapie und Prävention.

R8 – ‚Zusammenwirken’: Die in der Medizininformatik-Forschung zu berücksichtigenden Entitäten, die an Gesundheitsversorgung beteiligt sind, haben sich im Rahmen des methodischen und technischen Fortschritts ebenfalls erweitert. Zu den Fachkräften in Gesundheitsberufen, wie Ärztinnen und Ärzte oder Pflegekräfte, kamen die betroffenen Personen sowie die Zugehörigen (vgl. dazu R7). In Zukunft sollten meines Erachtens auch funktional umfassende, ‚intelligente’ Maschinen sowie andere lebende Entitäten wie Tiere und Pflanzen verstärkt in die Betrachtung mit einbezogen werden. Von Bedeutung ist deren Zusammenwirken, das man als Zusammenwirken von natürlicher und künstlicher Intelligenz bezeichnen könnte, hier für die Gesundheitsversorgung der Menschen [XVI], [XVIII], [XIX].

3.2 Lehre

3.2.1 Unterricht

Universitäre Forschung und Lehre sind für Institute wie etwa das PLRI von gleicher Bedeutung. Zumal ich bei einem so langen Zeitraum an Universitäten zunächst als Assistent und dann als Professor an der Ausbildung von mehreren Tausenden Studierenden mitwirken durfte. Dennoch macht es Sinn, zunächst über Forschung und dann über Lehre zu berichten und zu reflektieren. Denn gute universitäre Lehre ist häufig korreliert mit entsprechender Forschung auf den Themengebieten der Lehrveranstaltungen. Und dies gilt bei weitem nicht nur für die Lehrveranstaltungen im Master-Studium; dies beginnt schon bei Einführungsveranstaltungen im Bachelor-Studium. Abbildung 4 [Abb. 4] fasst die während dieser Lebensabschnitte gehaltenen Lehrveranstaltungen zusammen. Ein Vergleich mit den methodischen Forschungsschwerpunkten in Abbildung 3 [Abb. 3] wird zeigen, dass sich die methodischen Inhalte der Forschungsvorhaben und die Inhalte der Lehrveranstaltungen überlappen. Bei mehreren Lehrveranstaltungen sind Lehrbücher entstanden. Diese sind in Abbildung 4 [Abb. 4] mit aufgeführt. Drei dieser Lehrbücher liegen in mehreren Auflagen vor.

Ursprung und Anlass, die in Abbildung 4 [Abb. 4] oben angegebenen Lehrbücher zu schreiben, alles Gemeinschaftswerke, waren Vorlesungen zu diesem Thema. Häufig bildete sich nach mehrfachem Abhalten der Vorlesungen eine bestimmte Struktur und eine bestimmte Systematik heraus. Parallel dazu arbeiteten Wissenschaftler_innen in ihren Dissertations- und Habilitationsschriften an diesen Themen, die wiederum die Inhalte der Lehrveranstaltungen beeinflussten. Zudem übernahmen diese Wissenschaftler_innen häufig die Federführung beim Schreiben der Lehrbuchtexte. Diese Interaktion von Lehre und Forschung schlug sich positiv im Entstehen dieser Lehrbücher nieder. Dass diese verfügbar waren, war nützlich für die Studierenden dieser Lehrveranstaltungen (nur ganz am Anfang vor allem von meinen). Zudem konnte durch die Veröffentlichung der Manuskripte das vermittelte Wissen auch breit geprüft und ggf. aktualisiert werden.

Auch diese Zusammenfassung musste vereinfachen. Inhaltlich überlappende Lehrveranstaltungen wurden unter einem Namen zusammengefasst. Die konkreten Bezeichnungen können in den verschiedenen Zeiten und an den verschiedenen Orten anders gelautet haben. Anhang 7 [Anh. 7] enthält ein detailliertes Verzeichnis der Lehrbücher mit deren Auflagen und mit ihren Autorinnen und Autoren.

Kann man die Aufwände und den Umfang dieser Unterrichtsaktivitäten verdeutlichen? Am besten wäre es, über die Konzeption und über die gemachten Erfahrungen bei all diesen Lehrveranstaltungen zu berichten. Dies ist nicht möglich. Zwei Veranstaltungen möchte ich kurz skizzieren, da sie evtl. etwas ungewöhnlich sind und mir wichtig waren.

  • Seit 2001, seit 21 Jahren, erhielten im Sommersemester in den sogenannten Frank-van-Swieten Lectures Studierende aus 4 Ländern Unterricht in strategischem Informationsmanagement (Bezeichnung in Abb. 4: Informationssysteme des GW (M.Sc.)) [XX]. Beteiligt waren über diese zwei Jahrzehnte die Universitäten in Amsterdam, Antalya, Braunschweig, Heidelberg und Leipzig sowie die UMIT Tirol. Verwendet wurde überall unser Lehrbuch Health Information Systems. Die Übungsaufgaben waren dieselben. Jeweils am Schluss trafen sich die Studierenden an einem dieser Orte (die letzten beiden Jahre leider nur virtuell), tauschten ihre Ergebnisse zu den jeweiligen Informationssystemen der von ihnen untersuchten Klinika aus und berichteten darüber. Dieser Austausch über Ländergrenzen hinweg war m.E. nicht nur inhaltlich von großer Bedeutung.
  • Seit 1990 haben wir zu der einführenden Lehrveranstaltung zu Informationssystemen des Gesundheitswesens Praktika angeboten [XXI]. Studierende hatten dort die Möglichkeit, ihr in der Lehrveranstaltung erworbenes Wissen im Rahmen eines konkreten Projekts in der Praxis zu erproben. Dies typischerweise in einem der Klinika und dies unter intensiver Betreuung und mit Beteiligung unserer klinischen Partner. Insgesamt war ich als Professor an 48 Praktika beteiligt, davon 27 in Heidelberg, 3 in Innsbruck und 18 in Braunschweig. Die Studierenden haben hoffentlich durch die frühzeitige Begegnung mit der Praxis der Gesundheitsversorgung vieles gelernt und auch in dieser Medizininformatik-Lehrveranstaltung die Bedeutung der Informatik für Medizin und Gesundheitsversorgung erkennen können.

Beteiligung an der Lehre bedeutet für uns als Hochschullehrer auch die Betreuung von Abschlussarbeiten sowie die Vorbereitung, Durchführung und Bewertung von Prüfungen, dies jeweils mit erheblicher Unterstützung der in den Instituten tätigen Wissenschaftler_innen. So war ich bei 264 Abschlussarbeiten Erstbetreuer bzw. Erstreferent, 70 davon waren Bachelor-, 60 Master- und 134 Diplomarbeiten. Mündliche Prüfungen habe ich bisher 1.520 durchgeführt. Die Zahl der Studierenden, die schriftlich zu meinen Lehrveranstaltungen geprüft wurden, ließ sich nur noch für die TU Braunschweig ermitteln, also für gut die Hälfte von meiner Zeit als Professor. Dort waren es 3.253. Es sei nochmals betont, dass solche Prüfungen und auch das Abhalten von Lehrveranstaltungen immer eine Institutsleistung mit vielen Beteiligten ist. Auch bei den 1.520 von mir durchgeführten mündlichen Prüfungen gab es bis auf wenige Ausnahmen immer eine Beisitzerin oder einen Beisitzer.

Mündliche Prüfungen können sowohl für den Prüfling als auch für den Prüfer einen positiven Unterrichtsabschluss darstellen. Dies besonders dann, wenn der Prüfling gut vorbereitet ist und wenn sie oder er die Prüfung dadurch auch als Fachgespräch zwischen Lehrendem und Lernendem empfinden kann. Dann konnten Prüfling und durchaus manchmal auch Prüfer in diesen Prüfungen sogar noch etwas dazulernen.

Reflexionen

R9 – ‚Gemeinschaft’: Auch wenn es wirklich nicht Medizininformatik-spezifisch ist, ist es mir wichtig, dies bei den Reflexionen zu erwähnen. Universität bedeutet Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. „Die Universität hat die Aufgabe, die Wahrheit in der Gemeinschaft von Forschern und Schülern zu suchen“ [16]. Wie kann dies heute in Lehrveranstaltungen möglichst gut gelebt werden? Wie können Universitäten gute Voraussetzungen für diese Gemeinschaft schaffen? Es ist eine Thematik, die immer wieder bedacht und die immer wieder kritisch hinterfragt werden muss.

R10 – ‚Kompetenzen’: Lehre an Hochschulen hat sich an den Bedürfnissen der Studierenden, an ihrer späteren Tätigkeit, sei es in der Praxis, in der Forschung oder wo auch immer auszurichten. Welche Kompetenzen, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sind in der Medizininformatik-Lehre zu vermitteln? Hierzu gibt es für die Medizininformatik internationale Empfehlungen [XXII]. Dennoch muss auch dies immer wieder neu bewertet und bestimmt werden. Bei universitärer Lehre sollten Medizininformatik-Institute zudem diese Lehre weitgehend mit ihrer aktuellen Medizininformatik-Forschung oder mit ihren Aktivitäten in der Praxis der Gesundheitsversorgung verbinden können, natürlich in den Vertiefungsfächern, aber möglichst auch schon in den Grundlagenfächern. Dieser Anspruch ist aufwändig und keinesfalls leicht umzusetzen. Andererseits sollte zumindest meines Erachtens Medizininformatik-Lehre an Universitäten diesen Anspruch im Sinne unserer Studierenden haben.

3.2.2 Curricula

Lehre kann auch die Planung und Fortschreibung von Studiengängen mit ihren Inhalten und curricularen Konzepten umfassen. In meinen fachlichen Lebensabschnitten waren solche Arbeiten besonders mit dem Heidelberg/Heilbronner Studiengang Medizinische Informatik (dort in meiner zweiten Heidelberger Phase [XXIII], [XXIV], aber auch schon als Student) und mit der damaligen Einrichtung der Medizininformatik-Studiengänge an der UMIT Tirol [XXV] intensiv ausgeprägt. Hinzu kam später die weitere Ausgestaltung und Aktualisierung der Studienrichtung Medizinische Informatik im Informatik-Studium der TU Braunschweig [XXVI]. Im Teil Hochschulen – Curricula in Abbildung 5 [Abb. 5] sind diese curricularen Aktivitäten enthalten.

Bei allen diesen Entwicklungen konnte ich im nationalen und internationalen Kontext lernen und mich auch dort einbringen. Darüber wird in Abschnitt 3.4 berichtet.

Reflexionen

R11 – ‚Zugänge’: Wie kann man zur Medizininformatikerin / zum Medizininformatiker werden? Zur Medizinischen Informatik gibt es weltweit zwei Zugänge: ein sogenannter Medizin-bezogener und ein sogenannter Informatik-bezogener Zugang. Bei einem Medizin-bezogenen Zugang wird Medizin oder ein anderes gesundheitswissenschaftliches oder biomedizinisches Studium durchlaufen, entweder mit Schwerpunktbildung in Medizinischer Informatik oder mit einem späteren Medizininformatik-Zusatzstudium. Der Informatik-bezogene Zugang ist im Rahmen von dedizierten Medizininformatik-Studiengängen oder im Rahmen von Informatik-Studiengängen mit entsprechend spezialisiertem Lehrangebot möglich. Beide Zugänge, der Medizin-bezogene und der Informatik-bezogene Zugang, sind wichtig. In Deutschland ist der Informatik-bezogene Zugang dominant und auch sehr gut angeboten.

An der TU Braunschweig ist er vor allem über die Studienrichtung Medizinische Informatik in den Bachelor- und Masterstudiengängen Informatik ausgeprägt. Es freut mich sehr, dass ab dem Wintersemester 2021/22 an der MHH über den Studiengang Biomedizinische Datenwissenschaft nun auch ein Medizin-bezogener Zugang zur Medizinischen Informatik ermöglicht wird.

3.3 Akademische Selbstverwaltung

Akademische Selbstverwaltung ist eine wichtige Komponente für die Unabhängigkeit und für die Qualität von Forschung und Lehre. Abbildung 6 [Abb. 6] enthält die wichtigsten Aufgaben und Ämter, die mir in diesem Zusammenhang übertragen wurden.

Anhang 8 [Anh. 8] soll aufzeigen, dass es auch bei hohen akademischen Ämtern wie dem des Dekans manchmal etwas entspannter zugehen sollte. So war es mir in meiner Dekanszeit ein Anliegen, in der jeweils letzten Fakultätsratssitzung des Jahres und trotz aller Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit der zu treffenden Entscheidungen, die Sitzung mit einem Gedicht und bei Kaffee und Süßigkeiten abzuschließen. Eines der Gedichte ist in Anhang 8 [Anh. 8] enthalten.

Reflexionen

R12 – ‚Selbstständigkeit’: Auch wenn die fachliche Arbeit, die Arbeit in Forschung und Lehre, zentral in allen Hochschulen ist, so ist die Beteiligung an der akademischen Selbstverwaltung eine wichtige ‚Nebensache’, die für manche Kolleg_innen durchaus zeitweise auch zur ‚Hauptsache’ werden kann. Unabhängige Hochschulen bilden eine wichtige, wenn auch keinesfalls immer bequeme gesellschaftliche Komponente. Akademische Selbstverwaltung ist nichts Medizininformatik-spezifisches. Die Beteiligung seitens dieses Fachgebietes kann wie bei allen anderen Fachgebieten erwartet und sollte durchaus auch eingefordert werden.

3.4 Mitgestaltung

„Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme“ [17]. Offensichtlich scheint es einer der Aphorismen zu sein, die als bedeutend erachtet und weitergegeben werden, für die es aber keine wirkliche Quelle gibt. Der Verfasser hat ihn zum ersten Mal auf einer MHH-Klausurtagung am 7.2.2013 von dem damaligen MHH-Präsidenten Prof. Bitter-Suermann gehört. Auch in der Wissenschaft gilt, dass sie dann Kontinuität bewahrt und nachhaltig ist, wenn es gelingt, das vorhandene Wissen zu erweitern und sich nicht auf dessen Konservierung oder gar Idealisierung auszuruhen. Und so wollte auch ich nicht nur vorhandenes Wissen erlernen, um es dann zu pflegen und weiterzugeben. Auch ich wollte zudem neues Wissen schaffen sowie vorhandenes und neu gewonnenes Wissen zur Anwendung bringen.

Diese Mitgestaltung umfasst in vielen Fächern nicht nur das eigene Fachgebiet, sondern auch die Wissenschaften insgesamt sowie die Gesellschaft. Eine zentrale Rolle in der fachlichen Mitgestaltung spielen die Fachgesellschaften. Die für mich wichtigen Fachgesellschaften sind in Abbildung 7 [Abb. 7] genannt. In all diesen Fachgesellschaften bot sich die Möglichkeit des Wissensaustausches und des gemeinsamen Arbeitens. Zudem wurde ich in verschiedene Ämter gewählt (vgl. Abbildung 7 [Abb. 6]) oder wurde gebeten, bestimmte Aufgaben zu übernehmen (vgl. Abbildung 7 [Abb. 7] und Abbildung 8 [Abb. 8]).

Von besonderer Bedeutung waren in meinem Fall die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS, https://www.gmds.de) und die die International Medical Informatics Association (IMIA, https://imia-medinfo.org/wp/). Die GMDS konstituierte sich bereits im Jahr 1955 und dürfte die älteste Medizininformatik-Fachgesellschaft weltweit sein. Mit ihren aktuell ca. 2.000 Mitgliedern dürfte sie zu den fünf mitgliederstärksten Medizininformatik-Fachgesellschaften international gehören. Die weltweite Medizininformatik-Dachorganisation ist die IMIA. Sie wurde 1967 gegründet und ist seit vielen Jahren offizielle Nichtregierungsorganisation der Weltgesundheitsorganisation. Der IMIA gehören mittlerweile 57 solcher Fachgesellschaften wie die GMDS aus allen 6 Weltregionen an. Unter Federführung der IMIA wurde 2017 eine Wissenschaftsakademie gegründet, die International Academy of Health Sciences Informatics (IAHSI, https://imia-medinfo.org/wp/iahsi/). Die Akademie dient dem Wissensaustausch wie auch der kompetenten, nicht durch Interessen beeinflussten Beratung von Organisationen wie etwa der WHO. Ihre aktuell in die Akademie nach einem strengen Auswahlverfahren berufenen 205 Mitglieder haben in ihren jeweiligen Ländern häufig hohe akademische Ämter inne. Nicht wenige gehören nationalen Akademien der Wissenschaften an. Es war eine besondere Auszeichnung, dass ich der IMIA von 2007 bis 2010 und der IAHSI von 2017 bis 2020 als Präsident dienen durfte [XXVII], [XXVIII], [XXIX], [XXX], [XXXI], [XXXII], [XXXIII], [XXXIV].

Eine bedeutende Rolle im deutschen Wissenschaftssystem hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, https://www.dfg.de). Bei den beiden wohl wichtigsten Aufgaben innerhalb der DFG, in die ich gewählt wurde, war die Rolle des Fachgutachters fachspezifisch, die Rolle in der Kommission für Rechenanlagen fachübergreifend (Abbildung 7 [Abb. 7]). Bei beiden Aufgaben ging es um Empfehlungen bzw. Entscheidungen zu Forschungsvorhaben bzw. zur IT-Ausstattung der Universitäten und ihrer Klinika, die jeweils jährlich zweistellige Millionenbeträge an Förderung umfassten.

Nicht zuletzt ist in Abbildung 7 [Abb. 7] symbolisiert, dass Forschung häufig verbunden ist mit der Übernahme konkreter Aufgaben außerhalb des universitären Betriebs. Möglicherweise ist dies bei einem interdisziplinären und an der Gesundheitsversorgung ausgerichteten Fachgebiet wie dem der Medizinischen Informatik besonders ausgeprägt.

Die zu übernehmenden Aufgaben können direkt vor Ort sein – beispielsweise in den IT-Ausschüssen des Klinikums Braunschweig – und dann jeweils auch höher skalieren, über Aufgaben im Land Niedersachsen – beispielsweise im Beirat eHealth Niedersachsen des Wirtschaftsministeriums [18] – oder national – beispielsweise durch das Erarbeiten von Expertisen für Altersberichte der Bundesregierung [XVI], [XXXV] – bis hin zur Weltgesundheitsorganisation – beispielsweise als Temporary Adviser der WHO eHealth Technical Advisory Group.

Zur der Mitgestaltung gehört die Organisation von Tagungen und die Herausgabe von Publikationsorganen. Wie in Abbildung 8 [Abb. 8] dargestellt waren diese Aktivitäten bei mir eng verbunden mit den genannten Fachgesellschaften. Die wichtigsten von mir übernommenen Herausgeberschaften umfassten die Zeitschrift Methods of Information in Medicine (2001–2015, die Zeitschrift ist offizielle Zeitschrift von IMIA, EFMI und offizielle internationale Zeitschrift der GMDS [XXXVI]) und des Jahrbuchs der IMIA (2001–2007, [19]). Anhang 9 [Anh. 9] enthält eine detaillierte Beschreibung der in Abbildung 8 [Abb. 8] genannten Tagungen und meine jeweiligen Aufgaben bei ihnen.

Das offene Rechteck in Abbildung 8 [Abb. 8] soll andeuten, dass es bei mir auch hier zukünftig Aufgaben geben wird, wenn auch wieder in anderen Rollen. So wurde ich gebeten, ab 2021 die Zeitschrift Applied Clinical Informatics (ebenfalls offizielle Zeitschrift der IMIA und auch offizielle Zeitschrift der American Medical Informatics Associaction) als Senior-Herausgeber zu begleiten und zu unterstützen.

Eine weitere Aufgabe, die mir übertragen wurde, umfasste die Federführung (1991 und 1999) bzw. Mitwirkung (2009) bei der Ausarbeitung von nationalen (1991 [XXXVII], [XXXVIII]) und internationalen (1999 [XXXIX] und 2009 [XXII]) Empfehlungen zur Ausbildung in Medizinischer Informatik. Die in mehrere Sprachen übersetzten internationalen Empfehlungen waren für viele Länder eine wichtige Hilfestellung bei der Einführung oder Weiterentwicklung ihrer Medizininformatik-Studiengänge. Abbildung 5 [Abb. 5] listet diese Empfehlungen zusammen mit den in Abschnitt 3.2.2 geschilderten curricularen Aufgaben auf. Beide Aufgaben konnten von der jeweils anderen Aufgabe profitieren.

Was konnte mit Übernahme der jeweiligen Aufgaben bzw. Ämter erreicht werden? Auch hier wäre es wieder am besten, über das Erreichte jeder einzelnen Mitgestaltungs-Aktivität zu berichten. Auch dies ist nicht möglich und es muss wieder auf das Schriftenverzeichnis [III] bzw. auf die hier genannten Berichte verwiesen werden.

Reflexionen

R13 – ‚Sisyphos’: Etwas, das besonders bei Forschung und bei Mitgestaltung gilt: Nicht alles gelingt. Nicht alles wird positiv aufgenommen und unterstützt, sei es auch noch so gut begründet und vorbereitet. Dies kann sehr enttäuschend sein. Hinzu kommt, dass eine wichtige Eigenschaft in der Forschung der Zweifel ist. Wir, die wir in der Forschung stehen, müssen Ergebnisse und Schlussfolgerungen hinterfragen und müssen versuchen, sie nachvollziehen. Dieser Zweifel ist notwendig und betrifft auch die eigene Forschung. Was hätte besser gemacht werden können? Hätte ich nicht mehr erreichen müssen? Warum konnte ein Ziel nicht erreicht werden, das doch einen wichtigen methodischen Beitrag oder einen wichtigen inhaltlichen Beitrag für eine gute Gesundheitsversorgung geleistet hätte? Warum konnte ich trotz guter Argumente und guter Vorbereitung die beteiligten Entscheidungsträger nicht überzeugen und sie nicht zum Handeln motivieren? Dieser Zweifel ist wie gesagt eine notwendige Voraussetzung für Wissenschaft. Was habe ich im Laufe der Zeit gelernt? Was kann ich empfehlen? Mit dem Zweifel leben – „Übe ständig heiteren Zweifel.“ ([20]. Das direkte Zitat kommt aus dem Tafelaufschrieb von Prof. Immichs Abschiedsvorlesung am 9. Juli 1982. In der Niederschrift ist es nicht mehr wortwörtlich enthalten. Bei der Regel 10 – an der Tafel zunächst: „Übe ständig Zweifel“ ergänzte er zum Schluss der Vorlesung das Wort „heiteren“.) –, nicht nur die Erfolge, auch das Scheitern als vielleicht manchmal notwendigen weiteren Schritt zu akzeptieren, sich immer wieder an sinnvollen methodischen oder inhaltlichen Zielen ausrichten und es erneut versuchen.

R14 – ‚Fachgesellschaften’: Unabhängige Fachgesellschaften wie in meinem Fall vor allem die GMDS und die IMIA stellen eine wichtige gesellschaftliche Komponente dar, sowohl im wissenschaftlichen Austausch als auch in der nicht durch Interessen getriebenen wissenschaftlichen Beratung auf nationaler wie auch internationaler Ebene, wie etwa bei den genannten Empfehlungen zur Ausbildung. Ein weiteres Aufgabengebiet könnte bei der ‚fairen’ Kommunikation von Wissen ihrer Mitglieder hinzukommen, dies evtl. gemeinsam mit Universitätsbibliotheken und Verlagen. ‚Fair’ bedeutet hier unter anderem, dass die Urheber- und Nutzungsrechte weitestgehend bei den Wissenschaftler_innen verbleiben, die dieses Wissen erarbeitet haben. ‚Fair’ kann auch bedeuten, dass dieses oft mit öffentlichen Geldern geförderte Wissen dann auch dieser Öffentlichkeit frei zur Verfügung steht [XL]. Fachgesellschaften sind dann erfolgreich, wenn sich die Wissenschaftler_innen ihres Fachgebiets in ihnen engagieren. Dieses Engagement, sei es in Arbeitsgruppen, in Kommissionen oder wo auch immer, wird auch in Zukunft von großer Bedeutung sein.

R15 – ‚Respekt’: Nochmals zu der zu Beginn genannten Zielsetzung der Medizinischen Informatik: „Ihr Ziel ist es, über Grenzen hinweg, zu einer qualitativ hochwertigen, effizienten wie auch bezahlbaren Gesundheitsversorgung für die Menschen auf unserer Erde sowie zum Fortschritt der Wissenschaften beizutragen“. Warum war es mir wichtig „über Grenzen hinweg“ einzufügen? In der Satzung der IMIA steht: „In order to achieve IMIA’s objectives to contribute to the health and quality of life of the people in our world through dissemination and use of informatics for high-quality, efficient health care and public health and for high-quality research in biomedicine and in the health, information and computer sciences, IMIA’s members collaborate in a tolerant and peaceful way, transcending nations, cultures, and political or social structures.” ([21], 2.1). Als im Jahr 2010 diese Satzung verabschiedet wurde, empfand ich diese Aussage als Selbstverständlichkeit. Während der letzten Jahre haben nationale Egoismen und mit Hass erfüllte Reden, selbst von führenden Politikern, zugenommen. Und ‚Fake News’ – ein inakzeptabel verharmlosender Begriff für Lügen – wurden für manche Persönlichkeiten zu einem akzeptierten Mittel zur Durchsetzung von Interessen [XXXIV]. Seither ist mir wieder bewusst geworden, dass gegenseitiger Respekt keine Selbstverständlichkeit ist und dass man sich weiterhin dafür engagieren muss, auch in der Medizinischen Informatik. Und vielleicht ist es in diesem Fachgebiet, das evtl. vergleichsweise wenig Politik- und Interessen-getrieben ist und bei dem es um die Gesundheit der Menschen in unserer Welt geht, einfacher, dies zu leben und Werte wie Gesundheit, Würde, Teilhabe und informationelle Selbstbestimmung durchzusetzen.

R16 – ‚Gratwanderung’: Wir sind mit der Digitalisierung auf einem Weg, der viel Gutes gebracht hat, der aber auch erhebliche ‚Nebenwirkungen’ hat, auch im Zusammenleben. Wie fast jedes Fachgebiet kann Medizinische Informatik positives bewirken aber auch Schaden anrichten. Dies muss seit jeher und muss auch weiterhin bedacht werden. Zumal wenn wir uns, wie bei assistierenden Gesundheitstechnologien, in erheblichem Maße in den privatesten Bereichen von Personen befinden. Selbst wenn es beispielsweise der ausdrückliche Wunsch gebrechlicher älterer Personen ist, durch ‚intelligente’ Wohnungen unterstützt zu werden, um damit weiter in dem gewohnten häuslichen und sozialen Umfeld leben zu können, muss abgewogen werden, inwieweit eine informationelle Selbstbestimmung noch gegeben ist. Dabei spielen sowohl Fragen der Informations- und Kommunikationsarchitekturen als auch ethisch-rechtliche Fragen eine Rolle. Medizininformatik-Forschung und Praxis muss sich dieser Gratwanderung bewusst sein und darauf aufmerksam machen. Es sind Fragen, wie sich die Gesellschaften – also wir uns – dazu stellen, wie Rechtsprechung anzupassen ist und wie diese umgesetzt werden kann.

3.5 Wissenschaftlichkeit

Gute Forschung und gute Lehre ist eng verbunden mit Wissenschaftlichkeit, dem Berücksichtigen der Grundsätze von guter wissenschaftlicher Praxis. Es ist mir wichtig, dies als Blickwinkel hier zu nennen. Was gute wissenschaftliche Praxis bedeutet, ist keinesfalls einfach zu beantworten. Dies zeigte auch die in Abschnitt 3.2.1 erwähnte Vorlesungsreihe zur Wissenschaftlichkeit in der Medizin. Zudem kann es von Fachgebiet zu Fachgebiet variieren. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik war mir und ist auch vielen meiner Kolleginnen und Kollegen wichtig.

Reflexionen

R17 – ‚Zeitinvarianten’: Was sind wichtige, zeitinvariante Bewertungskriterien für gute Medizininformatik-Forschung? Wie in vielen anderen Fachgebieten kann auch Medizininformatik-Forschung dadurch bewertet werden, ob sie in Bezug auf ihre Zielsetzung relevant und in Bezug auf die entwickelten oder angewandten Methoden und Werkzeuge originell ist. Wenn in einem Forschungsvorhaben beides erfüllt ist – Originalität und Relevanz –, dann handelt es sich um Medizininformatik-Forschung. Wenn ein Forschungsvorhaben nur eine dieser Eigenschaften erfüllt, dann sollte man prüfen, ob es sich wirklich um Medizininformatik-Forschung handelt. Es könnte sich auch um Forschung in einem anderen Teilgebiet der Medizin oder der Informatik handeln. Wenn Forschungsvorhaben keine dieser Eigenschaften erfüllen, muss man prüfen, ob es sich überhaupt um Forschung handelt ([II], S. 260).

R18 – ‚Zeitgeist’: Während dieser fast fünf Jahrzehnte in der Medizinischen Informatik variierten die von Politik, Wissenschaftsorganisationen oder Universitätsleitungen als wichtig erachteten Prioritäten für die Forschung, für die Lehre oder für das Einbringen in die Praxis erheblich, ebenfalls die für die Bewertung genutzten Indikatoren. Was in bestimmten Jahren als wenig bedeutsam betrachtet oder sogar kritisiert wurde, konnte in anderen Jahren als besonders wichtig angesehen werden und öffentliche Anerkennung finden. Im Wesentlichen invariant blieben dagegen die Zielsetzung von Medizininformatik und die Grundsätze von Wissenschaftlichkeit [XLI], [XLII]. Sie bildeten sozusagen zeitinvariante Eckpfeiler für gute Forschung und Lehre sowie für das adäquate Einbringen in die Praxis der Gesundheitsversorgung. Natürlich gab und gibt es zeitvariant auch jeweils andere Indikatoren für gute Forschung. Zurzeit sind dies beispielsweise die Impact-Faktoren oder H-Indizes bei Publikationsleistungen von Wissenschaftler_innen oder deren eingeworbene Drittmittel ([II], S. 262). Dies sind übrigens alles Indikatoren, für deren Beurteilung man kein Fachwissen braucht. Es macht wohl wenig Sinn, die jeweiligen zeitvarianten Indikatoren ganz zu ignorieren, zumal sie ja durchaus, wenn auch wie bei den genannten Indikatoren eingeschränkt, Forschungsleistung charakterisieren können. Zudem habe zumindest ich die Erfahrung gemacht, dass eine primäre Ausrichtung an den wichtigen, zeitinvarianten Kriterien Originalität und Relevanz sich durchaus positiv bei solchen zeitvarianten Kriterien niederschlagen kann.

R19 – ‚Erkenntnisgewinn’: Wie sollten Forschungsvorhaben in der Medizinischen Informatik aufgebaut sein, damit ein möglichst guter Erkenntnisgewinn erzielt wird? Auch diese Frage ist schwierig und es dürfte hierfür auch keine einfache und allgemeingültige Antwort geben. Im Laufe meiner Berufstätigkeit konnte ich feststellen, dass sich die Ansätze dazu sowohl innerhalb der Teilgebiete der Medizin und der Informatik als auch insbesondere zwischen Medizin und Informatik unterscheiden. Während in der Informatik beispielsweise einzelne Demonstratoren zur Überprüfung von Erkenntnissen dienen, sind in der Medizin häufig Studien dafür notwendig, bei denen es wesentlich ist, dass Erkenntnisse an einer genügend großen Anzahl von Entitäten gewonnen werden. Dies hängt mit Variabilität zusammen [XLIII]. Für die Medizininformatik-Forschung erscheint es mir wichtig zu sein, in Zukunft verstärkt auf wissenschaftlicher Basis sorgfältig geplante Studien durchzuführen. Dies beispielsweise bei der Bewertung assistierender Gesundheitstechnologien oder anderer digitaler Diagnostika und Therapeutika. Eine vor allem auf technische Machbarkeit oder auf Einzelfalluntersuchungen basierende Beurteilung diagnostischer Relevanz oder therapeutischer Wirksamkeit würde dieser komplexen Problematik in Medizin und Gesundheitsversorgung nicht gerecht werden. Ein auf vergleichender Intervention basierender Erkenntnisgewinn, am besten mittels Randomisation, mittels streng zufälliger Zuteilung, sollte sich auch in der Medizinischen Informatik als wichtige Methode etablieren [XVI], [XLIII].

R20 – ‚Einüben’: Wie lässt sich Wissenschaftlichkeit in der Medizinischen Informatik einüben? Wie entstehen originelle und relevante Forschungsideen? Diese Fragen sind leider auch schwierig zu beantworten. Sie betreffen schon das Studium der Medizinischen Informatik und dann insbesondere, wie Medizininformatik-Forschung in den entsprechenden Instituten und in den Fachgesellschaften gelebt wird. Insofern dürfte eine wesentliche Rolle bei diesem Einüben den Instituten und Fachgesellschaften zukommen. Deren Ausrichtung und Organisation muss auch in dieser Hinsicht immer wieder überprüft und angepasst werden.


4 Ausblick

Diese Art von Abschiedsvorlesung – ein Tätigkeitsbericht mit Reflexionen über ein Fachgebiet – dürfte eher ungewöhnlich sein. Warum wollte ich eine Abschiedsvorlesung halten? Und sie so halten und niederschreiben? Hätte ich die hierfür verwendete Energie und Zeit nicht anders, nicht besser nutzen können? Ich habe darauf keine gute Antwort. Und in der Tat hatte ich lange überlegt, ob ich diese so halten und niederschreiben soll. Der Drang, dies tun zu wollen, war aber so deutlich, dass ich es sozusagen tun musste. Zu Beginn hatte ich erwähnt, dass dieser Bericht gar nicht nur meine bisherige Tätigkeit als Medizininformatiker umfasst, sondern auch die vieler anderer Personen. Vielleicht berichte ich in dieser Abschiedsvorlesung ja auch stellvertretend für andere. Und vielleicht kann der Bericht und können die Reflexionen zum Nachdenken und zur Diskussion anregen.

Dabei konnte vieles nur gestreift und musste vereinfacht werden. Aber es sollte ja eine Vorlesung sein und keine einsemestrige Lehrveranstaltung.

Ähnliche, mir bekannte Arbeiten, stammen von Alexa McCray, Casimir Kulikowski, François Grémy und Jan van Bemmel [22], [23], [24], [25], [26]. Weitere Überlegungen von meiner Seite finden sich in [II], [XLIV], [XLV].

Auch habe ich hier zwar allgemeine Reflexionen zur Zukunft der Medizinischen Informatik vorgestellt, nicht jedoch inhaltliche oder methodische Prioritäten für dieses Fachgebiet hier vorgeschlagen. Dies hatte ich zum einen schon an anderer Stelle gemacht [XLIV]. Zum anderen sollten meines Erachtens dies jetzt Kolleginnen und Kollegen aus den nachfolgenden Fachgenerationen tun, zumal sie es auch sind, die diese werden umsetzen können.


5 Schluss

Wie zu Beginn angekündigt, komme ich zum Schluss nochmals auf das Gedicht von Wilhelm Busch zurück. Diesmal wird es vollständig vorgetragen, wenn auch weiter mit den Modifikationen.

Mein fachlicher Lebenslauf
Mein fachlich Werk ist bald erzählt.
Nach Abi, Studium und so fort
Professor als Beruf ich wählt’.
War hier mal tätig und mal dort.

Hier muss ich ergänzen, dass ich an allen Orten meiner fachlichen Lebensabschnitte jeweils auch beeindruckende Personen treffen durfte. Und dass es ein gutes Gefühl ist, davon überzeugt zu sein, dass es auch weiterhin solche beeindruckenden Personen geben wird.

Da ich die Abschiedsvorlesung als Professor im PLRI halte, ist es mir ein Anliegen, fünf professorale Kollegen zu nennen. Die ersten drei: Peter L. Reichertz, den Namensgeber des Instituts, Dietrich-Peter Pretschner, meinen Vorgänger, und Herbert Matthies, mein Kollege auf MHH-Seite bei der Gründung des Instituts. Prof. Reichertz und Prof. Pretschner sind viel zu früh verstorben. Prof. Matthies kann aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei sein. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie heute hier wären.

Sie wären, so denke ich, sehr zufrieden, wie das Peter L. Reichertz Institut heute da steht. Und hier möchte ich die beiden neuen Leiter der PLRI-Standorte in der TU Braunschweig und in der Medizinischen Hochschule Hannover nennen: Professor Thomas Deserno und Professor Michael Marschollek. Zwischenzeitlich haben wir 4 Professoren und eine fünfe Professorin wird hoffentlich bald dazukommen. Mit aktuell über 70 Mitarbeiter_innen dürfte sich die Mitarbeiterzahl seit Gründung verdoppelt haben. Die eingeworbenen Drittmittel für die Forschung, im Jahr 2020 waren es ca. 2,5 Millionen €, mögen die aktuelle Forschungsintensität belegen.

Auf fachlich-methodischen Krücken,
ein leichtes Bündel auf dem Rücken,
bin ich getrost dahingeholpert,
bin durch so manch’ Projekt gestolpert,

Stimmen die fachlich-methodischen Krücken? Nicht wirklich. Ich habe eine hervorragende Ausbildung erhalten, hatte an allen Orten sehr gute Lehrer, die mir ein hervorragendes methodisches Rüstzeug vermittelt haben. Dafür bin ich sehr dankbar! Dennoch: Hoffentlich wird es, wie bisher, weiter wissenschaftlichen Fortschritt geben und die aktuellen methodischen Ansätze werden hoffentlich weiter verbessert werden.

Und stimmt das leichte Bündel? Auch nicht wirklich. Ich hatte und habe sehr gute Arbeitsmöglichkeiten. Und zusätzlich zu den guten Arbeitsbedingungen hatte und habe ich auch hervorragende Arbeitsumgebungen. Dazu zählen besonders bestimmte Personen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Auch dafür bin ich sehr dankbar!

mitunter grad, mitunter krumm,
und schließlich musst ich mich verschnaufen.
Bedenklich rieb ich meine Glatze
und sah mich in der Gegend um.
O weh! War ich im Kreis gelaufen?
Stand ich nicht noch am alten Platze?

Nein, stand ich nicht. Es gab erhebliche Fortschritte, auch in der Medizin und in der Informatik und auch in meinem Fachgebiet, der Medizinischen Informatik.

Niemand dürfte sich heute, Stand 2021, auf Basis des Wissens von 1973 und den damals verfügbaren diagnostischen und therapeutischen Methoden und Werkzeugen behandeln lassen wollen. Hoffentlich wird es mit dem Fortschritt wie bisher weitergehen.

Denjenigen, die heute in der Verantwortung stehen, möchte ich nahelegen: Auch Sie sollten bitte nicht Ihre Vorbilder zu kopieren versuchen. Auch Sie sollten, basierend auf dem Erfahrenen und Gelernten und mit Blick auf Relevanz und Originalität die Tradition bewahren, indem Sie Neues entstehen lassen. Seien Sie nicht satt und selbstzufrieden in dem Sie irgendeine Asche konservieren, egal wie schön sie in manchem Zeitgeist glänzen möge, oder indem sie diese sogar idealisieren! Bleiben Sie wissensdurstig! Haben Sie den Willen, die Flamme weiterzugeben, indem Sie bestehendes Wissen kennen, verbessern und neues Wissen ergänzen.

Vor mir gab es eine sehr lange Reihe von Personen, die sich in dieser Weise um die Flamme bemüht haben. Dann durfte und darf ich mich beteiligen. Und nun folgt wieder eine lange Reihe, die sich dafür engagiert und zukünftig engagieren wird. Diese Kontinuität zu sehen tut gut und hilft zudem bescheiden zu bleiben.

Die letzten für mich sehr beruhigenden zwei Verse des Gedichts hatte ich noch nicht erwähnt. Die habe ich im Original belassen.

Und vor mir dehnt sich lang und breit,
wie ehedem, die Ewigkeit.

Anmerkungen

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.

Danksagung

Danken möchte ich all denen, die mich auf diesem in der Abschiedsvorlesung beschriebenen Weg begleitet haben und noch begleiten werden, sei es beruflich oder privat oder beides. Es sind zu viele, um sie hier mit Namen zu erwähnen, so wichtig es mir wäre. Einige Personen, die mich in meiner fachlichen Entwicklung in besonderer Weise geprägt haben, sind, wie erwähnt, in [I] genannt. Und in meinem privaten Umfeld möchte ich meine Familie und, ganz besonders, meine Frau nennen.

Danken möchte ich auch allen, die bei dieser Abschiedsvorlesung mitgewirkt und die diese in schwierigen pandemischen Zeiten organisiert oder anderweitig unterstützt haben.

Und nicht zuletzt danke ich allen, die sich die Zeit genommen haben, zu dieser Abschiedsvorlesung zu kommen.


Literatur

1.
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