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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Stellungnahme der AWMF zum Verfahren der Frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach §35a SGBV und aufgrund des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) von 2010

Mitteilung

GMS Mitt AWMF 2015;12:Doc2

doi: 10.3205/awmf000301, urn:nbn:de:0183-awmf0003012

Received: February 24, 2015
Published: March 25, 2015

© 2015 .
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Zusammenfassung

Die AWMF und die in ihr organisierten Fachgesellschaften unterstützen das Verfahren der Frühen Nutzenbewertung als ein wichtiges Instrument der Förderung der medizinischen Effektivität und der Kosteneffektivität der Gesundheitsversorgung. Die Fachgesellschaften haben sich bereits mit einer Vielzahl von Stellungnahmen an den einzelnen Verfahren der Frühen Nutzenbewertung beteiligt. Im Hinblick auf den Verfahrensablauf und Aspekte der Evidenzbewertung einschließlich Festlegung der Vergleichstherapie und der Priorisierung von Endpunkten sehen die AWMF und die in ihr organisierten Fachgesellschaften jedoch deutlichen Verbesserungsbedarf. Wir verweisen hierzu auf die gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) und Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) vom 22.05.2013 sowie auf die Stellungnahmen der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) vom 21.08.13 und der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (DGGÖ) vom 28.7.2014 . Im Folgenden sind konkrete Themen adressiert, zu denen Verbesserungsvorschläge gemacht werden.


Text

1. Festlegung der Vergleichstherapie

Die Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie hat sich in einer nicht unbeträchtlichen Zahl an Verfahren als problematisch erwiesen. Bei der Festlegung wurde in nicht wenigen Fällen von den Vergleichstherapien der Zulassungsstudien oder der Zulassungsverfahren der European Medicines Agency (EMA) abgewichen. Dabei wurden auch Arzneimittel empfohlen, die zwar eine Zulassung für die Indikation haben, aber in aktuellen nationalen oder internationalen Leitlinien aufgrund fehlender Evidenz nicht empfohlen werden . Weiterhin stehen nicht immer zugelassene Medikamente als Standard zur Verfügung oder werden als solcher eingesetzt (z.B. bei sogenannten „orphan drugs“). Die Diskussion und Entscheidung über die zweckmäßige Vergleichstherapie muss auf höchstem wissenschaftlichem Niveau und transparent stattfinden. Der aktuelle Stand des Wissens sowie gültige evidenzbasierte Leitlinien sind zu berücksichtigen. Zum umfassenden Verständnis sind oft zusätzliche, den Studien nicht zu entnehmende, klinische Informationen und das Wissen um deutsche Versorgungsstrukturen wesentlich. Deshalb erachtet die AWMF die Einholung unabhängiger Expertengutachten für die differenzierte Beurteilung auf Basis der externen Evidenz als sinnvoll und zielführend. Diese sollte transparent erfolgen. Die Einbindung einzelner Experten allein auf Initiative des pharmazeutischen Unternehmers findet selten statt, entspricht aber auch nicht der unabhängigen Bewertung durch eine wissenschaftliche Fachgesellschaft.

Vorschlag 1: Vor Eröffnung eines Verfahrens der Frühen Nutzenbewertung sollten in Bezug auf die festzulegende Vergleichstherapie unabhängige klinische Fachexperten zusätzlich zu den aktuell etablierten Informationsquellen gehört werden. Nach festgelegten Kriterien können diese durch die AWMF in Abstimmung mit den zuständigen Fachgesellschaften benannt werden. Die Fachexperten steuern klinisch-wissenschaftliche Expertise zur Beurteilung der vorliegenden Evidenz bei unter Beachtung der Vorgaben des G-BA und der AWMF zu Interessenkonflikten.

2. Berücksichtigung von Leitlinienempfehlungen

Aktuelle evidenzbasierte Leitlinien stellen ein wichtiges Instrument zur Festlegung klinischer Standards dar. Die universitäre Lehre und die inhaltliche Ausrichtung der Facharztausbildung nehmen die Leitlinien der Fachgesellschaften zur Grundlage.

Schließlich sind Leitlinien Grundlage bei der Evaluation der Prozessqualität in der klinischen und ambulanten Versorgung. Wenn der G-BA Empfehlungen ausspricht, die den Empfehlungen aktueller evidenzbasierter Leitlinien widersprechen, sollte dies für die praktizierenden Ärzte nachvollziehbar sein und der Widerspruch zu den Leitlinien wissenschaftlich begründet werden.

Vorschlag 2: Die Recherche und Kommentierung der zum jeweiligen Zeitpunkt aktuellen evidenzbasierten Leitlinien sollten als verpflichtender integraler Bestandteil nicht nur in den Ausarbeitungen des G-BA, sondern auch im Dossier des pharmazeutischen Herstellers und dem fachlich unabhängigen, evidenzbasierten Gutachten des beauftragten wissenschaftlichen Instituts enthalten sein.

3. Festlegung von klinisch relevanten Endpunkten für die Bewertung

Aufgrund der Vielzahl und Heterogenität der behandelten Krankheitsbilder und Therapieindikationen gibt es eine große Anzahl möglicher Endpunkte, d.h. sinnvoller Behandlungsziele. Insbesondere die Erfassung von Morbidität und Lebensqualität im Vergleich zu einer Verbesserung der Mortalität unterliegt aktuell bei verschiedenen Krankheitsbildern einer intensiven Diskussion. Die Diskussion über die geeigneten Endpunkte und eine Priorisierung dieser Endpunkte sollte gemeinsam mit den Fachexperten und betroffenen Patienten geführt werden und anerkannte methodische Qualitätskriterien berücksichtigen. Die Gewichtung der Endpunkte ist transparent zu machen.

Vorschlag 3: Eine präzise Definition und Hierarchisierung von Endpunkten sollte zeitgleich mit dem Festsetzen der zweckmäßigen Vergleichstherapie unter Einbeziehung unabhängiger medizinischer Fachexperten und betroffener Patienten/Patientenvertretern erfolgen. Lässt die Zeitachse der Studien eine abschließende Bewertung relevanter Endpunkte, zum Beispiel später Nebenwirkungen, nicht ausreichend zu, muss häufiger von dem Instrument der Befristung und vor allem der Wiederaufnahme zur Neubewertung der Evidenz Gebrauch gemacht werden.

4. Subgruppenbildung

Subgruppenergebnisse aus RCT sind hypothesenbildend, nicht hypothesenbeweisend. Die Festlegung von Subgruppen ist klinisch-wissenschaftlich gut zu begründen. Deshalb überrascht es, dass bei der Frühen Nutzenbewertung häufig aus Ergebnissen für kleine Gruppen (cave: weite Konfidenzintervalle!) sehr eindeutige Schlussfolgerungen gezogen werden. Definitive Schlussfolgerungen sollten erst nach Vorliegen weiterer, erhärtender Ergebnisse gezogen werden.

Vorschlag 4: Die Unterteilung in Subgruppen muss im Hinblick auf die Evidenz, Stichhaltigkeit, statistische Aussagefähigkeit und klinische Anwendbarkeit kritisch reflektiert werden. Klinisch-wissenschaftliche Fachexperten können zur Betrachtung von Subgruppen Hinweise geben.

Der primär hypothesenbildenden Ergebnissicherheit von Subgruppen sollte in der Nutzenbewertung Rechnung getragen und ggf. weitere Ergebnisse eingefordert und abgewartet werden, bis eine endgültige Festlegung für betroffene Patientengruppen erfolgt.

5. Bewertung von „orphan drugs“

Die frühe Nutzenbewertung von „orphan drugs“ unterliegt besonderen Regelungen. Der Status eines Arzneimittels als „orphan drug“ wird auf Antrag des pharmazeutischen Unternehmers von der European Medicines Agency (EMA) zuerkannt. Abhängig vom Vorgehen des Unternehmers können Medikamente für dieselbe seltene Indikation als „orphan drug“ oder im regulären Prozess zugelassen werden. Nach dem AMNOG gilt der Zusatznutzen für „orphan drugs“ durch die Zulassung als belegt. Das Verfahren der frühen Nutzenbewertung von „orphan drugs“ beschränkt sich auf die Quantifizierung des Zusatznutzens. Der Bericht zum Dossier wird vom G-BA erstellt, das beauftragte wissenschaftliche Institut wird nur mit der Bewertung der Anzahl der Patienten und der Therapiekosten beauftragt.

Die Methodik des G-BA zur Bewertung des Dossiers ist nicht transparent. Der Bericht enthält keine Kategorisierung des Zusatznutzens. Die Diskrepanzen zwischen der Methodik des G-BA und des IQWiG führen dazu, dass die Dossiers für neue Arzneimittel in derselben seltenen Erkrankung je nach Status unterschiedlich ausgewertet werden.

Vorschlag 5: Der G-BA soll unter Einbeziehung fachlich-wissenschaftlicher Expertise prüfen, inwieweit das Verfahren der Frühen Nutzenbewertung bei der Bewertung von „orphan drugs“ methodisch anzupassen und zu vereinheitlichen ist.

6. Gesundheitsökonomische Evidenzbasierung zur Preisbildung nach Abschluss der Frühen Nutzenbewertung

Die Frühe Nutzenbewertung soll eine effektive und wirtschaftliche Arzneimittelversorgung fördern, kann aber den zweiten Aspekt bislang nicht leisten: Zwar ist die Erstattung auf Basis der Nutzenbewertung zu vereinbaren, jedoch verlangt das Dossier nur Angaben zu den Kosten der Arzneimitteltherapie, nicht der gesamten Versorgung, und bezieht auch keine gesundheitsökonomischen Evaluationen ein. Für ein evidenzbasiertes Entscheiden fehlt den Beteiligten der Erstattungsvereinbarung somit ein Teil der wissenschaftlichen Grundlage. Für pharmazeutische Unternehmen werden, solange die Wirtschaftlichkeit der neuen Produkte nicht transparent zu machen ist, keine Anreize gesetzt, dies bei der Arzneimittelentwicklung zu berücksichtigen und in den Studien entsprechende Nachweise zu erarbeiten, etwa durch ökonomische Ergänzung klinischer Versuche im „piggy-back“ Verfahren oder durch nachvollziehbare entscheidungs¬theoretische Modellierung. Mit geringerer Transparenz sinken die Anreize, wirtschaftliche Produkte auf den Markt zu bringen. Es fehlt bislang eine ökonomische Fundierung, die Zahlungsbereitschaft der gesetzlichen Krankenversicherung rechnerisch zu bestimmen.

Vorschlag 6: Um die Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung zu fördern und die wissenschaftliche Grundlage der Erstattungsvereinbarungen zu verbessern, ist die Frühe Nutzenbewertung um Evidenz zur Wirtschaftlichkeit der neuen Arzneimittel zu ergänzen. Die Analyse der Wirtschaftlichkeit sollte – über zumindest teilweise gleiche Endpunkte – direkt mit der medizinischen Nutzenbewertung verbunden sein. Sie muss wie diese auf ihre wissenschaftliche Aussagefähigkeit hin überprüft werden. Die wissenschaftliche Beurteilung der Evidenz zu Effektivität und Wirtschaftlichkeit sollte Teil der Frühen Nutzenbewertung sein; die Entscheidung, was wirtschaftlich akzeptabel ist, obliegt den Verantwortlichen der Erstattungsverhandlungen.

7. Rahmenbedingungen der Frühen Nutzenbewertung

Die AWMF und die in ihr organisierten Fachgesellschaften halten eine europäische Harmonisierung der auf den patientenrelevanten Nutzen bezogenen Kriterien und Anforderungen für Zulassungsverfahren für dringend erforderlich.

Erarbeitet von:

Prof. Dr. Bernhard Wörmann, DGHO

Prof. Dr. Focke Ziemssen, DOG

Prof. Dr. Reiner Leidl, dggö

Dr. Monika Nothacker, MPH, AWMF

für die Arbeitsgruppe „Frühe Nutzenbewertung“ der AWMF,

verabschiedet vom Präsidium der AWMF am 24. 02. 2015