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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Trends in den Verordnungs- und Neuverordnungsraten und Charakterisierung der Empfänger

Meeting Abstract

  • Sascha Abbas - Universität zu Köln, PMV forschungsgruppe, Köln, Deutschland
  • Peter Ihle - Universität zu Köln, PMV forschungsgruppe, Köln, Deutschland
  • Jürgen-Bernhard Adler - Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Berlin, Deutschland
  • Susanne Engel - Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG), Hamburg, Deutschland
  • Christian Günster - Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Berlin, Deutschland
  • Roland Linder - Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG), Hamburg, Deutschland
  • Gerd Lehmkuhl - Universität zu Köln, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Köln, Deutschland
  • Ingrid Schubert - Universität zu Köln, PMV forschungsgruppe, Köln, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV17

doi: 10.3205/15dkvf034, urn:nbn:de:0183-15dkvf0345

Published: September 22, 2015

© 2015 Abbas et al.
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Text

Einleitung: Die Thematik „Psychopharmakaverordnungen an Kinder und Jugendliche“ wird in der (fach-) öffentlichen Diskussion dominiert von der Problematik der starken Verordnungszunahme von Methylphenidat seit den frühen 1990er Jahren. Inzwischen zeichnet sich bei der Verordnung von Antipsychotika an Kinder und Jugendliche eine den Anfängen der Methylphenidatverordnung vergleichbare Entwicklung ab, die es geboten erscheinen lässt, Verordnungsanlässe und Verordnungsweisen näher zu untersuchen.

Fragestellung: Ziel der Studie ist zum einen eine Trendanalyse der Verordnungshäufigkeit inkl. der Neuverordnungsrate von Antipsychotika zwischen 2004 bis 2012 und zum anderen die Charakterisierung der Kinder und Jugendlichen, die erstmals ein Antipsychotikum erhalten haben, bezüglich demographischer Angaben, ihrer Vormedikation und Morbidität.

Methode: Die Untersuchung basiert auf den bundesweiten Daten der Gesetzlichen Krankenkassen AOK und TK. Datenbasis sind die Grundgesamtheit (AOK) bzw. eine 50%-Stichprobe (TK) aller Kinder und Jugendlichen (0–17 Jahre), die zwischen 2004 und 2012 versichert waren. Die für die Analyse verfügbare Zahl der im Jahr 2012 durchgängig versicherten Kinder und Jugendlichen liegt bei 3,57 Millionen in der AOK und 0,72 Millionen Versicherten der TK. Die Daten der TK wurden auf Grund der 50%-Stichprobe zweifach gewichtet.

Prävalenzen für ausgewählte Antipsychotika wurden als Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit mindestens einer Verordnung im jeweiligen Jahr bezogen auf die durchgängig versicherten Kinder und Jugendlichen des jeweiligen Jahres angegeben. Für die Bestimmung der Inzidenzen wurde auf Kinder und Jugendliche ohne eine entsprechende Verordnung in den beiden Vorjahren eingeschränkt.

Ergebnisse: Die Verordnungsprävalenz von Antipsychotika hat von 2,3 pro 1.000 in 2004 auf 3,1 pro 1.000 Kinder und Jugendliche im Jahr 2012 zugenommen. Dieser Anstieg ist vor allem auf eine Zunahme an Verordnungen der sogenannten neueren atypischen Antipsychotika zurückzuführen bei überwiegend gleichbleibender Verordnungshäufigkeit der klassischen Antipsychotika. Die jährliche Neuverordnungsrate ist dagegen über die Jahre verhältnismäßig konstant (zwischen1,0 Promille im Jahr 2006 und 1,1 Promille im Jahr 2012).

Mädchen erhalten eine erstmalige Verordnung zu 60% im Alter zwischen 14 und 17 Jahren, bei den Jungen verteilen sich die Altersgruppen zu etwa gleichen Anteilen auf die 7- bis 10-, 11- bis 13- und 14- bis 17-Jährigen.

Die Hälfte der Kinder und Jugendlichen wird bereits vor der ersten Antipsychotikaverordnung mit anderen Psychopharmaka behandelt. Hier dominieren bei den Mädchen gleichermaßen Antidepressiva und Stimulanzien, bei den Jungen die Stimulanzien.

Bei Kindern mit Verordnung eines Antipsychotikums lag im Jahr vor Erstbehandlung in 10% eine Intelligenzstörung und in nur 3% eine Schizophrenie bzw. schizotype oder wahnhafte Störung vor, die die Hauptindikationen zur Verordnung eines Antipsychotikums darstellen. Häufige Diagnosen waren daneben eine hyperkinetische Störung (36%), Entwicklungsstörungen (33%), neurotische Belastungs- und somatoformen Störungen (18%), bei Mädchen affektive Störungen (16%) sowie Störungen des Sozialverhaltens (14%).

Diskussion: Der Anstieg der Prävalenz bei relativ konstanter Inzidenz lässt den Rückschluss zu, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie einmal eingestellt wurden, im Laufe der Jahre über einen längeren Zeitraum mit Antipsychotika behandelt werden.

Kinder und Jugendliche mit erstmaliger Antipsychotikaverordnung weisen zu hohen Anteilen Vormedikationen mit anderen Psychopharmaka sowie ein breites Spektrum an psychischen Erkrankungen auf. Dabei zeigt sich ein hoher Anteil mit psychiatrischen Diagnosen außerhalb des Zulassungsspektrums im Jahr vor Erstbehandlung.

Auch wenn aus den Daten nicht eindeutig auf die Indikationsstellung geschlossen werden kann, legen die Ergebnisse den Verdacht nahe, dass die Verordnung in nicht unbeträchtlichem Maße außerhalb der Zulassung erfolgt. Weitere Studien sind notwendig, um gezielt Verordnungsgründe zu erheben und alternative Behandlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Praktische Implikationen: Um die Ärzte in der Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher zu unterstützen, bedarf es guter methodischer Studien, die dann ihrerseits in Leitlinienempfehlungen einfließen können. Insbesondere vor dem Hintergrund der bekannten unerwünschten und teils schwerwiegenden Arzneimittelnebenwirkungen sollte die Verordnung von Antipsychotika durch geschulte Ärzte und mit einem engmaschigen Monitoring der Wirkungen und Nebenwirkungen erfolgen. Vergleichbar den Verordnungseinschränkungen bei Methylphenidat könnte der Kreis der verordnenden Arztgruppen eingeschränkt werden. Parallel sind therapeutische Hilfsangebote notwendig, die für die betroffenen Familien erreichbar sind.