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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Erhebungspraxis in der psychiatrischen Versorgungsforschung am Beispiel der Teilnahmebereitschaft an einer Kohortenstudie

Meeting Abstract

  • Claudia Mehl - Philipps-Universität Marburg, FB 20, Marburg, Germany
  • Michaela Assheuer - Universität Witten/Herdecke, Lehrstuhl für Versorgungsforschung, Witten/Herdecke, Germany
  • Werner de Cruppé - Philipps-Universität Marburg, Institut für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie, Marburg, Germany
  • Michael Kellner - Klinikum Herford, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Herford, Germany
  • Max Geraedts - Philipps-Universität Marburg, Institut für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie, Marburg, Germany
  • Karl H. Beine - St. Marien-Hospital Hamm, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Hamm, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf396

doi: 10.3205/19dkvf396, urn:nbn:de:0183-19dkvf3964

Published: October 2, 2019

© 2019 Mehl et al.
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Text

Hintergrund: Die Vulnerabilität der Patienten in psychiatrischen Kliniken und der Feldzugang in der Psychiatrie sind für die Versorgungsforschung mit Herausforderungen verbunden. Diese offenbaren sich besonders, wenn Patienten für Studien rekrutiert und ihre Erfahrung für die Bewertung der Qualität psychiatrischer Behandlungen erfasst werden sollen. Stationswechsel, Entlassungen und Weiterbehandlung in anderen Sektoren führen oftmals zu Unterbrechungen im Therapieverlauf, so dass die Patientenperspektive im zeitlichen Verlauf nur schwer weiter verfolgt werden kann. Vor diesem Hintergrund ist die Beschreibung von Erfahrungswissen über die Erhebungspraxis psychiatrischer Patienten für zukünftige Forschung von großer Bedeutung.

Fragestellung:

1.
Wie verläuft die Rekrutierung psychiatrischer Patienten im stationären Setting und welche Gründe werden für eine Nicht-Teilnahme genannt?
2.
Wie zeigt sich die Teilnahmebereitschaft im Verlauf einer Kohortenstudie?

Methode: Die Beantwortung der Fragestellung wird anhand der Daten zum Rekrutierungsverlauf und der Teilnahmebereitschaft an einer Längsschnittstudie mit psychiatrischen Patienten an 3 Messzeitpunkten veranschaulicht. Das zugrunde liegende Projekt „Integrative Psychiatrie Hamm“ wird vom Landeszentrum Gesundheit NRW gefördert (LZG TG 71 003/2015). Hierbei werden psychiatrische Patienten in einer Modellklinik (MK) unter Gesamtbudget-Vergütung mit Patienten einer Kontrollklinik (KK) mit Regelvergütung über einen Zeitraum von 20 Monaten verglichen. Eingeschlossen wurden Patienten mit allen Diagnosen gemäß ICD-10 F0 bis F7 und aller Krankenkassenarten.

Die Rekrutierung der Studienteilnehmer erfolgte durch eine geschulte und in den Stationsablauf integrierte Wissenschaftlerin, die mit Hilfe des Klinikdokumentationssystems und in Absprache mit den zuständigen Behandlern die Teilnahmebereitschaft der Patienten persönlich Vor-Ort abklärte. Nach Kontaktaufnahme mit den Patienten erfolgte eine ausführliche Studienaufklärung, und das Einverständnis zur Teilnahme wurde schriftlich eingeholt. Im direkten Kontakt wurden mittels validierter Fragebögen Angaben der Patienten erhoben. Ebenso wurden die jeweiligen Behandler gebeten, Fremdbeurteilungsbögen zu den Teilnehmern auszufüllen.

Im Verlaufe des Erstkontaktes wurde mit den Patienten die Erreichbarkeit für die Folgekontakte besprochen und Kontaktdaten aufgenommen.

Die Kontaktaufnahme nach 10 (t1) und 20 (t2) Monaten erfolgte patientenindividuell in der Klinik oder telefonisch und die Erhebungen zu den Folgezeitpunkten erfolgten nach Terminvereinbarung in Räumen der Klinik oder wenn nicht möglich auch telefonisch.

Ergebnisse: Es gelang im fünfmonatigen Rekrutierungszeitraum je Klinik von allen konsekutiv stationär aufgenommenen Patienten (MK: 540, KK: 695) 220 (40,7 %) der MK und 215 (30,9 %) der KK in die Studie aufzunehmen. Ausgeschlossen wurden entsprechend den Ausschlusskriterien insgesamt 94 (MK) und 134 (KK) Patienten, die < 48 Stunden stationär behandelt wurden, mit Wohnort außerhalb des Einzugsgebietes, ohne festen Wohnsitz oder mit F8/F9 Diagnosen nach ICD-10 (Entwicklungsstörungen und solche mit Beginn in Kindheit und Jugend). Die Nicht-Teilnahme-Gründe für 226 (MK) und 346 (KK) Patienten sind: Patienten wurden nicht erreicht, Patienten mit schlechtem Allgemeinzustand, Patienten ohne Interesse, Patienten mit kognitiven Einbußen oder einer Sprachbarriere, Patienten ohne Betreuer sowie stark verhaltensauffällige Patienten. Die Studienpopulation umfasst 220 (MK) und 215 (KK) Probanden, die sich aus jeweils 8 gerontopsychiatrischen Patienten (F0), 85 (MK) bzw. 59 (KK) Sucht-Patienten (F1) sowie 127 (MK) und 148 (KK) allgemeinpsychiatrischen Patienten zusammensetzen.

Die Drop-Out-Rate lag zu t1 bei 29% (MK) bzw. 32% (KK), bei t2 20% (MK und KK). „Trotz Kontaktaufnahme keine Teilnahme“ (t1 (MK: 29, KK: 22) und t2 (MK: 23, KK: 17) und „Patient wurde nicht erreicht“ (t1 (MK: 40, KK: 26) und t2 (MK: 26, KK: 29) sind die häufigsten Gründe für die Drop-Out-Raten der Nacherhebungen.

Diskussion: Mit intensiven Bemühungen und Integration der Forscherin in den Klinikablauf gelang es, eine Teilnahmerate von 40,7% in der MK und 30,9% in der KK zu erzielen. Dennoch stellt die Erhebungspraxis im Kontext psychiatrischer Versorgung eine methodische Herausforderung dar. Dies zeigt sich unter anderem an den hohen Drop-Out-Raten, die sich zwischen MK und KK nicht unterscheiden. Die Zahlen dieser Studie geben Hinweise für die Fallzahlberechnung für zukünftige Projekte mit psychiatrischen Patienten.