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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Die Prävalenz von chronischem Rückenschmerz bei älteren Erwerbstätigen – bringt die Ergänzung von Befragungsdaten durch Krankenkassendaten einen Mehrgewinn?

Meeting Abstract

  • Annemarie Feißel - Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Germany
  • Christoph Stallmann - Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Germany
  • Enno Swart - Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Germany
  • Stefanie March - Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocP059

doi: 10.3205/17dkvf318, urn:nbn:de:0183-17dkvf3184

Published: September 26, 2017

© 2017 Feißel et al.
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Text

Hintergrund: In der „lidA- (leben in der Arbeit) Studie“ (BMBF-Förderkennzeichen: 01ER0826), einer Kohortenstudie zu Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe, wurden Erwerbstätige der Jahrgänge 1959 und 1965 u.a. zu Aspekten der Arbeit und Gesundheit in zwei Wellen (2011 und 2014) mittels computerassistiertem persönlichen Interview (CAPI) befragt. Während der Befragung wurden sie um ein schriftliches Einverständnis gebeten, die Befragungsdaten mit individuellen Krankenkassendaten (KK-Daten) verknüpfen zu dürfen (informed consent). Lag das schriftliche Einverständnis vor, wurde die entsprechende gesetzliche Krankenkasse kontaktiert. Insgesamt konnte in der lidA-Studie mit zehn Krankenkassen kooperiert werden.

Rückenschmerz ist die häufigste Diagnose bei den Muskel-Skeletterkrankungen, die zu Arbeitsunfähigkeit führt. Rund 80% der Deutschen sind im Laufe des Lebens von Rückenleiden betroffen, ein erheblicher Teil davon leidet sogar längerfristig unter Rückenproblemen. Beeinflussbare Risikofaktoren für Rückenschmerz bieten eine große Chance für Präventionsmaßnahmen.

Fragestellung/Methoden: Ziel der Analyse ist die Abbildung der Prävalenz von chronischem Rückenschmerz bei Erwerbstätigen durch die Verknüpfung von Befragungs- mit Krankenkassendaten. Dabei soll die Übereinstimmung der subjektiven Angaben mit denen der KK-Daten überprüft werden und in Folge dessen die selbstberichtete Prävalenz um die sog. administrative Prävalenz ergänzt werden. Eingeschlossen werden alle Befragten, von denen Angaben zu beiden Befragungswellen vorliegen (n = 4.244). Rückenschmerz wurde über die Frage nach Schmerzen im oberen sowie im unteren Rücken in den letzten zwölf Monaten operationalisiert. Als chronisch wird der Rückenschmerz definiert, wenn die Befragten ihn sowohl in der ersten als auch in der zweiten Welle angeben. Für 1.031 Befragte können zudem die individuellen Krankenkassendaten der Jahre 2009 – 2013 mit den Befragungsdaten verknüpft werden. Rückenschmerz wird in den stationären (Haupt- und Nebendiagnose), ambulanten (Diagnose gesichert und Zustand nach) und Arbeitsunfähigkeitsdaten über den ICD10-Code M54 (‚Rückenschmerzen‘) abgebildet. Die administrative Prävalenz wird anhand der KK-Daten über alle drei Sektoren mittels zwei unterschiedlicher Definitionen gebildet. Def1: Chronischer Rückenschmerz liegt vor bei mindestens einer Nennung M54 in einem der Sektoren im gesamten Zeitraum. Def2: Chronischer Rückenschmerz liegt vor, wenn zwei Diagnosen in mindestens zwei Quartalen innerhalb von vier aufeinanderfolgenden Quartalen sektorenübergreifend vorkommen. Die Übereinstimmung der Angaben in den Primär- und Sekundärdaten wird mit Cohen‘s Kappa bestimmt. Auf Grund des fehlenden Goldstandards wird die Gesamtprävalenz als Summe aus der berichteten und der administrativen Prävalenz berechnet. Um mögliche Unterschiede zwischen den beiden Kohorten und Männern und Frauen auszuschließen, wird Kappa anschließend differenziert nach Kohortenzugehörigkeit und Geschlecht berechnet.

Ergebnisse: Die berichtete Prävalenz des chronischen Rückenschmerzes beträgt 55,4 % (n = 2.350). In den KK-Daten zeigt sich eine administrative Prävalenz von 14,2 % (n = 601) (Def1) bzw. 8,4 % (n = 357) (Def2). Cohen‘s Kappa ergibt eine geringe Übereinstimmung beider Datenquellen mit Werten von 0,233 (Def1) bzw. 0,184 (Def2). Durch das individuelle Datenlinkage können insgesamt 195 Personen (Def1) bzw. 101 Personen (Def2) zusätzlich zur berichteten Prävalenz bzgl. eines chronischen Rückenschmerzes identifiziert werden. Dagegen zeigt sich eine berichtete Prävalenz bei 190 Personen (Def1) bzw. 340 Personen (Def2), bei denen selbst keine Diagnose Rückenschmerz vorliegt. Die Gesamtprävalenz des chronischen Rückenschmerzes beträgt daher 60,0 % (n = 2.545) (Def1) bzw. 57,8 % (n = 2.451) (Def2). Differenziert nach Kohortenzugehörigkeit und Geschlecht unterscheiden sich die Kappawerte nur geringfügig.

Diskussion/praktische Implikationen: Die berichtete Prävalenz unterscheidet sich bei chronischem Rückenschmerz gravierend von der in KK-Daten abgebildeten Prävalenz. Die ärztliche Dokumentation von Rückenschmerz und das subjektive Empfinden zeigen bei niedrigen Werten von Cohen‘s Kappa nur minimale Übereinstimmungen. Zum einen berichten Personen von Rückenschmerz, auch ohne ihn von einem Arzt diagnostiziert bekommen zu haben oder er möglicherweise Folge anderer Krankheiten ist und daher nur als Nebendiagnose gestellt wird. Zum anderen bekommen Personen die Diagnose M54 gestellt, geben Rückenschmerz aber in der Primärerhebung nicht an, weil hier möglicherweise der Erinnerungsbias eine Rolle spielt oder andere Krankheiten präsenter sind. Die minimale Übereinstimmung weist auf einen Mehrgewinn durch ein Linkage von Primär- und Krankenkassendaten hin. Daher werden für weitere inhaltliche Analysen bezüglich chronischen Rückenschmerzes bei Erwerbstätigen die verknüpften Daten, die die Zielgruppe für spezifische Präventionsangebote klarer beschreiben, verwendet.