gms | German Medical Science

Klasse statt Masse – wider die wertlose Wissenschaft: 18. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin

Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V.

09.03. - 11.03.2017, Hamburg

Lob der Erfahrung? Onkologisch-ärztliche Perspektiven auf die Anwendung von Leitlinien in der klinischen Praxis

Meeting Abstract

  • corresponding author presenting/speaker Sabine Salloch - Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald, Deutschland
  • author Ina Otte - Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
  • author Anke Reinacher-Schick - Abteilung für Hämatologie und Onkologie, St. Josef-Hospital, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
  • author Jochen Vollmann - Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland

Klasse statt Masse – wider die wertlose Wissenschaft. 18. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Hamburg, 09.-11.03.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. Doc17ebmP7g

doi: 10.3205/17ebm079, urn:nbn:de:0183-17ebm0793

Published: February 23, 2017

© 2017 Salloch et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Outline

Text

Hintergrund und Fragestellung: Die öffentlichen Debatten über den Stellenwert evidenzbasierter Empfehlungen in der klinischen Praxis sowie speziell über eine mögliche Beeinträchtigung der ärztlichen Entscheidungsfreiheit und Depotenzierung ärztlicher Erfahrung durch Leitlinien haben in jüngerer Zeit an Intensität zugenommen. Für eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung ist dieser Diskussionszusammenhang insofern wichtig, als sich der soziale Wert biomedizinischer Forschung wesentlich an deren Implementierung in der medizinischen Praxis bemisst.

Material/Methoden: In einer Interviewstudie mit 14 stationär tätigen Onkologinnen und Onkologen wurde der Zusammenhang zwischen Evidenzbasierter Medizin und individueller ärztlicher Erfahrung exploriert. Ergänzend zum semistrukturierten Interview fand eine Faktorenanalyse mittels der Q-Methode („card sorting“) statt, im Rahmen derer ausgehend von einer onkologischen Fallvignette Einflussfaktoren auf die ärztliche Entscheidungsfindung semiquantitativ erhoben wurden. Die Datenauswertung erfolgte durch deskriptive, statistische Verfahren sowie durch qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring.

Ergebnisse: Die Studie gibt Aufschluss über vielfältige Dimensionen in der Wahrnehmung von ärztlicher Erfahrung, Intuition, Behandlungsteam und des Patientenwillens als entscheidungsrelevanten Faktoren. Im Hinblick auf die Implementierung von Leitlinien in der klinischen Praxis erleben die Interviewten das Zusammenspiel zwischen eigener Erfahrung und evidenzbasierten Standards als weitgehend unproblematisch. Sie beschreiben jedoch, dass die Studienpopulationen oft nicht dem zu behandelnden Patientenkollektiv entsprechen und dass individuelle Lösungen gefunden werden müssen. Als Beispiele für Schwierigkeiten bei der Anwendung von Leitlinien nennen die Interviewten das Auftreten von Zweitneoplasien, Therapieversagen und das Management von Komplikationen.

Schlussfolgerung: Die befürchtete Depotenzierung ärztlicher Erfahrung durch evidenzbasierte Leitlinien konnte durch die Studie nicht bestätigt werden. Vielmehr findet auf Seiten der befragten Onkologinnen und Onkologen sowohl eine kritische Reflexion des Stellenwerts eigener Erfahrung und Intuition als auch der Aussagekraft von Studien statt. Eine intensivierte Ausbildung in Konzepten und Methoden Evidenzbasierter Medizin unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung ärztlicher Erfahrung wäre wünschenswert.