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31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

18.09. - 21.09.2014, Lübeck

Ist das eingeschränkte, kindliche auditive Arbeitsgedächtnis trainierbar?

Vortrag

  • author presenting/speaker Monika Nürk - HNO-Universitätsklinik Heidelberg Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • author Nicole Stuhrmann - HNO-Universitätsklinik Heidelberg Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • author Peter K. Plinkert - HNO-Universitätsklinik Heidelberg Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • corresponding author Monika Brunner - HNO-Universitätsklinik Heidelberg, Heidelberg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Akademie für Hörgeräte-Akustik. 31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik. Lübeck, 18.-21.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocV6

doi: 10.3205/14dgpp09, urn:nbn:de:0183-14dgpp097

Published: September 2, 2014

© 2014 Nürk et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Das auditive Arbeitsgedächtnis wird im Rahmen der Diagnostik von auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen und Lese-Rechtschreibstörungen getestet und bei Auffälligkeit logopädisch trainiert. Da das auditive Arbeitsgedächtnis nicht nur der auditiven Wahrnehmung, sondern auch der Kognition zugeordnet wird, ist seine Beübbarkeit umstritten. In unserer Abteilung mehrfach getestete Kinder fielen durch ein therapieresistentes, eingeschränktes auditives Arbeitsgedächtnis auf.

Material und Methoden: In einer retrospektiven Studie wurde der Verlauf der Entwicklung des Zahlenfolgegedächtnisses (ZFG) unter Therapie untersucht. Das ZFG wurde mittels des Untertests Zahlennachsprechen aus dem K-ABC oder des Untertests auditive Merkspanne aus dem HVS getestet. Kriterien zum Einschluss waren: mindestens ein klinisch auffälliger Wert (ZFG Prozentrang (PR) K-ABC ≤16, PR auditive Merkspanne HVS≤18) und mindestens zwei Messungen. Eingeschlossen wurden 112 Kinder mit insgesamt 346 Messungen. Der durchschnittliche Beobachtungszeitraum betrug 34,7 Monate.

Ergebnisse: Im T-Test für Mittelwertsvergleiche zeigt sich kein signifikanter Unterschied zwischen dem Mittelwert des ZFG vor, bzw. nach logopädischem Training (p=0,52). Der Mittelwert des ZFG bei Erstmessung lag bei PR 13,8 (SD 12,6), bei abschließender Messung bei PR 14,9 (SD 14). Der Median bei Erstmessung lag bei PR 10 (IQR 13), bei abschließender Messung bei PR 9 (IQR 17,25). Trotz Therapie kommt es zu keiner signifikanten Verbesserung des Zahlenfolgegedächtnisses. Der Wert bleibt im klinisch auffälligen Bereich.

Diskussion: Bislang angewandte Therapiekonzepte sollten überdacht werden und mehr Energie in Kompensationsstrategien fließen.

Fazit: Die Ergebnisse unterstützen eine Zuordnung des auditiven Arbeitsgedächtnisses zur Kognition. Die Erfassung des auditiven Arbeitsgedächtnisses sollte in der Diagnostik der AVWS einen extra Stellenwert erhalten.


Text

Hintergrund

Das Zahlenfolgegedächtnis (ZFG) ist Teil des seriellen, auditiven Kurzzeitgedächtnisses. Das Kurzzeitgedächtnis dient zur Speicherung von Ausgangsinformationen und Zwischenergebnissen und deren Verarbeitung. Dieser Teil des Kurzzeitgedächtnisses wird auch als „Arbeitsgedächtnis“ bezeichnet [1], [2]. Nach dem Modell von Baddeley werden für das Arbeitsgedächtnis verschiedene Komponenten angenommen (zentrale Exekutive, visueller Skizzenblock, phonologische Schleife). Mit der Überprüfung des ZFG wird eine Komponente des auditiven Arbeitsgedächtnises getestet, die artikulatorische oder phonologische Schleife. Eine Einschränkung des ZFG, bzw. des auditiven Arbeitsspeichers hat Auswirkungen auf die auditive Verarbeitung und Wahrnehmung, sowie das Erlernen von Sprache und schulischen Fertigkeiten [3], [4], [5]. Das ZFG wird in Deutschland im Rahmen der Diagnostik zur auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) getestet und bei Auffälligkeit logopädisch trainiert. Empfohlen wird eine Anleitung zu sinnvollen Strategien zur Verbesserung der Zeitspanne, die ein Kind verbale Informationen halten kann, z.B. in Form von Nachsprechen oder innerem Wiederholen und Bildung von Blöcken sprachlicher Information (chunking), oder multimodaler Darbietung [6]. Da das ZFG, bzw. der auditive Arbeitsspeicher der Intelligenz zugerechnet wird, ist seine Beübbarkeit umstritten [7]. In unserer Abteilung mehrfach getestete Kinder fielen durch ein therapieresistentes, eingeschränktes auditives Arbeitsgedächtnis auf.

Methode

Retrospektiv wurden Daten von 112 Kindern unserer Abteilung aus den Jahren 2005–2014 ausgewertet, bei denen das ZFG mehrfach getestet wurde. Wir beziehen uns auf die Ergebnisse der logopädischen und psychologischen Diagnostik, die im Rahmen der AVWS-, bzw. Legasthenieabklärung durchgeführt wurde. Die Testung des Zahlenfolgegedächtnisses erfolgte mittels des Untertests „Zahlennachsprechen“ aus der KAUFMAN-Assessment Battery for Children (K-ABC), bzw. mittels des Untertests „auditive Merkspanne“ aus dem Heidelberger Vorschulscreening (HVS). Kriterium zum Einschluss war mindestens ein klinisch auffälliger Wert (Prozentrang (PR) ZFG K-ABC ≤16, PR auditive Merkspanne HVS≤18) und mindestens zwei Messungen. Eingeschlossen wurden 112 Kinder mit insgesamt 346 Messungen. Der durchschnittliche Beobachtungszeitraum betrug 34,7 Monate. Wir gehen davon aus, dass alle Kinder die empfohlene logopädische Therapie erhalten haben, bei 46% der Kinder lag ein Therapiebericht mit bestätigter Therapie der auditiven Merkspanne vor. Die Werte dieser Kinder wurden zusätzlich getrennt betrachtet.

Des Weiteren wurden erhoben: das Vorliegen einer Sprachentwicklungsstörung (SES), einer Konzentrationsauffälligkeit oder einer Leserechtschreibschwäche (LRS), das Geschlecht, sowie der sprachfreie Intelligenzquotient (IQ). Das Vorliegen einer SES, sowie einer Konzentrationsauffälligkeit wurde aus den vorliegenden logopädischen, psychologischen und ärztlichen Befunden entnommen. Das Vorliegen einer LRS wurde anhand der vorliegenden Ergebnisse des Diagnostischen Rechtreibtests (DRT), bzw. der Hamburger Rechtschreibprobe (HSP) und des Leseverständnistests für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1-6) bewertet. Der sprachfreie IQ wurde den vorliegenden psychologischen Testungen mittels Grundintelligenztest CFT1,1-R, 20, 20-R, der deutschen Adaptation des Cultur fair intelligence tests (CFT), entnommen.

Ergebnisse

Im T-Test für Mittelwertsvergleiche zeigt sich kein signifikanter Unterschied zwischen dem Mittelwert des ZFG vor, bzw. nach logopädischem Training (p=0,52). Der Mittelwert des ZFG bei Erstmessung lag bei PR 13,8 (SD 12,6), bei abschließender Messung bei PR 14,9 (SD 14) (Abbildung 1 [Abb. 1]). Der Median bei Erstmessung lag bei PR 10 (IQR 13), bei abschließender Messung bei PR 9 (IQR 17,25). Bei den Kindern mit schriftlich bestätigtem Training der auditiven Merkspanne lag der Mittelwert des ZFG bei Erstmessung bei 13,3 (SD 12,6), bei abschließender Messung bei 14,4 (SD 14,5). Trotz Therapie kommt es zu keiner signifikanten Verbesserung des Zahlenfolgegedächtnisses. Der Wert bleibt im klinisch auffälligen Bereich.

Eine SES lag bei 89%, eine Konzentrationsauffälligkeiten bei 29% und eine LRS bei 60% der Kinder vor. Der Mittelwert des sprachfreien IQs lag bei 101. Die Berechnung der Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren und der Veränderung des ZFG erfolgte mittels eines gemischten linearen Modells mit dem Statistikprogramm SAS. Hierbei zeigt sich eine geringfügige, aber signifikante Verbesserung des ZFG bei höheren Intelligenzwerten (p<0,0008).

Diskussion

Es zeigt sich nur eine geringfügige Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Zahlenfolgegedächtnisses. Zu diskutieren ist, ob dies an der Therapierbarkeit oder an den angewandten Therapieformen liegt. Bislang angewandte Therapiekonzepte scheinen überdacht und in kontrollierten Studien überprüft werden zu müssen. Eine Verbesserung der Kinder mit höheren IQ-Werten könnte darauf hinweisen, dass eher Kompensationsstrategien erarbeitet werden sollten, als das serielle Gedächtnis durch Folgenwiedergeben zu trainieren. Die Ergebnisse unterstützen eine Zuordnung des phonologischen Arbeitsgedächtnisses zur Kognition, deshalb sollte die Erfassung des auditiven Arbeitsgedächtnisses in der Diagnostik der AVWS einen extra Stellenwert erhalten.


Literatur

1.
Baddeley AD, ed. Human memory – theory and practice. London: LEA Publ.; 1990.
2.
Baddeley AD. Working Memory. Oxford University Press; 1989.
3.
Hasselhorn M, Grube D. Das Arbeitsgedächtnis: Funktionsweise, Entwicklung und Bedeutung für kognitive Leistungsstörungen. Sprache Stimme Gehör. 2003;27:31-7. DOI: 10.1055/s-2003-37875 External link
4.
Ptok M, Berendes K, Gottal S, Grabherr B, Schneeberg J, Wittler M. Lese-Rechtschreib-Störung: Die Bedeutung der phonologischen Informationsverarbeitung für den Schriftspracherwerb. HNO. 2007;55(9):737-48. DOI: 10.1007/s00106-007-1596-7 External link
5.
Schöler H, Brunner M. HASE: Heidelberger auditives Screening in der Einschulungsuntersuchung. Edition 2. Binswangen: Verlag Westra Elektroakustik; 2008.
6.
Ptok M, am Zehnhoff-Dinnesen A, Nickisch A. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen – Definition. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. HNO. 2010;58(6):617-20. DOI: 10.1007/s00106-010-2116-8 External link
7.
Lauer N, Evidenzbasierte Betrachtung auditiver Verarbeitungsstörungen. Forum Logopädie. 2014;28(1):6-14.