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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Integrierte Tagespflege als sektorenübergreifendes Versorgungsmodell: Chancen und Herausforderungen

Meeting Abstract

  • Gundula Röhnsch - Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 6: Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft, Bielefeld, Germany
  • Jonas Vorderwülbecke - Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 6: Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft, Bielefeld, Germany
  • Kerstin Hämel - Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG 6: Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft, Bielefeld, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf182

doi: 10.3205/19dkvf182, urn:nbn:de:0183-19dkvf1820

Published: October 2, 2019

© 2019 Röhnsch et al.
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Text

Hintergrund: Potentiale sektorenübergreifender, integrierter Versorgungsmodelle werden seit Langem diskutiert. Sie sollen besonders bei komplexen Gesundheitsproblemen und Pflegebedürftigkeit zu einer hochwertigen, wohnortnahen Versorgung beitragen. Allerdings ist die Umsetzung u. a. durch starre Sektorengrenzen erschwert. Pflegeeinrichtungen sind bislang kaum an integrierter Versorgung beteiligt. Empirische Analysen zu Chancen und Herausforderungen sektorenübergreifender Versorgungsmodelle in der Langzeitpflege sind selten.

Ziel des Modellprojekts „Pflege stationär – Weiterdenken!“ (Förderung: Stiftung Wohlfahrtpflege NRW) ist es, stationäre Pflegeeinrichtungen zu sektorenübergreifenden, integrierten Quartiers- und Gesundheitszentren weiterzuentwickeln. Die Zentren sollen als Teil einer sozialraumorientierten Versorgung zusätzlich zur stationären Langzeit- und Kurzzeitpflege offene und teilstationäre Angebote vorhalten. Ein solches teilstationäres Angebot ist integrierte Tagespflege (ITP), die sich vorrangig an Menschen richtet, die im Quartier/Stadtteil der Einrichtungen wohnen. Im Rahmen der ITP verbringen Tagespflegegäste den Tag im Pflegeheim und nutzen Angebote (z.B. Verpflegung, soziale Angebote) gemeinsam mit Heimbewohner*innen.

Fragestellung: Gegenstand dieses Beitrags ist eine laufende Evaluation integrierter Tagespflege in den Modelleinrichtungen. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, welche Chancen und Herausforderungen aus Sicht von Expert*innen mit der Konzeptionierung und Umsetzung der ITP verbunden sind. Zudem wird gefragt, wie Nutzer*innen (Tagesgäste und Heimbewohner*innen) die ITP erleben und unter welchen Aspekten sie ihren Bedürfnissen und Bedarfen entspricht.

Methoden: Es wurden leitfadengestützte Interviews mit 20 Expert*innen durchgeführt, die als Fachkräfte in den Modelleinrichtungen arbeiten oder auf Planungs- und Kooperationsebene in das Projekt involviert sind. Außerdem wurden episodische Interviews mit 10 Tagesgästen sowie mit 10 Bewohner*innen der Modelleinrichtungen geführt. Im Fall stärkerer kognitiver Einschränkungen wurden stellvertretend oder zusätzlich Angehörige interviewt. Die Auswertung aller Interviewdaten erfolgte mittels Thematischen Kodierens. Sichtweisen von Expert*innen, Gästen und Bewohner*innen wurden abschließend triangulativ zueinander in Bezug gesetzt.

Ergebnisse: Bewohner*innen und Tagesgäste thematisieren die Bedeutung von integrierter Tagespflege vor allem im Kontext von sozialer Integration. Bewohner*innen wissen es zu schätzen, dass ihnen die Anwesenheit der Tagesgäste in ‚ihren‘ stationären Einrichtungen ermöglicht, soziale Bezüge jenseits der Lebenswelt Pflegeheim aufrechtzuerhalten. Wie die Tagesgäste, erleben sie das ‚lockere‘ Beisammensein im Kontext gemeinsamer Aktivitäten (Mahlzeiten oder Sing- und Bewegungsangebote) als positiv. Allerdings nehmen beide Nutzergruppen einen Mangel an Privatsphäre wahr, und speziell die Bewohner*innen kritisieren eine allgemeine Unruhe auf ihren Wohnbereichen, die sie auf die Anwesenheit der Tagesgäste zurückführen.

Auch die Expert*innen verdeutlichen, dass integrierte Tagespflege die soziale Teilhabe beider Nutzergruppen verbessert und Einsamkeit entgegenwirken kann. Expert*innen verweisen zudem darauf, dass die Einbettung der ITP in ein stationäres Setting flexiblere zeitliche Nutzungsmöglichkeiten erlaubt. Zudem können Versorgungsbrüche an der Schnittstelle zwischen teil-/vollstationärer Versorgung vermieden und Nutzer*innen in zusammenhängenden Versorgungsketten betreut werden. Korrespondierend dazu verdeutlichen Tagesgäste und Angehörige, dass die Einbindung in ein Heim ‚Sicherheit‘ schafft, im Bedarfsfall in einer bereits vertrauten Einrichtung eine intensivere, wenn notwendig vollstationäre Versorgung zu erhalten.

Diskussion: Eine Integration von Tagesgästen in Pflegeheimen erweist sich für Nutzer*innen und für Pflegeanbieter als Chance und Herausforderung. Soll das Potential der ITP für eine Integration älterer Menschen im Sozialraum und für eine sektorenübergreifende Versorgung zum Tragen kommen, sind Mitarbeiter*innen in den Heimen gefordert, sich stärker in die gemeindenahe Versorgung einzubringen und diese mit Angehörigen und ambulanten Anbietern abzustimmen. Dazu müssen sie lernen, Versorgungsverantwortung gemeinsam zu gestalten. Solche Aufgaben werden Mitarbeiter*innen stationärer Pflegeeinrichtungen bislang wenig abgefordert, sind aber für eine sektorenübergreifende Versorgung unabdingbar. Vertiefende Analysen, wie diese gestaltet werden kann, werden in diesem Projekt in einer zweiten Erhebungsphase eruiert.

Praktische Implikationen: Zur Weiterentwicklung und Qualitätssicherung einer integrierten Tagespflege sollten die Perspektiven der Beteiligten – der Bewohner*innen, Gäste, Angehörigen und Mitarbeiter*innen – genutzt werden. In den Einrichtungen sollte regelmäßig reflektiert werden, wie Interessen und Bedürfnisse von Heimbewohner*innen und Tagesgästen ausgewogen adressiert werden können.