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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

(K)eine Strategie für Medizinbibliotheken?

(No) strategy for medical libraries?

Fachbeitrag

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  • corresponding author Oliver Obst - Zweigbibliothek Medizin, Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Deutschland

GMS Med Bibl Inf 2013;13(1-2):Doc13

doi: 10.3205/mbi000277, urn:nbn:de:0183-mbi0002777

Published: September 13, 2013

© 2013 Obst.
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Zusammenfassung

Strategie ist ein großes Wort. Welche Medizinbibliothek hat schon eine logische, geschweige denn nachhaltige Strategie aufzuweisen? Im folgenden Artikel wird versucht, dieses große Wort auf ein handelbares Level herunter zu brechen, um es für die alltägliche Praxis nutzbar zu machen. Bibliotheken und deren Spezialgebiete können als kleine, wendige Schnellboote auf dem Meer der Information durchaus den übermächtigen Ozeandampfern Konkurrenz machen.

Schlüsselwörter: Strategie, Medizinbibliothek, Alleinstellungsmerkmal

Abstract

Strategy is a big word. Which medical library does have a logical, let alone sustainable strategy? The following article is trying to break down this big word on a tradable level, to make it usable for everyday practice. In the sea of information, libraries and their areas of expertise could be small, agile speedboats compared to the overpowering ocean liners.

Keywords: strategy, medical library, unique selling point


Einleitung

„Die Zeit der Medizinbibliotheken scheint abgelaufen zu sein“, seufzt Else Immel, die Vorsitzende der AGMB. Gerade hatte sich der Leiter der Medizinbibliothek Duisburg am Telefon bei ihr ausgeweint. Bereits das dritte deprimierende Gespräch diese Woche! Der Tenor war immer derselbe: Die Mediziner kommen seit Jahrzehnten nicht mehr in die Bibliothek, die Studenten wollen Bibliothekare entlassen, um dafür Lehrbücher zu kaufen, der Dekan verweigert sich allen Gesprächsversuchen und jeder denkt, die Bibliothek ist nur noch sozialer Treffpunkt. Summa summarum: Besucherschwund, keiner legt sich für die Bibliothek ins Zeug, die drohende Schließung.

Immel verdreht die Augen: Sie kann es bald nicht mehr hören! Das schlägt ihr auf’s Gemüt. Ähnliche Anrufe hatte die AGMB auch um die Jahrtausendwende bekommen, aber da waren es die kleinen Krankenhausbibliotheken, die um ihre Existenz gefürchtet hatten. Es gibt ihr zu denken, dass 20 Jahre später die Schließungswelle auch die Hochschulmedizinbibliotheken erfasst hat. Was soll sie denen nur sagen? Womit soll sie ihnen Hoffnung machen? Sie hat doch auch kein Patentrezept! Es ist aber auch alles wie verhext: Einige Bibliotheken – wie die Duisburger – trifft es mitten ins Herz, während andere immun zu sein scheinen und vor Kraft strotzen. Grübelnd steht sie mit ihrem leeren Becher vor der Kaffeemaschine und murmelt vor sich hin: „Else, Else, du musst dir unbedingt mal eine Liste machen, was derzeit alles gegen Bibliotheken zu sprechen scheint. Vielleicht ergibt sich daraus ja ein Hinweis auf die Ursachen.“ Schon etwas zuversichtlicher fügt sie hinzu: „Und wenn wir die erst kennen, dann ist es zur Lösung auch nicht mehr weit!“


Immels Liste der gegen Medizinbibliotheken sprechenden Tendenzen

  • Die Ansprüche und das Mitspracherecht der Nutzer steigen.
  • Die Digital Natives glauben, sie wären nicht mehr auf die Bibliothek angewiesen.
  • Elektronische Lehrmittel, e-Learning, Digitaler Lernflow [1], MOOCs (Massive Open Online Courses, Univorlesungen und E-Learning für die ganze Welt): Dies alles macht Studenten unabhängig vom „Lernort Bibliothek“.
  • Frustration über mangelnde Unterstützung: „Wieso hilft mir die Bibliothek nicht bei meiner Doktorarbeit (DFG-Antrag, Veröffentlichung, Statistikproblem, Patientenaufklärung)?“
  • Keiner kommt mehr in die Bibliothek, keiner kennt sie mehr von innen. Unsichtbarkeit = Unwichtigkeit.
  • Kontinuierliche Preiserhöhungen bei stagnierenden Etats
  • Noch nie zuvor war soviel online vorhanden.
  • Open Access bzw. Zeitschriftenangebot über regionale, nationale Konsortien
  • Return of Investment: Bei steigender Raum- und Ressourcenknappheit muss sich die Bibliothek einer (externen) Begutachtung stellen. Was leistet die Bibliothek eigentlich für die Organisation? Viele Bibliotheken trifft das unvorbereitet.
  • Unverständnis für die Aufgaben der Bibliothek: „Keine Ahnung, was die da eigentlich machen.“

Die Liste ist doch länger geworden, als Immel dachte. Sie stöhnt: „Ja, jetzt wird mir klar, warum immer mehr Universitäten denken, sie bräuchten keine Bibliothek mehr! Und die Medizinbibliotheken trifft es als erste, da sie als erste auf digitale Ressourcen umgestellt hatten. Ja, es stimmt schon, wenn es heißt: ‚A Library is just a nice place to have‘. Das ist der Lauf des Schicksals. Alles ist irgendwie aussichtslos… Stop. STOP! Else, reiß dich verflixt nochmal zusammen! Lass dich nicht runterziehen!!“ Entschlossen greift sie zum Telefonhörer: „Es muss doch ein Grund des Erfolgs geben, etwas, das diese Bibliotheken verbindet!?“ In Nullkommanichts hat sie alle ‚kraftstrotzenden‘ Medizinbibliotheken durchtelefoniert – doch nichts: Scheinbar haben sie keine Gemeinsamkeiten. Schnaufend lässt sie sich in ihr Nachdenksofa fallen: „Hmmm, jede Bibliothek macht etwas anderes. Aber zeichnen sich alle nicht dadurch aus, dass sie zielgerichtet handeln, und dies über längere Zeiträume hinweg?“ Ja, in den Telefonaten war deutlich zu spüren gewesen, dass diese Bibliotheken nicht kopflos waren, sondern eine Führung besaßen, die mit Weitblick und Zielgerichtetheit agierte, die einen Plan hatte, eine … Strategie!

„Heureka! Eine Strategie! Man bräuchte eine Strategie!“ ruft Immel begeistert aus. „Das ist die Lösung!“ Doch dann hält sie plötzlich inne: „Oops, habe ich jemals selber eine Strategie gehabt? Eigentlich nicht…!“ Ok, ihre Bibliothek hatte sich durch vielfältige Marketinginstrumente ausgezeichnet, welche die Kundenbindung und das Image der Bibliothek stärken sollten. Aber war das schon eine Strategie? Sie hatte oft nur von Heft zu Heft, von Email zu Email, von Hausbesuch zu Hausbesuch gedacht. Und doch, munterte sie sich auf, war das alles in allem eine klare Aussage zur angestrebten Stellung der Bibliothek in der Fakultät gewesen und damit strategisch gedacht.

Auch das Angebot von subito als Ersatz für nicht bezahlbare Zeitschriftenabos war das Resultat einer strategischen (wirtschaftlichen) Entscheidung Immels: Ihre Bibliothek bot zwar weiterhin alles an, aber nicht alles sofort. Die Auswahl der jährlich abzubestellenden Zeitschriftentitel war auch Resultat einer strategischen (politischen) Entscheidung: Nachdem Immel die Klinikdirektoren in die Entscheidung eingebunden hatte, fühlten diese sich ernst genommen, und sie selber war aus der Schusslinie. Und ebenso war die Einstellung einer Facebookexpertin das Resultat einer strategischen (Marketing) Entscheidung: Immels Bibliothek verfügte damit über einen zusätzlichen wichtigen Kommunikationskanal.

Immels Augen verweilen für einen Moment auf der Fakultätsurkunde, die über ihrem Schreibtisch hängt: ‚Für die herausragende Unterstützung der Forschung und Lehre durch die Bibliothek’. Im Rückblick hatte sie wohl viele Entscheidungen getroffen, die sich als richtig herausgestellt hatten. Diese Entscheidungen hatten die strategische Ausrichtung der Bibliothek gebildet, auch wenn ihr das oft nicht bewusst gewesen war. Geholfen hatte zweifelsohne, dass sie – inmitten der sich schnell verändernden Rahmenbedingungen – immer eine klare strategische Vision von dem Wirken ihrer Bibliothek gehabt hatte.

Das Gemeinsame der erfolgreichen Bibliotheken war also geklärt: Es war die Strategie. Nicht geklärt war, wieso jede Bibliothek einen anderen Service aufwies, mit dem sie in der Fakultät punktete. Jede hatte offensichtlich eine andere Nische gefunden, einen anderen Top-Service, der sie unverzichtbar machte auf dem Campus! Immel springt vor Begeisterung auf: „Das ist es! Erfolgreiche Bibliotheken sind deswegen erfolgreich, weil sie ein Alleinstellungsmerkmal besitzen!“

Sie erinnert sich: „Stimmt, früher waren die Bibliotheken mit ihrem Geschäftsmodell der Lehrbuchausleihe sehr erfolgreich gewesen.“ Doch dieses materielle Alleinstellungsmerkmal war ihnen in den 20er Jahren verloren gegangen. Die kraftstrotzenden Bibliotheken haben anscheinend rechtzeitig neue Alleinstellungsmerkmale entwickelt, die sie unabhängig von Etat und materiellen Medien machten. Immel hatte mal bei Wikipedia etwas darüber gelesen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Alleinstellungsmerkmal). Im Folgenden listet sie alle potenziellen Alleinstellungsmerkmale der Bibliotheken auf, mit denen sie telefoniert hat.


Immels Liste potenzieller Alleinstellungsmerkmale von Bibliotheken

  • Benutzersupport für Computersicherheit
  • Bibliothek als (sozialer) Treffpunkt und Lernzentrum
  • Bibliothekare mit Smartphone- und Tablet-Kenntnissen sind bei Nutzern beliebt und werden in die IT-Planung von Fakultät und Uniklinikum eingebunden.
  • Center for Information Competence. Bibliothekare haben den Überblick und das Wissen, um Informationskompetenz zu unterrichten.
  • Die Bibliothek hilft dir, was für Fragen du auch immer hast: Die Bibliothek als zuverlässiger und vertrauenswürdiger Dienstleister für Informationen auf dem Campus.
  • Experten-Bibliothekare mit universellem Wissen über die automatische Überwachung des Gesundheits- und Fitnesszustands mit Hilfe von Biosensoren, Gadgets und Apps (Mobile Consumer Health)
  • Genomics: Bibliothekare mit Kenntnissen auf dem Gebiet der Genetik, Bioinformatik und Statistik können Fragen zu Gendefekten und Krankheitsprognosen beantworten.
  • Hilfe bei Fragen zu Veröffentlichungen, Impactfaktoren, Open Access, Urheberrecht
  • Zentrum für Evidenz-basierte Medizin. Lieferant und Informant zu allen Quellen der EBM
  • Zur Virtuellen Lehre beitragen: Bibliotheken vernetzen Tablets, digitale Lehrmaterialien und Vorlesungen zu einer komplett-digitalen Lernumgebung.

Immel kommt ein Gedanke: „Genauso wie Individuen [2] könnten doch auch Bibliotheken ihre eigenen persönlichen Stärken herausbilden und die Art und Weise schärfen, wie andere einen wahrnehmen. Bibliotheken sind Individuen. Sie sind ganz unterschiedlich, haben ihre eigenen Stärken und Schwächen, ihre eigene Umwelt und dadurch auch ihre eigenen Entwicklungschancen. Dies haben die erfolgreichen Bibliotheken erkannt und für sich genutzt.“ Ihre gesammelten Erkenntnisse wird sie gleich morgen in einem Strategiepapier allen Medizinbibliotheken zugänglich machen. Wäre doch gelacht, wenn sich Bibliotheksschließungen nicht aufhalten lassen würden!


Anmerkung

Interessenkonflikte

Der Autor erklärt, dass er keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Wissenswiki: Digitaler Lernflow [Internet]. Universitäts- und Landesbibliothek Münster – ZB Medizin; [updated 6.6.2013]. Verfügbar unter: http://medbib.klinikum.uni-muenster.de/wiki/DigitalerLernflow External link
2.
Rampersad HK. A new blueprint for powerful and authentic personal branding. Perform Improvement. 2008 Jul 11;47(6):34-7. DOI: 10.1002/pfi.20007 External link