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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

Die Lehre an der Universitätsmedizin Mainz in Zeiten von COVID-19 aus Perspektive zweier Medizindidaktiker:innen der Rudolf Frey Lernklinik – ein Interview mit Sandra Kurz und Holger Buggenhagen

Teaching at the University Medical Center Mainz in times of COVID-19 from the perspective of two medical educators of the Rudolf Frey Learning Clinic – an interview with Sandra Kurz and Holger Buggenhagen

Interview Ein Jahr COVID-19

  • Sandra Kurz - Rudolf Frey Lernklinik, Universitätsmedizin Mainz, Deutschland
  • corresponding author Sabine Hoyer - Universitätsbibliothek Mainz, Bereichsbibliothek Universitätsmedizin, Mainz, Deutschland
  • Stefanus Schweizer - Universitätsbibliothek Mainz, Bereichsbibliothek Universitätsmedizin, Mainz, Deutschland
  • Holger Buggenhagen - Rudolf Frey Lernklinik, Universitätsmedizin Mainz, Deutschland

GMS Med Bibl Inf 2021;21(1-2):Doc08

doi: 10.3205/mbi000497, urn:nbn:de:0183-mbi0004973

Published: September 16, 2021

© 2021 Kurz et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Im vorliegenden Interview berichten die Medizindidaktiker:innen Dr. Sandra Kurz und Dr. Holger Buggenhagen über die Lehrsituation an der Universitätsmedizin Mainz während der SARS-CoV-2-Pandemie. Sie beschreiben, wie die unterschiedlichen Lehrformate Vorlesungen, Seminare, Praktika und der Unterricht am Krankenbett digital ersetzt bzw. ergänzt wurden und wie die Lehre aus Sicht der Studierenden und Lehrenden wahrgenommen wurde. Sie gehen auf verschiedene technische und institutionelle Unterstützungsangebote ein und beschreiben, welchen Stellenwert Vernetzungen vor Ort spielen, insbesondere mit Mitarbeiter:innen der medizinischen Bibliothek. Zuletzt wird im Interview dargestellt, wie Bibliothekar:innen die digitale Lehre unter Pandemiebedingungen unterstützen können und wie sich die Zusammenarbeit in Mainz mit der Entwicklung zukünftiger gemeinsamer Schulungsangebote gestaltet.

Schlüsselwörter: digitale Lehre, Corona-Krise, Interview, SARS-CoV-2-Pandemie, medizinische Lehre

Abstract

In this interview, medical education experts Dr. Sandra Kurz and Dr. Holger Buggenhagen report on the teaching situation at Mainz University Medical Center during the SARS-CoV-2 pandemic. They describe how the different teaching formats lectures, seminars, practical training and bedside teaching were digitally replaced or supplemented and how teaching was perceived from the perspective of students and lecturers. They discuss various technical and institutional support services and the importance of on-site networking – especially with medical library staff. Finally, the interview describes how librarians can support digital teaching under pandemic conditions and how the collaboration in Mainz is shaping up with the development of future joint training offers.

Keywords: digital teaching, corona, interview, SARS-CoV-2 pandemic, medical education


Interview

Wo hatten Sie vorrangig Ihren Arbeitsplatz seit Beginn der Corona-Pandemie im März 2020?

H. Buggenhagen: Mein Arbeitsplatz war sowohl in der Rudolf Frey Lernklinik in meinem Büro als auch zu Hause. Ich habe einen kleinen Vorteil, weil ich allein im Büro sitze, so dass ich ungefähr zu 70% an der Arbeitsstätte und zu 30% im Homeoffice war. Einen Tag die Woche bin ich außerdem in der Krankenversorgung in der Klinik für Anästhesiologie im OP tätig.

S. Kurz: Ich habe teilweise aus dem Büro und teilweise von zu Hause gearbeitet. Da ich mir ein Büro mit einem Kollegen teile und die aktuellen Semester sehr von Videokonferenzen geprägt sind, ist es manchmal einfacher, Konferenzen von zu Hause aus durchzuführen. Dort habe ich ein eigenes Arbeitszimmer und das funktioniert gut. Im ersten halben Jahr der Corona-Pandemie war ich zum Teil auch in der Anästhesiologie klinisch tätig, bin aber jetzt vollständig für die Lehre freigestellt, da viele Aufgaben für die Digitalisierung zu erledigen sind.

Wie war für Sie die Arbeitssituation zu Beginn der Pandemie?

S. Kurz: Der Anfang war belastend, ich habe ca. 60–70 Stunden die Woche gearbeitet, inklusive Samstage und Sonntage. Zu Beginn des Sommersemesters 2020 sind wir auf die neue Lernmanagement-Plattform LMS-Moodle umgestiegen, die uns einerseits die Arbeit sehr erleichtert hat, durch die andererseits die Lehrenden auch viel medizindidaktischen und technischen Support nach der Einführung benötigten. Dies habe ich übernommen und durch den akuten Wechsel gab es Anfragen und Beratungswünsche fast „rund um die Uhr“ und am Wochenende, da die Kolleg:innen ihre Lehrveranstaltungen weitgehend auch neben ihrer klinischen Tätigkeit neu planen mussten.

H. Buggenhagen: Wenn man im Homeoffice und auch digital immer erreichbar ist, besteht die Gefahr, dass man auch über die Arbeitszeit hinaus verfügbar ist. Das ist auf der einen Seite gut – wir sind es aus der Akutmedizin gewohnt – führt aber irgendwann möglicherweise zu einer deutlichen Belastung der einzelnen Personen.

Welche digitalen Lehrformate wurden für die Online-Semester der klinischen Medizin entwickelt?

H. Buggenhagen: Vorlesungen wurden mit Hilfe der Videoplattform Panopto digitalisiert, um sie asynchron wiedergeben zu können. Die Studierenden konnten sich somit die Vorlesung zeit- und ortsunabhängig anschauen.

Seminare wurden in Video-Online-Seminare umgewandelt. Hier stand zunächst MS Teams zur Verfügung. Wir haben allerdings diverse Probleme durch getrennte Netzwerke zwischen Universitätsmedizin und Universität. Lehre und Krankenversorgung sollen nicht vermischt werden, dies ist nicht einfach bei der Zurverfügungstellung von Hard- und Software.

Später kam BigBlueButton hinzu. Es stellte sich die Frage, wie viele Personen an einer Videokonferenz teilnehmen könnten. Es gab Bemühungen, Vorlesungen synchron zu halten, weil viele Lehrende nachvollziehbar der Meinung sind, dass eine Interaktion mit den Studierenden für den Lernerfolg sehr wichtig ist. Wir haben versucht, das im Rahmen der Ressourcenknappheit der Bandbreite klein zu halten und die Seminarform zu präferieren.

S. Kurz: Die Lehrplattform LMS-Moodle haben wir jeweils als Einstieg für die Studierenden genutzt, hier wurden die Vorlesungen und Links zu den Video-Online-Seminaren bereitgestellt. Ergänzt wurden die digitalen Lehrformate durch Literaturempfehlungen und Quizfragen. Weiterhin wurden hier Informationen zum praktischen Unterricht in Präsenz hinterlegt.

Wie wurde die Umstellung bei den Lehrenden bewerkstelligt, wie haben Sie die Lehrenden dabei unterstützt?

S. Kurz: Zu Beginn des Sommersemesters 2020 war klar, dass Präsenzlehre nicht stattfinden kann und nur wenige Personen in die Lernklinik kommen können. Wir haben unsere Räume zu kleinen Filmstudios umgebaut, um das Aufzeichnen der Vorlesungen maximal unterstützen zu können. Hierzu haben wir unsere Kleingruppenräume mit einer Stellwand ausgestattet, um einen einheitlichen Hintergrund zu ermöglichen. Über eine Webcam auf einem Stativ wurden die Referent:innen vor dem standardisierten Hintergrund aufgezeichnet. Bei Bedarf wurde durch zusätzliche Beleuchtung die Aufnahmequalität optimiert.

Das über Panopto aufgezeichnete Video ließ sich im Nachgang bearbeiten und in einzelne Abschnitte unterteilen. Ebenfalls war das Einfügen von Quizfragen zur Überprüfung des Lernerfolgs kapitelweise möglich. So gelang es uns zügig, qualitativ hochwertige aufgezeichnete Vorlesungen zur Verfügung stellen zu können. Unsere Lehrenden wurden entlastet, da sie sich nicht um technische Details kümmern mussten. Ab Bereitstellung konnten die Vorlesungen jederzeit und beliebig asynchron angesehen werden. Eine Interaktion zwischen Studierenden und Dozierenden war in diesem Format jedoch nicht möglich. Präsenzveranstaltungen lassen sich oftmals nicht 1:1 ins Digitale transformieren, es ist für die meisten Lehrenden wesentlich aufwändiger, eine Vorlesung aufzuzeichnen. Viele Lehrende haben den Anspruch, dass die Videos nochmal besser aufbereitet werden und der Arbeitsaufwand dafür ist enorm. Unsere technische sowie beratende Unterstützung wurde und wird sehr gut angenommen. Im Sommer- wie im Wintersemester 2020/21 wurden Videos im Umfang von jeweils ca. 300 Stunden aufgezeichnet, bearbeitet und ins LMS-Moodle gestellt.

H. Buggenhagen: Es gibt und gab schon bereits bestehende Systeme, zum Beispiel in der Anatomie oder in der Pharmakologie. Dort wurden seit einigen Semestern Vorlesungen digital asynchron und teilweise synchron zur Verfügung gestellt. Es gab viele verschiedene Formen. Wir konnten auf das Know How zugreifen, aber die technischen Systeme waren schon sehr alt, so dass wir die synchronen Vorlesungen als wirkliche Ausnahmen sehen.

Neben dem Support für die Vorlesungen haben wir auch insgesamt die Kolleginnen und Kollegen zu ihren Kurskonzepten zeitweise mit sechs Medizindidaktiker:innen beraten. Jeder von uns hatte 14–15 Einrichtungen zu beraten, mit unterschiedlicher Intensität. Wir waren relativ frei in der Lehre. Es gibt die Abweichungsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums, die sehr offen die Approbationsordnung flexibler regelt [1].

Es waren kontinuierlich Rücksprachen mit dem Landesprüfungsamt nötig, um zum Beispiel Anwesenheitspflichten und Prüfungen abzustimmen. Art und Durchführung der Prüfungen wurde vom Prüfungsausschuss geregelt.

Unsere Aufgabe war die Beratung für die Plattformen Panopto, MS Teams, BigBlueButton und LMS-Moodle. Neben der mündlichen Beratung haben wir Schulungsvideos und Anleitungen vorbereitet und eine Hotline für akute Fragen eingerichtet.

S. Kurz: Zu den Vorlesungen möchte ich noch ergänzen, wir haben von Anfang an empfohlen, die Länge einer normalen Unterrichtseinheit (45 Minuten) auf einen Impulsvortrag zu kürzen, ergänzt durch Anschauungsvideos oder Links zu aktuellen Leitlinien und aktuellen Büchern. Dies hat sich nach und nach eingespielt. Dadurch musste ein ganz neues Lehrkonzept her und viel mehr Abstimmung erfolgen.

Unsere Aufgabe war zu beraten, um digitale Lehrformate so zu gestalten, dass die Studierenden auf den praktischen Unterricht und die Klausuren optimal vorbereitet sind. Manchmal gehört ein bisschen Kreativität dazu, damit es ein sinnvolles didaktisches Gesamtkonzept wird.

H. Buggenhagen: Die Erfahrung mit dem Thema E-Learning war bei vielen Lehrenden wenig ausgeprägt. Wie bei den meisten Hochschulen haben wir zu Pandemiebeginn fast bei null angefangen. Durch unser Master of Medical Education-Studium waren wir in der Lage, die Lehrenden auch in dieser Hinsicht zu unterstützen. Neben Hotlines und Beratungen haben wir regelmäßig medizindidaktische Veranstaltungen durchgeführt sowie Empfehlungen in Form von eigens erstellten Anleitungen und Literatur bereitgestellt [2].

S. Kurz: In den ersten beiden Corona-Semestern lag der Schwerpunkt auf den didaktischen und technischen Schulungen. Jetzt sind die meisten Lehrenden technisch fit und wir können uns stärker auf inhaltliche Themen fokussieren. Wir haben Best-Practice-Beispiele identifiziert und laden aktuell jeden zweiten Dienstagabend zu unseren Seminaren ein. Hier stellen Unterrichtsverantwortliche ihre Lehrformate vor; andere können sich Ideen holen. Das wird sehr gut angenommen.

Das Medizinstudium ist sehr praxisbezogen. Welche Inhalte ließen sich nicht digital umsetzen und wie haben Sie diese vermittelt?

H. Buggenhagen: Es gab Phasen, in denen wir wirklich keine Präsenzlehre am Krankenbett zulassen konnten. In anderen Phasen war dies unter besonderen Bedingungen und in Abstimmung mit der Krankenhaushygiene möglich. Dies musste eng abgestimmt werden, da auch die Patient:innen keinen Besuch haben durften. Es war immer wieder eine Herausforderung für die Lehrenden, den Unterricht am Krankenbett darzustellen und dies auch gegenüber den Patient:innen zu vertreten.

S. Kurz: Initial hatten wir ein Drei-Phasen-Modell. Zuerst gab es nur asynchrone Vorträge, nach drei Wochen wurden diese durch interaktive Online-Seminare ergänzt und in der zweiten Semesterhälfte des Sommersemesters 2020 war in ganz kleinen Gruppen Präsenzlehre und Unterricht am Krankenbett möglich [3]. Unser Drei-Phasen-Modell ist zum Glück genau aufgegangen. Im Wintersemester 2020/21 starteten wir in ausgewählten Fächern, die psychomotorische Fähigkeiten beinhalteten, direkt mit der Präsenzlehre. Allerdings wurden wir ziemlich überrumpelt, da es um Weihnachten nochmal zum absoluten Lockdown kam, so dass wir zurückrudern mussten, was schwerer war, als wenn man vorausplanen kann. Zum Glück hatte ein Großteil der Studierenden bereits die Praktika absolviert, so dass die verbleibenden Veranstaltungen digital gut kompensiert werden konnten.

H. Buggenhagen: Herausfordernd war die Interaktion zwischen dem Studienbüro und den vielen Abteilungen, um die Lehrveranstaltungen zu planen. Wir haben in der Pandemie mehr als 30 Einrichtungen, die Präsenzlehre machen. Der Stundenplan musste aufgrund der sich ständig ändernden Bedingungen immer wieder angepasst werden.

S. Kurz: Durch den digitalen Unterricht gab es den riesigen Vorteil, dass wir viel mehr Flexibilität hatten, um den Kleingruppenunterricht zu planen. Vor Corona waren vormittags die Vorlesungen und die Praktika gingen bis spät in den Abend hinein. Durch die kleineren Gruppen wurden viel mehr Zeitslots benötigt. Im Gegensatz zu drei bis sechs Studierenden wurden jetzt nur zwei Studierende ans Krankenbett gelassen. Für Simulationen wurden nur vier Personen pro Gruppe geplant, wobei hier immer nur eine Person an die Phantome treten durfte und die anderen das Szenario hinter Plexiglasscheiben bzw. aus mit Glasscheiben getrennten Räumen verfolgen konnten.

H. Buggenhagen: Es gibt praktische Inhalte, die nicht digital umgesetzt werden. Diese wurden identifiziert und durch Medizindidaktiker:innen und den Prodekan für Studium und Lehre bewertet, ob tatsächlich keine digitale Lösung gefunden werden konnte. Manche Veranstaltungen konnten nach der Beratung doch digital stattfinden, andere wurden mit entsprechendem Hygienekonzept präsent durchgeführt. Alle Studierenden, die innerhalb der folgenden 48 Stunden ans Krankenbett gehen oder sehr eng an Übungsphantomen arbeiten, müssen einen negativen Point-of-Care-Antigen-Test auf SARS-CoV-2 nachweisen. Hierzu haben wir ein eigenes Testzentrum für Studierende etabliert.

Gab es auch praxisbezogene Inhalte, die digital durchgeführt wurden?

S. Kurz: Ja, das gab es auch. Eine Unterrichtsbeauftragte aus der Inneren Medizin hat zusammen mit Studierenden Interviews mit Simulationspatient:innen vor dem Bildschirm dargestellt. Dies war eines unserer Best-Practice-Beispiele. Anhand von Fallbeschreibungen wurden die Simulationspatient:innen geschult. Die Studierenden konnten im digitalen Raum Anamnesen bei ihnen durchführen und im Anschluss wurden Verdachtsdiagnosen, Differentialdiagnosen sowie Therapieoptionen erarbeitet und den Simulationspatient:innen mitgeteilt. Hierdurch konnten wichtige Lernfaktoren wie Feedback geben, Diskussionen sowie Reflexionen abgebildet werden.

H. Buggenhagen: Online-Lehrveranstaltungen mit realen Patient:innen sind bis zum heutigen Zeitpunkt von der Datenschutzgrundverordnung faktisch untersagt. Es ist definitiv ein dynamischer Prozess, eine Videokonferenzsoftware zu finden, die das erlaubt. Wir haben im Moment eine Freigabe für BigBlueButton an der JGU, aber dort müssen die Gesundheitsdaten anonymisiert sein. Sobald Erkennungsmerkmale von Patient:innen gezeigt werden, die eindeutig sind, wie z.B. das Gesicht, muss das verpixelt werden. Dadurch konnten nur Simulationspatient:innen gezeigt werden.

S. Kurz: Um die wertvolle – zum Teil kürzere Praktikumszeit – maximal nutzen zu können, galt es den praktischen Unterricht gut vorzubereiten. Es gab vorab digitale Demonstrationen, so dass die Studierenden im Praktikum direkt mit dem Üben anfangen konnten. Normalerweise wird im Praktikum zuerst live demonstriert und im Anschluss üben die Studierenden und führen die Maßnahmen durch. Die Studierenden hatten diesmal Lehrvideos, die sie beliebig oft vor der Präsenzlehre anschauen konnten und fühlten sich dadurch sehr gut vorbereitet. Die Rückmeldungen der Studierenden zu diesem Konzept waren sehr gut.

H. Buggenhagen: Erforderlich ist es, Lernziele zu definieren, damit Blended Learning funktioniert. Wenn das gut abgestimmt war, haben wir gesehen, dass die Studierenden hervorragend für Seminare oder praktischen Unterricht vorbereitet waren. Diese Konzepte wurden bereits vor der Pandemie z.B. in der Geburtshilfe umgesetzt und konnten jetzt in andere Praktika übertragen werden.

S. Kurz: Ein Beispiel: Im Chirurgie-Praktikum hatten wir eine Naht-Station, deren praktische Lernziele zu Semesterende durch eine OSCE-Prüfung, also praktische Prüfung überprüft werden sollten. Die Studierenden wollten natürlich zur Vorbereitung die Skills üben und vertiefen. Da in der Phase keine Präsenz möglich war, wurde ein digitaler Nahtkurs angeboten, in dessen Rahmen an Bananen genäht wurde. Eine Banane ist ein bisschen vergleichbar mit der Haut von den einzelnen Schichten her. Normalerweise werden in Praktika und im Skills Lab die Nahttechniken an Schweinefüßen oder Hautmodellen geübt. Da wir diese den Studierenden aber in so großer Anzahl nicht für zu Hause zur Verfügung stellen konnten, bekamen die Studierenden Einmal-Nahtmaterial mit, besorgten sich Bananen und wurden während ihrer Nahtversuche digital durch Lehrende im Live-Seminar betreut.

Mit Kreativität lassen sich manche praktischen Lernziele digital auf Distanz lehren, dies gilt allerdings nur für wenige psychomotorische Lernziele. Kognitive Lernziele lassen sich sehr gut digital umsetzen, für affektive Lernziele unter Einbeziehung von Einstellungen und Haltung ist die Methodenwahl dagegen schwieriger. Die OSCE-Prüfung am Ende des Semesters konnte „halbdigital“ stattfinden. Die Studierenden kamen zur Prüfung in die Lernklinik, waren aber räumlich vom Prüfer getrennt und kommunizierten über ein Videokonferenzsystem. So war eine anspruchsvolle praktische Prüfung unter strengen Hygieneeinhaltungen gut möglich.

H. Buggenhagen: Es war auf jeden Fall oftmals eine spannende Diskussion, ob praktische Fertigkeiten überhaupt zwingend notwendig sind, z.B. ob tatsächlich jeder Studierende persönlich eine Probe auf einer Agarplatte ausbringen oder selbst einen bestimmten Laborautomat bedient haben muss.

Große Probleme hatten wir in der Zahnmedizin, da dieses Studium sehr praxisorientiert ist. Schon in frühen Semestern haben die Studierenden Kontakt zu Patient:innen, sie müssen z.B. Zähne bohren und wir hatten großen Abstimmungsbedarf mit der Hygiene.

Zum Thema Arzt-Patienten-Gespräch: Dies konnten wir in unseren Räumen durchführen, allerdings aufgrund der Ressourcenknappheit mit weniger Stunden und jeweils einem Studierenden pro Simulationspatient:in. Es wurden Anamnese- und Aufklärungsgespräche unter hygienischen Bedingungen mit Plexiglasscheibe und Abstand zwischen den Beteiligten geführt.

Wie ist die Akzeptanz der Studierenden, welche Rückmeldungen haben Sie erhalten?

S. Kurz: Die Rückmeldungen waren sehr unterschiedlich, vielen hat der persönliche Kontakt zwischen Studierenden und Lehrenden sehr gefehlt, ebenso wie der Kontakt zu den Patient:innen. Ersteres konnte teilweise mit Online-Sprechstunden und Foren kompensiert werden.

Allerdings haben wir auch sehr viele Rückmeldungen bekommen, dass die Lehre wesentlich strukturierter war und vielmehr aufeinander aufgebaut hat. Wir haben es strukturell optimal gelöst, dass wir erst die Vorlesung bereitstellen, dann zur Vertiefung das Seminar haben und anschließend das Praktikum. Das ist normalerweise häufig leider nicht so. Oft beginnt das Praktikum in der ersten Woche und einige Wochen später folgt die Vorlesung zu Krankheitsfällen, die bereits im Praktikum vorkamen. Das haben wir bei der digitalen Lehre strenger berücksichtigt und es wurde sowohl von den Studierenden als auch von den Lehrenden sehr positiv aufgenommen. Es war deutlich zu sehen, dass die Studierenden im OP damit perfekt vorbereitet waren. Das müssen wir für die Zukunft beibehalten.

Öfter gab es aufgrund unklarer Entwicklungen und Umplanungen Kommunikationsprobleme zwischen den Lehrenden und Studierenden. Manche Informationen und Gespräche zwischen „Tür und Angel“ haben den Studierenden gefehlt, so kam es auch gelegentlich zu Missverständnissen. Die neuen Kommunikationsformen der digitalen Lehre haben sich zunehmend eingespielt und konnten verbessert werden. Vom didaktischen Aufbau war die Lehre besser und das wurde sehr häufig betont und in Evaluationen immer wieder rückgemeldet.

Welche Rolle spielt die Bibliothek für die Unterstützung der digitalen Lehre?

S. Kurz: Ich fand es sehr gut, dass wir uns ausgetauscht haben, welche Möglichkeiten es gibt und was digital zur Verfügung steht. Die Studierenden und Lehrenden haben das Literaturangebot teilweise auch schon im Vorfeld genutzt, jetzt war es allerdings noch wichtiger zu wissen, auf welche Ressourcen verwiesen werden kann.

Kurze Vorträge mit Verweis auf vertiefende Literatur scheinen für Studierende den optimalen Lerneffekt zu bieten. Wissenschaftliches Arbeiten ist für die Studierenden sehr wichtig. Ich freue mich, dass auch hier die seit Jahren angebotenen Kurse der Bibliothek direkt in digitale Formate mit LMS-Moodle und Online-Seminaren umgesetzt werden konnten.

H. Buggenhagen: Das digitale Angebot ist sehr gut, aber es kommt möglicherweise beim einzelnen Lehrenden noch nicht ganz an. Sie benötigen oftmals noch mehr Informationen, wo digitale Inhalte zu finden sind. In vielen Fällen ist es sehr gut gelungen, diese im Unterricht zu verlinken. Wir haben auch in den Beratungen darauf hingewiesen, diese Möglichkeiten einzusetzen.

S. Kurz: Es gibt ein Best-Practice-Beispiel mit einem sehr aufwändig gestalteten LMS-Moodle-Kurs. In diesem wird zu jedem Abschnitt die entsprechende Literaturstelle bereitgestellt und direkt verlinkt. Der verantwortliche Dozent hat dies in Perfektion umgesetzt und im Medizin-Didaktik-Programm vorgestellt. Ich denke, da werden sich bestimmt einige Lehrende Ideen holen können.

Von solchen Kursen profitieren die Studierenden maximal, da sie dort abgeholt werden, wo sie stehen. Studierende, die mit dem Thema weniger vertraut sind, schauen sich zuerst die Videos der Lehrenden an und vertiefen im Anschluss mit wertvollen Literaturquellen. Studierende, die sich mit den Themen bereits besser auskennen, können direkt weiterführende Literatur und Leitlinien bearbeiten. Hier können Medizindidaktik und Bibliothek noch intensiver zusammenarbeiten, denn solche Kursmodelle werden in Zukunft stärker gefragt sein. Umzusetzen wäre dies, dass Sie als Beschäftigte der Bibliothek mehr Einblicke in die LMS-Moodle-Kurse haben und ein direktes Feedback zu Literatur-Verlinkungen geben. Durch Auswertungen, welche Bücher generell häufig verwendet werden, können Lehrende beraten werden, von welchen weiterführenden Links Studierende profitieren. Dies ist ein riesengroßer Gewinn und eine Erleichterung für Lehrende und Studierende. Die Vernetzung von Vorträgen und Literatur sollten wir verstärkt in das Medizindidaktik-Programm aufnehmen und gemeinsame Schulungen anbieten. Wissenschaftliches Arbeiten wird zukünftig in der neuen Approbationsordnung ebenfalls einen noch größeren Stellenwert einnehmen, auch hier gilt es Blended-Learning-Konzepte zu diesem Thema auszubauen [4].

Wie weit ist die Umsetzung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs fortgeschritten? Welche wesentlichen Änderungen ergeben sich daraus?

S. Kurz: Der neue Lernzielkatalog wurde Ende April veröffentlicht [5]. Er enthält konkrete Lernziele für Studierende und für Lehrende, so dass die Lehre weiter verbessert wird. Ich sehe es als Gewinn, einen nationalen Lernzielkatalog zu haben, er ermöglicht den Studierenden das Lernen und den Lehrenden die Planung und Abstimmung ihrer Lehre. In der zweiten Jahreshälfte soll es verschiedene Reviewprozesse des neuen NKLM geben, um weitere Feinabstimmungen der Fakultäten zu erreichen. Wir in Mainz erfassen seit zwei Jahren die Lernziele für jede unserer Lehrveranstaltungen, insgesamt haben wir über 10.000 Lernziele für curriculare und weitere 400 Lernziele für Wahl-Veranstaltungen in das Portal LOOOP eingetragen und mit dem NKLM gemappt. Hierdurch bekommen die Lehrenden Rückmeldungen, ob ihre Lernziele den Empfehlungen des NKLM entsprechen und welche Lernziele ggf. angepasst werden sollten.

Gibt es digitale Angebote, die über die Pandemie hinaus bleiben und etabliert werden können?

H. Buggenhagen: Das ist davon abhängig, wie wir die Studienordnung und das Landesprüfungsamt davon überzeugen können weiterzumachen, wie lang die nationale pandemische Lage anhält und die Abweichungsverordnung gilt. Wir sind in der Vorbereitung für die Umsetzung der Neuerungen der zukünftigen geänderten Approbationsordnung. Es ist eine sehr dynamische Phase in den nächsten vier bis fünf Jahren.

S. Kurz: Gerade die Strukturierung und der Aufbau einer Lernspirale ist uns in der digitalen Lehre sehr gut gelungen. Das wollen wir unbedingt beibehalten. Dass wir die Kernzeiten vormittags auch für die Praktika nutzen konnten, war ein riesiger Gewinn der Digitalisierung. Ich denke, das sollten wir in Zukunft weiter berücksichtigen. Wir freuen uns allerdings auch wieder sehr auf Zeiten mit mehr Präsenzlehre. Ein guter Mix ist sinnvoll und kann zur Gestaltung eines modernen Stundenplans in Zukunft beitragen.

Die vergangenen Semester waren sehr anstrengend. Was können Sie daraus als Gewinn mit in die Zukunft nehmen?

S. Kurz: Die Vernetzung der Lehrenden hat sich sehr verbessert. Wir wachsen immer mehr zusammen, man hat weniger Hemmungen, sich gegenseitig zu fragen und zu unterstützen. Es hat sich ein Lehrteam entwickelt. Ein weiterer großer Gewinn ist, dass wir insgesamt mehr Struktur im Aufbau der Lehrveranstaltungen erreicht haben. Die online verfügbare Vorlesung ermöglichte den Abruf nicht nur jederzeit, sondern auch mehrfach, was von den Studierenden rege genutzt wurde. Insbesondere angesichts weiterer Verpflichtungen wie Familie, Doktorarbeit und Berufstätigkeit neben dem Studium sind online abrufbare Lehrinhalte eine relevante Verbesserung und der Wunsch diese Änderung beizubehalten wurde von Seiten der Studierenden mehrfach angebracht. Im Hinblick auf die anhaltende Diskussion der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist die Vereinbarkeit von Familie und Studium bereits ein erster Schritt in die richtige Richtung. Zukünftig gilt es hybride Lehrkonzepte, aber auch Kurskonzepte mit virtueller Realität, künstlicher Intelligenz sowie Robotik zu verstetigen. Erste Pilotkurse gibt es seit ein paar Jahren bei uns im Rahmen des Wahlpflichtfach-Programms in der Chirurgie [6], [7]. Die digitale Lehre wird diese innovativen Lehrformate sicherlich unterstützen.

H. Buggenhagen: Durch die hohe Motivation der Lehrenden und Studierenden, die sich teilweise sehr spontan und in großem Umfang als Tutor:innen engagiert haben, konnten wir gute Blended-Learning-Konzepte erstellen, die nachhaltig für eine qualitativ hochwertige Lehre genutzt werden können.



Das Interview führten Sabine Hoyer und Stefanus Schweizer.


Resümee

Zukünftig sollten wir abgestimmte Blended-Learning-Konzepte für selbstbestimmtes, individuelles und kollaboratives Lernen für die Studierenden bereitstellen [7], [8]. Welche Lehrmethoden im digitalen oder präsenten Format gewählt werden, sollte sich streng nach den geforderten Lernzielen richten. Faktenwissen lässt sich sowohl präsent also auch digital sehr gut lehren, wohingegen Handlungskompetenzen besser im präsenten Unterricht mit praktischen Übungen im Labor, an Simulationen oder mit Patientenkontakt vermittelt werden können.


Abkürzungen

  • BigBlueButton: Open-Source-Plattform für Onlinelehre
  • JGU: Johannes Gutenberg-Universität Mainz
  • LMS-Moodle: Lernmanagementsystem der Johannes Gutenberg-Universität (Moodle-LMS© – West Perth, Australia)
  • LOOOP: Learning Opportunities, Objectives and Out- comes Platform (nicht-kommerzielles Forschungsnetzwerk für Curriculumsentwicklung und Curriculum-Mapping)
  • MME: Master of Medical Education
  • MS Teams: Microsoft® Teams (Microsoft Corporation, Redmond, WA, USA)
  • NKLM: Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin
  • OSCE: Objective Structured Clinical Examination
  • Panopto: Videoplattform (Panopto© Inc., Seattle, USA)

Biografische Daten

  • Dr. med. Holger Buggenhagen, MME ist seit 1992 Anästhesist an der Universitätsmedizin Mainz, seit 2009 als Oberarzt. 2013–2015 absolvierte er berufsbegleitend das Studium Master of Medical Education. Seit 2012 leitet er die zentrale Lehrplattform Rudolf Frey Lernklinik. Seine Schwerpunkte sind Medizindidaktik, Lehrforschung und Curriculumsentwicklung.
  • Dr. med. Sandra Kurz, MME ist seit 2003 Anästhesistin an der Universitätsmedizin Mainz. 2007 bis 2010 absolvierte sie berufsbegleitend das Studium Master of Medical Education. Seit 2012 arbeitet sie neben der klinischen Tätigkeit in der Rudolf Frey Lernklinik. Dort leitet sie das Mainzer Medizin Didaktik Programm und begleitet curriculare Weiterentwicklungsprozesse. Als Dozentin im Rahmen der Querschnittfächer „Schmerzmedizin“ und „Palliativmedizin“ ist sie aktiv in der Lehre der Medizinstudierenden engagiert. Sie begleitet mehrere Lehrforschungsstudien zu innovativen Lehrformaten.

Anmerkungen

ORCIDs

Interessenkonflikte

Die Autor:innen erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Bundesministerium für Gesundheit. Verordnung zur Abweichung von der Approbationsordnung für Ärzte bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite 2020. [letzte Aktualisierung am 12.05.2021; zitiert am 08.07.2021]. Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/A/VO_Abweichung_von_AEApprO.pdf External link
2.
Idris A, Edris B. Virtual medical education during the COVID-19 pandemic: how to make it work. Eur Heart J. 2021;42(2):145-6.
3.
Huetig A, Köhler A, Kurz S, Lejsek V, Michalik M, Mueller SD, Oehler N, Roehle S, Sandri S, Schuh D, Weidmann A. Studium off campus. Das digitale Sommersemester 2020 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Das Hochschulwesen. 2020;68(4+5):119-26.
4.
Richter-Kuhmann E. Reform der Ärztlichen Approbationsordnung: Gute Ansätze, offene Fragen. Deutsches Ärzteblatt. 2021;118(5):A-249 – A-251.
5.
NKLM – Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin. Version 2.0. [letzte Aktualisierung im April 2021; zitiert am 08.07.2021]. Verfügbar unter: https://nklm.de/zend/menu External link
6.
Weissmann Y, Useini M, Goldhahn J. COVID-19 as a chance for hybrid teaching concepts. GMS J Med Educ. 2021;38(1):Doc12. DOI: 10.3205/zma001408 External link
7.
Kuhn S, Huettl F, Deutsch K, Kirchgassner E, Huber T, Kneist W. Chirurgische Ausbildung im digitalen Zeitalter – Virtual Reality, Augmented Reality und Robotik im Medizinstudium. Zentralblatt fur Chirurgie. 2021;146(1):37-43.
8.
Wilcha RJ. Effectiveness of Virtual Medical Teaching During the COVID-19 Crisis: Systematic Review. JMIR Med Educ. 2020;6(2):e20963. DOI: 10.2196/20963 External link