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32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

24.09. - 27.09.2015, Oldenburg

AVWS-Diagnostik bei Jugendlichen

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Susanne Wagner - Berufsbildungswerk Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Lissy Rinneberg-Schmidt - Berufsbildungswerk Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Grit Franke - Berufsbildungswerk Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Michael Fuchs - Sektion Phoniatrie und Audiologie, Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Birke Peter - Sektion Phoniatrie und Audiologie, Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Sylvia Meuret - Sektion Phoniatrie und Audiologie, Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Oldenburg, 24.-27.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. Doc08

doi: 10.3205/15dgpp55, urn:nbn:de:0183-15dgpp553

Published: September 7, 2015

© 2015 Wagner et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Am Berufsbildungswerk (BBW) Leipzig hatten Ende 2014 mehr als 50 Jugendliche (ca. 15%) aus Berufsvorbereitung und Erstausbildung den Akten-Vermerk „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)“. Für die AVWS-Diagnostik im Jugend- bzw. jungen Erwachsenenalter gibt es allerdings bislang keine etablierte Testbatterie, und die persistierenden AVWS von Jugendlichen sind kaum untersucht. Das Projekt „Zentral-auditiv bedingte Sprachstörungen bei Jugendlichen – Diagnostik und Förderung für den beruflichen Bildungsweg (ZASS)“ am BBW Leipzig soll helfen, die Situation für Jugendliche mit AVWS zu verbessern.

Material und Methoden: 41 Jugendliche aus verschiedenen Bildungsmaßnahmen des BBW Leipzig wurden in die Studie eingeschlossen. Alle Jugendlichen hatten eine Normakusis, 29/41 hatten den Akten-Vermerk „AVWS“. Die Testung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung umfasste dichotisches Hören, Hören im Störgeräusch, zeitkomprimierte Sprache, Phonem-Differenzierung und -Analyse sowie das auditive Gedächtnis. Zusätzlich wurden sprachfreie Intelligenz, Konzentration, visuelle Merkspanne und das Sprachsystem (Lexikon, Morphologie, Syntax) untersucht.

Ergebnisse: Die deskriptive Analyse der Test-Ergebnisse liefert deutliche Hinweise auf Störungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung bei Jugendlichen, vor allem in Verbindung mit komorbiden bzw. differentialdiagnostisch relevanten Störungsbildern.

Diskussion: Jugendliche mit Störungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung können einen erheblichen Förderbedarf im Bereich der (beruflichen) Bildung haben. Der adäquaten individuellen Förderung steht derzeit entgegen, dass es im deutschsprachigen Raum keine diagnostischen Verfahren gibt, mit denen der Förderbedarf grundsätzlich ermittelt und differenziert beschrieben werden kann.

Fazit: Für die individuelle Förderung und Bereitstellung entsprechender Ressourcen müssen Verfahren zur Erfassung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung für Jugendliche entwickelt werden.


Text

Hintergrund

Das Berufsbildungswerk (BBW) Leipzig ist spezialisiert auf die berufliche Bildung von Jugendlichen mit Hör-, Sprach- und Lernbehinderungen. Ende 2014 hatten am BBW Leipzig mehr als 50 Jugendliche (ca. 15%) den Akten-Vermerk „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)“. Für die Förderung dieser Jugendlichen ist vor allem problematisch, dass man über AVWS bei Jugendlichen bisher nur wenig weiß. Auch gibt es bislang für den deutschsprachigen Raum keine AVWS-Testbatterie für das Jugend- bzw. junge Erwachsenenalter mit der man erfassen könnte, ob und in welchem Umfang AVWS bei Jugendlichen bestehen (aber vgl. Keith [engl.] [1]; Neijenhuis et al. [niederl.] [2]). Das Projekt „Zentral-auditiv bedingte Sprachstörungen bei Jugendlichen – Diagnostik und Förderung für den beruflichen Bildungsweg (ZASS)“ am BBW Leipzig soll helfen, die Situation für Jugendliche mit AVWS zu verbessern. Eine erste Studie wurde durchgeführt um zu ermitteln, welche Auffälligkeiten im Bereich der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung bei den Jugendlichen im BBW generell auftreten.

Material und Methoden

41 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16–28 Jahren (30 männlich, 11 weiblich) aus verschiedenen Bildungsmaßnahmen des BBW Leipzig wurden in die Studie eingeschlossen. Alle Jugendlichen hatten eine Normakusis. 29/41 hatten einen Akten-Vermerk „AVWS“, allerdings lag nur für 14 Jugendliche eine per Befund oder Gutachten abgesicherte AVWS-Diagnose aus der Kindheit vor. Weitere Diagnosen aus der Kindheit waren Sprachentwicklungsstörung, Lese-Rechtschreib-Problem, Autismus, ADHS, Stottern bzw. Poltern, Epilepsie, Körperbehinderung, Konzentrationsstörung und Lernbehinderung.

Für die Testung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung wurde wegen des Fehlens altersnormierter Testverfahren auf Verfahren aus der AVWS-Kinder-Diagnostik zurückgegriffen. Getestet wurden dichotisches Hören [3], [4], Hören im Störgeräusch [5], zeitkomprimierte Sprache [6], Phonem-Differenzierung und -Analyse [7]. Zusätzlich wurden sprachfreie Intelligenz, Konzentration, die visuelle Merkspanne und das verbale Arbeitsgedächtnis untersucht. Das Sprachsystem wurde auf den Ebenen Lexikon, Morphologie und Syntax getestet [8], [9].

Ergebnisse

Bei 36 der 41 Jugendlichen zeigten sich mit der Kinder-Testbatterie Teilleistungsstörungen in mindestens 2 Bereichen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung, nur 5 Jugendliche hatten nur eine oder keine Auffälligkeiten. Von den 5 unauffälligen Jugendlichen hatte 1 einen Aktenvermerk AVWS und 1 eine abgesicherte AVWS-Diagnose aus der Kindheit. Von den 36 Jugendlichen mit Auffälligkeiten in der AVW hatten 10 einen nonverbalen IQ von <85. 5 Jugendliche hatten eine Stottern/Poltern-Diagnose, 2 eine Autismus-Diagnose und 1 Jugendlicher eine ADHS-Diagnose. Bei 22 der 36 Jugendlichen mit AVW-Teilleistungsstörungen wurden außerdem Restsymptome einer Sprachentwicklungsstörung (SES) festgestellt. Nur 1 Jugendlicher hatte Restsymptome einer SES ohne Auffälligkeiten im Bereich AVW.

In der deskriptiven Detail-Analyse zeigte sich, dass beim Richtungshören 31/36 Jugendlichen mit AVWS auffällig waren, dichotisches Hören bereitete 22/36 Jugendlichen Probleme, und 16/36 Jugendlichen hatten Probleme mit dem Verstehen im Störgeräusch. 16 Jugendliche hatten Probleme mit der auditiven Differenzierung, 11 mit der auditiven Analyse. Ebenfalls 11 der 36 Jugendlichen waren beim schnellen Benennen von Bildern, Zahlen und Buchstaben auffällig. Persistierende Probleme im Bereich der Syntax und Morphologie zeigten sich bei 9 bzw. 12 Jugendlichen. Beim Memorieren und Nachsprechen von Pseudowörtern waren 12 von 36 Jugendlichen unterhalb der Norm. Das Behalten und Nachsprechen von sinnvollen Sätzen bzw. Sätzen mit Nonsens-Wörtern fiel 19/36 bzw. 25/36 Jugendlichen besonders schwer.

Diskussion

Für die Förderung der Jugendlichen im Ausbildungsalltag ist die Beschreibung der konkreten AVW-bezogenen Probleme besonders wichtig. Hier kann die eingesetzte Testbatterie trotz ihrer Limitierungen bereits wertvolle Hinweise liefern. So deuten die Ergebnisse beim Memorieren und Nachsprechen von Pseudowörtern und sinnvollen bzw. sinnlosen Sätzen auf Probleme im Bereich des verbalen Arbeitsgedächtnisses hin, die mit den Anforderungen im morphologisch-syntaktischen Bereich wachsen. Die Ergebnisse im Bereich des Wortabrufs könnten ein Hinweis darauf sein, dass eine zu langsame Verarbeitungsgeschwindigkeit im mentalen Lexikon die auditive Verarbeitung und Wahrnehmung behindern kann. Allerdings kann von einer Sprachproduktionsaufgabe nur begrenzt auf das Sprachverstehen geschlossen werden. Hier wäre ein rezeptiver Test aussagekräftiger.

Probleme beim Richtungshören, dem Verstehen im Störgeräusch und beim dichotischen Hören treten im Rahmen von unspezifischen AVWS bei Jugendlichen offenbar recht häufig auf. Auch bei Jugendlichen mit einem IQ < 85 zeigten sich Probleme mit dem Sprachverstehen im Störschall (6/10) und mit dem dichotischen Hören (7/10).

Fazit

Die deskriptive Analyse der Daten zeigt, dass nicht nur Kinder, sondern auch Jugendliche und junge Erwachsene Probleme mit der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung haben können. Für die individuelle Förderung und Bereitstellung entsprechender Ressourcen sollten Verfahren zur detaillierten Erfassung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung für Jugendliche entwickelt werden.


Literatur

1.
Keith, RW. SCAN-3:A. Tests for Auditory Processing Disorders in Adolescents and Adults (SCAN-3:A). Pearson; 2009.
2.
Neijenhuis K, Snik A, van den Broek P. Auditory processing disorders in adults and children: evaluation of a test battery. Int J Audiol. 2003;42(7):391-400. DOI: 10.3109/14992020309080048 External link
3.
Feldmann H. Dichotischer Diskriminationstest, eine neue Methode zur Diagnostik zentraler Hörstörungen. Arch Klin Exp Ohren Nasen Kehlkopfheilkd.1965;184(4):294-329.
4.
Berger R, Demirakca T. Vergleich zwischen dem alten und neuen Auswertemodus im dichotischen Diskriminationstest. HNO. 2000;48(5):390-3. DOI: 10.1007/s001060050586 External link
5.
Hahlbrock KH. Sprachaudiometrie: Grundlagen und praktische Anwendung einer Sprachaudiometrie für das deutsche Sprachgebiet. Stuttgart: Thieme; 1957.
6.
Nickisch A. Hörtest mit zeitkomprimierter Sprache für Kinder. Wertingen: Westra Elektroakustik; 2000.
7.
Brunner M, Seibert A, Dierks A, Körkel B. Heidelberger Lautdifferenzierungstest (HLAD). Wertingen: Westra Elektroakustik; 1998.
8.
Berufsbildungswerk Leipzig, Hrsg. Leipziger Testbatterie zur Messung des formal-sprachlichen Entwicklungsstandes bei Jugendlichen (LTB-J). Leipzig; 2008.
9.
Fox AV, Hrsg. TROG-D. Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses. Idstein: Schulz-Kirchner; 2013.