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17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

10. - 12.10.2018, Berlin

Hilfe durch Vernetzung – entfernt lebende Angehörige im Tausch (AniTa)

Meeting Abstract

  • Kristina Woock - Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Competence Center Gesundheit, Hamburg
  • Nele Mindermann - Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Competence Center Gesundheit, Hamburg
  • Marc Rosenberger - Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Competence Center Gesundheit, Hamburg
  • Susanne Busch - Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Competence Center Gesundheit, Hamburg

17. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 10.-12.10.2018. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2018. Doc18dkvf237

doi: 10.3205/18dkvf237, urn:nbn:de:0183-18dkvf2372

Published: October 12, 2018

© 2018 Woock et al.
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Text

Hintergrund: Die nicht geringe Zahl multilokaler Familien in Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten weiter gestiegen. Die u.a. in Studium und Beruf zunehmend geforderte Flexibilität ist dafür ein wichtiger Faktor. So ist die mittlere Entfernung des Wohnortes der Elterngeneration zu dem der erwachsenen Kinder in den letzten Jahren stetig gewachsen. Damit einher geht eine Abnahme des familiären Pflege- und Unterstützungspotentials vor Ort. Nachbarschaftliche Netzwerke leisten oft einen wichtigen Beitrag, ihnen droht aber, wenn sie auf sich gestellt sind, die Überforderung.

Über die spezifischen Herausforderungen der entfernt lebenden erwachsenen Kinder gibt es nur wenige Untersuchungen im deutschsprachigen Raum, diese Angehörigengruppe war bisher kaum im Fokus der Forschung. Das vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen geförderte Projekt „AniTa – Angehörige im Tausch“ beinhaltet die Konzeptionierung, Implementierung und Evaluation einer Onlineplattform, mit deren Hilfe entfernt lebende Angehörige sich vernetzen und niedrigschwellige Hilfe und Fürsorge „tauschen“ können. In einem ersten Schritt wurden entfernt lebende erwachsene Kinder nach ihren spezifischen Problemen und Bedarfen befragt.

Fragestellung: Unter der handlungsleitenden Fragestellung nach dem Potential einer internetgestützten Plattform für die Vernetzung erwachsener entfernt lebender Kinder und den „Tausch“ von Fürsorge wurden in einem ersten Schritt die Bedarfe und Wünsche entfernt lebender Angehöriger untersucht.

Methode: Im Vorfeld der Implementierung von AniTa wurden im Rahmen einer Bedarfsanalyse qualitative Interviews mit erwachsenen, entfernt lebenden Kindern durchgeführt (n=7). Die Interviews wurden transkribiert und mithilfe der Analysesoftware MAXQDA mittels der Inhaltsanalyse nach Mayring kategorisiert und ausgewertet.

Ergebnisse: Die Befragung der Betroffenen hat ergeben, dass die Belastungen proportional zum schlechter werdenden Gesundheitszustand der älteren Generation zunehmen. Als besonders belastend empfinden die Befragten zum einen die häufigen Reisen zu den Eltern und die dadurch für die eigene Familie fehlende Zeit. Zum anderen wird die Sorge um die Eltern und häufig auch ein fehlender Ansprechpartner vor Ort als problematisch bewertet. Die Besuche bei den Eltern sind häufig gefüllt mit organisatorischen Arbeiten oder instrumentellen Hilfeleistungen wie dem Putzen der Wohnung. Die Befragten fühlen sich dabei unabhängig von der Qualität der familiären Beziehung verantwortlich für ihre Eltern.

Diskussion: Die Befragung der entfernt lebenden Angehörigen gibt Anhaltspunkte dafür, dass auch diese Gruppe durch die Unterstützungssituation belastet ist, wenn auch anders als vor Ort Pflegende. Ein professionelles Unterstützungsnetzwerk vor Ort wird als hilfreich empfunden, muss aber immer wieder neu aufgebaut, verstärkt und begleitet werden, eine Aufgabe, die aus der Ferne nur schwer zu lösen ist. Trotz der Entfernung fühlen sich die Befragten ihren Eltern verpflichtet, sowohl aus familialer Reziprozität wie auch aus einem im normativen Denken behafteten Pflicht-Ethos.

Die im Rahmen der Bedarfsanalyse befragten erwachsenen entfernt lebenden Kinder gehören ganz überwiegend den oberen sozioökonomischen Schichten an, so dass die Sichtweise von Betroffenen aus anderen sozioökonomischen Schichten fehlt. Das könnte ein Grund dafür sein, dass beispielsweise die finanzielle Belastung nur marginal diskutiert wurde.

Praktische Implikation: Wir halten die Tauschbörse für entfernt lebende Angehörige (AniTa) für ein denkbares Instrument, um einzelnen Belastungselementen der erwachsenen entfernt lebenden Kinder zu begegnen. Zu diesen gehören beispielsweise die Ungewissheit angesichts des aus der Ferne nur unklar zu identifizierenden Hilfebedarfs der älteren Generation, die Notwendigkeit, Besuche mit organisatorischen Hilfeleistungen zu verbringen oder der fehlende Ansprechpartner vor Ort.