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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Störungen: Evidenz, S3-Leitlinen-Empfehlungen und Praxisperspektiven in Deutschland

Meeting Abstract

  • Uta Gühne - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Leipzig, Germany
  • Thomas Becker - Bezirkskrankenhaus Günzburg, Ulm, Germany
  • Steffi G. Riedel-Heller - Universität Leipzig, Leipzig, Germany
  • Stefan Weinmann - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Eschborn, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocP013

doi: 10.3205/17dkvf276, urn:nbn:de:0183-17dkvf2762

Published: September 26, 2017

© 2017 Gühne et al.
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Text

Hintergrund: Seit der Psychiatrie-Enquete hat sich die Versorgung psychisch und insbesondere chronisch psychisch kranker Menschen enorm verbessert. Versorgungs- und Behandlungsangebote sind vielfältiger denn je. Psychosoziale Interventionen stellen dabei neben somatischen und psychotherapeutischen Behandlungsansätzen eine weitere wichtige Säule in der Behandlung psychisch kranker Menschen dar.

Fragestellung: Die Herausgabe der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ ist als ein weiterer Meilenstein der Psychiatriereform bezeichnet worden. Doch welche Relevanz hat sie für die psychosoziale Versorgung schwer psychisch kranker Menschen? Folgende Fragestellungen werden dazu formuliert:

  • Welche Interventionen im Bereich der Systeminterventionen (z.B. gemeindepsychiatrische Ansätze wie Home Treatment) und im Bereich der Einzelinterventionen (z.B. Psychoedukation, Sport und Bewegung) sind evidenzbasiert?
  • Welche Interventionen wurden in das Update der Leitlinie neu aufgenommen?
  • Profitieren schwer psychisch Kranke in Deutschland angemessen von diesen internationalen Entwicklungen?
  • Wie ist das PsychVVG mit der Ermöglichung von sogenannten stationsäquivalenten Leistungen vor diesem Hintergrund zu bewerten?

Methode: Basierend auf systematischen Literaturrecherchen in verschiedenen großen Datenbanken, der Selektion relevanter Studien und deren qualitativer Bewertung mit Hilfe des Cochrane risk of bias tools und den Regeln der AWMF zur Erstellung von Leitlinien (Bildung einer repräsentativen Entwicklergruppe, systematische Evidenzbasierung und strukturierte Konsensusfindung) werden Ergebnisse der Leitlinie sowie ihres gegenwärtig laufenden Updates dargestellt. Im Rahmen der Leitlinienentwicklung werden immer wieder Bezüge zur hiesigen Versorgungslandschaft hergestellt.

Ergebnisse: Mit der S3-Leitline liegt erstmals eine systematische Aufbereitung der Evidenz zur Wirksamkeit psychosozialer Interventionen in der Behandlung schwer psychisch kranker Menschen für den deutschsprachigen Raum vor. Mittlerweile lässt sich eine Vielzahl an Belegen für die Effektivität verschiedener psychosozialer Interventionen finden. Ein Großteil der identifizierten Studien wurde im angloamerikanischen Raum durchgeführt; die Übertragbarkeit der Ergebnisse wird diskutiert. Gleichfalls wird deutlich, dass eine systematische Erfassung vorgehaltener bzw. in Anspruch genommener psychosozialer Interventionen kaum vorliegt. Erschwert wird dies u.a. durch die Fragmentierung der Versorgung und durch große regionale Unterschiede in der Versorgungslandschaft. Besondere Hoffnung im Hinblick auf das Empowerment von Patienten und ihren Angehörigen liegt in der Verbreitung der zugehörigen Patienten- und Angehörigenleitline.

Diskussion: Die Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ kann deshalb auch als ein „Grundgerüst sozialpsychiatrischer Versorgungsforschung“ betrachtet werden, indem sie die weißen Flecken auf der Forschungslandkarte illustriert und der dringend notwendigen psychosozialen Versorgungsforschung neue Impulse gibt. Aktuell muss von einer erheblichen Evidenz-Praxis-Lücke ausgegangen werden, so dass schwer psychisch Kranke nicht in ausreichendem Maße von psychosozialen Therapien profitieren. Um die Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten für die Betroffenen zu verbessern, bedarf es geeigneter Implementierungsstrategien, den Willen der Akteure und kluge gesundheitspolitische Entscheidungen. Auf ein beantragtes Implementierungsprojekt im Innovationsfonds wird verwiesen.

Praktische Implikationen: Erforderlich ist im Sinne einer besseren Behandlungsplanung Behandlungs- und Versorgungspotenziale (schwer) psychisch kranker Menschen systematisch zu erfassen, Evidenzlücken auf das deutsche Behandlungs- und Versorgungssystem bezogen, systematisch zu schließen und schließlich mit dem Ziel einer besseren Versorgung evidenzbasierte Ansätze stärker in die Praxis zu implementieren. Die Ermöglichung von stationsäquivalenten Leistungen nach dem neuen Psych VVG kann bei entsprechender Ausgestaltung ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein.