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29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

21.09. - 23.09.2012, Bonn

Zur Möglichkeit eines zweiten Hörscreenings im Rahmen der Früherkennungsuntersuchung U6 mit dem LittlEARS® (MED-EL)-Hörfragebogen

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bonn, 21.-23.09.2012. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2012. Doc12dgppP7

doi: 10.3205/12dgpp14, urn:nbn:de:0183-12dgpp149

Published: September 6, 2012

© 2012 Coninx et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Mit Einführung des Neonatalen Hörscreenings (NHS) im Jahr 2009 in Deutschland wurde die Möglichkeit geschaffen, angeborene Hörstörungen bei Kindern zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erfassen. Ein unauffälliges Hörscreening bedeutet jedoch nicht, dass eine „Hörgarantie“ für die gesamte Kindheit besteht, denn Kinder mit progredienten oder late-onset Hörstörungen können nur durch wiederholte Untersuchungen zu einem späteren Zeitpunkt identifiziert werden. Des Weiteren müssen Strategien für Kinder entwickelt werden, die aus verschiedenen Gründen nicht am NHS teilgenommen oder nach einem positiven Screeningbefund Folgeuntersuchungen nicht wahrgenommen haben (lost to follow-up).

Material und Methoden: Inhalt der Studie ist die Untersuchung der Machbarkeit eines zweiten Hörscreenings für Kinder im Alter von etwa 12 Monaten mittels Elternfragebögen. Als Screeninginstrument wurde der LittlEARS-Fragebogen ausgewählt. Es wurde ein zweistufiges Fragebogenscreening entwickelt, das in Kooperation mit zahlreichen Kinderarztpraxen im Raum NRW in die Früherkennungsuntersuchung U6 integriert wurde.

Ergebnisse: Im Laufe von 3 Jahren wurden insgesamt 5320 Fragebögen erhoben (2007–2009). Mithilfe des Fragebogenscreenings konnten 6 Kinder mit einer permanenten Hörstörung identifiziert werden. Das Langzeit-follow-up nach 3 Jahren ergab, dass sich unter den auffälligen Kindern der ersten Screeningstufe auch viele Kinder mit rezidivierenden Otitiden innerhalb des ersten Lebensjahres befanden, ebenso wie Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, Sprachentwicklungsstörungen, kognitiven Einschränkungen oder Autismusspektrumstörungen.

Diskussion: Die Untersuchung zeigt, dass LittlEARS in Kinderarztpraxen als ein zweites Hörscreening eingesetzt werden kann. Der Fragebogen ist nicht allein sensibel für Hörstörungen, sondern auch für andere Entwicklungsstörungen, so dass durch das Screening auch weitere Auffälligkeiten früh identifiziert werden können. Mit einer elektronischen Version von LittlEARS könnte der Zugang zu dem Screening auch vielen weiteren Institutionen und Privatpersonen eröffnet werden.


Text

Einleitung und Hintergrund

Für die Untersuchung der Hörfähigkeit bei Kindern stehen nur sehr wenige Verfahren zur Verfügung, die auch für den Einsatz im prälingualen Altersbereich geeignet sind und in Kinderarztpraxen im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen durchgeführt werden können. Die klassische Messung von Hörschwellen per Tonaudiogramm kann bei Kleinkindern (<3 Jahre) nur eingeschränkt sichere Ergebnisse liefern und ist stets abhängig von der Erfahrung und Interpretation des Untersuchers. Der Einsatz objektiver Verfahren wie die Ableitung von otoakustischen Emissionen (OAE) oder von frühen Hirnstammpotentialen (AEP) kann aus wirtschaftlichen und organisatorischen Gründen nicht als ein zweites flächendeckendes Hörscreening in Kinderarztpraxen eingesetzt werden. Erst ab einem Alter von etwa zwei Jahren ist die Sprachentwicklung ein wichtiges Beurteilungskriterium für die Funktionalität des Hörens.

Ein Hörscreening- oder Hörtestverfahren muss bei Kindern in den ersten 3 Lebensjahren zeitlich kurz, einfach und vertraut sein, da die Aufmerksamkeitsspanne meist noch sehr kurz ist und das Test-Setting von der täglichen Lebenssituation des Kindes abweicht. Der Einsatz von Elternfragebögen bietet daher eine echte Alternative und/ oder Ergänzungsmöglichkeit zu den gängigen klinischen Testverfahren.

Untersuchungen haben darüber hinaus gezeigt, dass Eltern häufig die ersten sind, die auffällige oder ausbleibende Hörreaktionen bei ihren Kindern bemerken. Vor der Einführung des Neugeborenenhörscreenings (NHS) im Jahr 2009 wurde der erste Verdacht einer Hörstörung in etwa 73% der Fälle von den Eltern geäußert [1].

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit dem Einsatz des Elternfragebogens LittlEARS® (MED-EL) als Hörscreeninginstrument in Kinderarztpraxen. Das Pilotprojekt fand in den Jahren 2007–2009 in Nordrheinwestfalen in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) Nordrhein statt. Das Hörscreening wurde bei der Früherkennungsuntersuchung U6 erprobt [2], [3], [4].

Material

Der LittlEARS®-Hörfragebogen (LittlEARS Auditory Questionnaire, LEAQ) ist ein Elternfragebogen mit 35 Ja/Nein-Fragen, der für den Altersbereich von 0–24 Monaten normiert wurde und innerhalb von 5–10 Minuten ausgefüllt werden kann. Mit dem LEAQ kann die auditive Entwicklung des Kindes eingeschätzt werden. Je mehr Verhaltensweisen das Kind zeigt, welche durch den LEAQ abgefragt werden, desto höher fällt der Score des Fragebogens aus. Die Fragen sind in dem Fragebogen chronologisch, d.h. mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad angeordnet. Der LEAQ findet seinen Einsatzbereich auch in der Evaluation der auditiven Entwicklung von Kindern mit Hörgeräten und Cochlea Implantaten im Vergleich zu guthörenden Kindern [5], [6].

Abbildung 1 [Abb. 1] zeigt einen Ausschnitt aus dem LEAQ (exemplarisch wurden die Fragen 9–11 ausgewählt). Um den Eltern das Ausfüllen des Fragebogens zu erleichtern, findet sich auf der rechten Seite des Bogens zu einem Großteil der Fragen ein konkretes Beispiel zu der jeweiligen Hörsituation.

Methode

An dem Pilotprojekt nahmen 50 Kinderärzte aus Nordrhein-Westfalen teil. Über einen Zeitraum von etwa 3 Jahren konnten bei 5320 Kindern im Alter von 9–14 Monaten LittlEARS®-Fragebögen erhoben werden [2], [3], [4]).

Der LittlEARS-Fragebogen wurde in der Kinderarztpraxis an der Anmeldung an die Eltern ausgeteilt, die diesen während der Wartezeit ausfüllen sollten. Von einem auffälligen Screeningbefund wurde dann ausgegangen, wenn das Kind den Normwert um zwei Standardabweichungen unterschritt. Das Ergebnis des Fragebogens wurde von der Assistentin des Kinderarztes ermittelt. Sofern das Kind einen auffälligen Screeningbefund aufwies, wurden der LEAQ erneut und zwei weitere Screeningfragebögen zu den Themen Sprechen und Kommunikation an die Eltern ausgeteilt, welche sie zu Hause ausfüllen und anschließend an das Institut für Audiopädagogik in Solingen weiterleiten sollten. War das Ergebnis der drei Fragebögen wiederholt auffällig, so wurde seitens des Kinderarztes eine weiterführende Diagnostik oder eine Überweisung an einen Pädaudiologen eingeleitet [2], [3], [4].

Ergebnisse

Bei 189 der 5320 LEAQ-Bögen wurde ein auffälliges Ergebnis festgestellt. Aus der Gruppe der 189 auffälligen Kinder konnten 6 Kinder mit einer permanenten Hörstörung ermittelt werden [3], [4]. Dies entspricht der zu erwartenden Prävalenz von Hörstörungen von 0,1–0,2% bei Kindern.

Drei Jahre nach Abschluss der Datensammlung wurde eine follow-up-Untersuchung derjenigen Kinder aus den Kinderarztpraxen unternommen, die ein auffälliges Screeningergebnis aufgewiesen haben, aber nicht von einer Hörstörung betroffen waren. Die schriftliche Befragung der Kinderärzte ergab, dass einige dieser ehemals auffälligen Kinder Entwicklungsverzögerungen, Sprachentwicklungsstörungen, kognitive Einschränkungen oder Autismusspektrumstörungen entwickelt hatten, welche ebenfalls mit einer verzögerten frühen Hör- und Kommunikationsentwicklung einhergehen können [3], [4], s. Abbildung 2 [Abb. 2]).

Eine Übersicht über die Ergebnisse des follow-up nach drei Jahren bietet Abbildung 2 [Abb. 2].

Diskussion und Fazit

Die Ergebnisse des Pilotprojekts legen nahe, dass der LEAQ als ein zweites Hörscreening in niedergelassenen Kinderarztpraxen im Rahmen der Früherkennungsuntersuchung U6 erfolgreich eingesetzt werden kann. Vermutlich können mit LEAQ nicht allein Kinder mit Hörstörungen identifiziert werden, sondern auch solche, die andere Entwicklungsauffälligkeiten aufweisen, die mit einer verzögerten oder gestörten auditiven Entwicklung assoziiert werden können [3], [4]. LEAQ kann auch bei älteren Kindern (bis zu 36 Monate) als Screeninginstrument eingesetzt werden, da auch dann nur Maximalwerte erreicht werden [7].

Mehr als 20% der Kinderärzte, die an dem Pilotprojekt teilgenommen haben, geben den LEAQ auch heute weiterhin bei der Früherkennungsuntersuchung U6 an Eltern aus. Eltern gaben nach Abschluss des Projekts positive Rückmeldung, da sie sich in den Prozess der Beurteilung der Entwicklung ihrer Kinder besser involviert fühlten [2], [4].

Der Fragebogen kann mittlerweile auch als elektronische Version in mehr als 15 Sprachen eingesetzt werden, was die altersabhängige Auswertung erleichtert und einen Zugang über Computer und Internet ermöglicht.


Literatur

1.
Hildmann A. Versorgung bei neonatalen Hörstörungen. In: Dudenhausen JW, Gortner L, Hrsg. Hören und Entwicklung. Risikoerkennung bei Neugeborenen. Ein Leitfaden der Stiftung für das behinderte Kind zur Förderung von Vorsorge und Früherkennung. Frankfurt/ Main: MedizinischeVerlagswelt Umwelt und Medizin mbH; 1998.
2.
Coninx F, Fischbach T. Zweites Hörscreening im Alter von 12 Monaten – die Verwendung von LittlEARS als Screeningfragebogen. In: 25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Düsseldorf, 12.-14.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. Doc08dgppV22. Available from: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2008/08dgpp26.shtml External link
3.
Coninx F, Schäfer K, Offei Y. Ein zweites Hörscreening für Kinder in den ersten drei Lebensjahren mit dem LittlEARS® (MED-EL)-Elternfragebogen. Tagungs-CD. In: Deutsche Gesellschaft für Audiologie (DGA). 15. Jahrestagung 2012, Erlangen, 05.-07. März 2012.
4.
Schäfer K. Screening mit LittlEARS® (MED-EL) - Eine empirische Untersuchung zur Möglichkeit eines zweiten Hörscreenings für Kinder im Alter von 10-12 Monaten im Rahmen der Früherkennungsuntersuchung U6 [Unveröffentlichte Dissertation]. Universität zu Köln; 2012.
5.
Weichbold V, Tsiakpini L, Coninx F, D'Haese P. Konstruktion eines Eltern-Fragebogens zur Entwicklung des auditiven Verhaltens von Kleinkindern bis zu zwei Jahren [Development of a parent questionnaire for assessment of auditory behaviour of infants up to two years of age]. Laryngorhinootologie. 2005;84(5):328-34. DOI: 10.1055/s-2004-826232 External link
6.
Coninx F, Weichbold V, Tsiakpini L, Autrique E, Bescond G, Tamas L, et al. Validation of the LittlEARS® Auditory Questionnaire in children with normal hearing. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2009;73(12):1761-8. DOI: 10.1016/j.ijporl.2009.09.036 External link
7.
Offei YN, Coninx F. Preparing and validating LEAQ as a screening tool for Ghanaian children aged 6-36 months. In: NHS 2012 – Beyond newborn hearing screening: infant and childhood hearing in science and clinical practice. June 5-7, Cernobbio, Italy. Book of abstracts. 2012.
8.
Kuehn-Inacker H, Weichbold V, Tsiakpini L, Coninx F, D'Haese P. LittlEARS® auditory questionnaire: parents questionnaire to assess auditory behaviour. Innsbruck, Austria: MedEl; 2003.