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27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 19.09.2010, Aachen

Eine Methode zur Diagnose der spezifischen Sprachentwicklungsstörung bei 6- bis 8-jährigen Kindern

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Jochen Rosenfeld - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Deutschland
  • author Nora Martienssen - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Deutschland
  • author Bärbel Wohlleben - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Deutschland
  • author Saskia Rohrbach-Volland - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Deutschland
  • author Manfred Gross - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Aachen, 17.-19.09.2010. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2010. Doc10dgppV49

doi: 10.3205/10dgpp71, urn:nbn:de:0183-10dgpp714

Published: August 31, 2010

© 2010 Rosenfeld et al.
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Zusammenfassung

Die valide Diagnose einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) ist sowohl klinisch als auch wissenschaftlich von zentraler Bedeutung. Dabei spielen zunehmend – insbesondere bei der Einschätzung sprachlicher Leistungen – standardisierte, normierte Verfahren eine Rolle, um wissenschaftlichen Kriterien zu genügen.

Häufig werden in Deutschland informelle Verfahren zur Beurteilung des Sprachentwicklungsstandes benutzt. Bei den im deutschsprachigen Raum vorhandenen normierten Sprachtests fehlen in der Regel Angaben zu Cutoff-Werten zur dichotomen Unterscheidung zwischen sprachauffälligen und sprachgesunden Kindern.

Die vorgestellte Methode für die Altersgruppe der 6- bis 8-jährigen Kinder ist ein Anschlussprojekt an eine Methode zur Phänotypisierung von Vorschulkindern mit SSES. Konform dazu wurde eine Testbatterie aus 8 Subtests aus vorhandenen standardisierten Testverfahren (FBIT, HSET, PET, Mottier-Test) zusammengestellt und die Klassifizierungsgenauigkeit überprüft. Die Methodik enthält weiterhin eine informelle Spracheinschätzung (Berliner Screening), eine medizinische Untersuchung, audiometrische Tests, ein halbstandardisiertes Elterninterview (orientiert an IDIS) und einen sprachfreien Intelligenztest (CPM). Die diagnostische Genauigkeit der Testbatterie im Hinblick auf eine exakte Phänotypisierung wird u.a. anhand von Sensitivität und Spezifität diskutiert.


Text

Einleitung

Eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) wird diagnostiziert, wenn in der Regel 3 Hauptkriterien erfüllt sind: (1) signifikante Defizite der sprachlichen Leistungen im Vergleich zu Gleichaltrigen, (2) unauffällige andere Entwicklungsbereiche, die die Sprachentwicklung beeinflussen könnten (in der Regel IQ >85) und (3) Ausschluss von somatischer Ursachen (z.B. Schwerhörigkeit, Veränderungen der peripheren Sprechwerkzeuge) und Syndromen, die mit Sprachentwicklungsstörungen verbunden sein könnten (z.B. Autismus).

1981 wurden erstmals von Stark und Tallal [4] Kriterien zur Diagnose einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung definiert. Trotz weitgehender Übereinkunft bezüglich der Ausschlusskriterien gibt es unterschiedliche Ansichten über das Ausmaß der Defizite der sprachlichen Fähigkeiten [5].

Sowohl bei wissenschaftlichen Fragestellungen [3] als auch im klinischen Alltag sollte die Diagnose einer SSES auf der Grundlage empirischer Daten gestellt werden. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit [1] schreibt in seinem Abschlussbericht zum aktuellen Wissenstand zur Früherkennungsuntersuchung auf umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache: „Gleichzeitig sind für die deutschsprachigen diagnostischen Instrumente gegenwärtig keine verlässlichen Gütekriterien berichtet, die eine Entdeckung von Kindern mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen in der Gesamtbevölkerung erlauben“.

Ziel der Studie war die Entwicklung eines standardisierten, normierten, validen Verfahrens zur Diagnose einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung für die Altersgruppe 6;0 bis 8;11 (Jahre; Monate). Dabei sollte zunächst im Hinblick auf die sprachlichen Leistungen der Frage nachgegangen werden, ob mittels einer logistischen Regressions-Analyse eine Unterscheidung sprachauffällig – sprachunauffällig bei ausreichender Sensitivität und Spezifität möglich ist.

Methode

Auf der Basis der von Rosenfeld et al. [2] vorgestellten Methode zur Phänotypisierung von Kindern mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung in der Altergruppe 4;0 bis 5;11, wurde analog für die Altersgruppe 6;0 bis 8;11 eine sprachliche Testbatterie aus 8 Subtests zusammengestellt (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]). Die Subtests der zusammengestellten Testbatterie waren aus deutschsprachigen, normierten Testverfahren (FBIT, HSET, PET, Mottier-Test) interdisziplinär (Linguistik, Logopädie, Medizin, Psychologie) ausgewählt und entsprechenden sprachlichen Bereichen zugeordnet worden. Als Bedingung sollten alle ausgewählten Subtests bis mindestens –1,5 SD unterscheiden, um einem Bodeneffekt vorzubeugen.

Das Studiendesign entsprach einer Diagnosestudie. Dabei wurde anhand einer klinischen Einschätzung des Sprachstatus die Güte der zusammengestellten Testbatterie hinsichtlich Sensitivität und Spezifität überprüft.

40 deutschsprachige Kinder (19 Mädchen, 21 Jungen) im Alter von 6;0 (Jahre; Monate) bis 8;11 wurden in die Studie eingeschlossen. 21 gehörten zur Gruppe der sprachauffälligen (SSES-Gruppe), 19 zur Gruppe der sprachgesunden Kinder (Kontroll-Gruppe). Alle Kinder waren aus dem Berliner Raum und angrenzenden Brandenburger Regionen rekrutiert worden.

Ausschlusskriterien für beide Gruppen waren ein non-verbaler IQ <85, Schwerhörigkeit, Mehrsprachigkeit, neurologische oder psychiatrische Erkrankungen, Frühgeburt, Erkrankungen der Sprechwerkzeuge sowie schwerwiegende psychosozioemotionale Beeinträchtigungen.

Der Untersuchungsablauf bestand aus 2 Terminen für jedes Kind. Am 1. Untersuchungstermin erfolgten eine informelle Spracheinschätzung (Berliner Screening) durch eine staatlich geprüfte Logopädin sowie einen Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie, eine ärztliche Anamnese sowie Befunderhebung, audiometrische Tests (Tonaudiogramm, Tympanogramm, OAE) sowie ein halbstandardisiertes Elterninterview (orientiert an IDIS). Der 2. Termin diente zur Beurteilung der non-verbalen Intelligenz (CPM) sowie zur standardisierten, normierten sprachlichen Einschätzung mittels der 8 Subtests der zusammengestellten Testbatterie.

Ergebnisse

Im einfachen Mittelwertsvergleich lagen die Werte der Kontroll-Gruppe in 7 Subtests über denen der SSES-Gruppe (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Bis auf die Subtests BW aus FBIT und PS aus HSET fanden sich in allen anderen Subtests signifikante (p<0,05) Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (t-Test und Mann-Whitney).

Um Zusammenhänge zwischen der klinischen Einschätzung und der zusammengestellten sprachlichen Testbatterie (8 Subtests) zu beschreiben, wurde eine binär logistische Regression durchgeführt. Bei Anwendung dieser Analyse unter Einschluss aller 8 Subtests im Block (Methode: Einschluss) ergab sich eine Sensitivität von 90,5%, eine Spezifität von 89,5% (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]).

Um zu erfahren, ob ein einzelner Subtest (oder ggf. auch mehrere) besonders genau zur Klassifikation beitragen, wurde die Methode „vorwärts bedingt“ angewandt. Hierbei verringerte sich die Spezifität auf 78,9%, die Sensitivität blieb gleich hoch. Die Ergebnisse dieser Analyse waren allein durch den Subtest IS (HSET) bedingt.

Die deutlich höhere Aufklärung durch die gesamte Testbatterie (gewichtete Subtests) im Vergleich zu einem einzelnen Subtest ist Ausdruck der offensichtlich vorliegenden Mulitkollinearität. Dies bedeutet, dass mehrere der 8 Subtests eine starke Korrelation miteinander haben.

Diskussion

Die aus standardisierten, normierten, deutschsprachigen Test zusammengestellte Testbatterie zur Beurteilung sprachlicher Leistungen bei Kindern im Alter 6;0 bis 8;11 kann nach den Ergebnissen einer binär logistischen Regressionsanalyse mit akzeptabler diagnostischer Genauigkeit (Sensitivität und Spezifität um 90%) SSES-Kinder und Sprachgesunde diagnostizieren.

Bei der Stellung von Diagnosen, wie es in der Medizin üblich ist, muss in der Regel dichotomisiert (krank – gesund) werden. Für sprachliche Leistungen bedeutet dies, dass ein kontinuierliches Spektrum in 2 Kategorien geteilt wird. Leider fehlen in fast allen Handbüchern zu deutschsprachigen Sprachtests Angaben zur Klassifizierungs-Validität (Sensitivität, Spezifität). So können zwar Profile über einzelne Leistungen anhand von Normierungen erstellt werden, die Beurteilung der sprachlichen Leistungen eines Kindes in seiner Gesamtheit erfolgt in der Regel subjektiv.

Kritisch zu sehen ist sicherlich, dass die Normierungen der für die sprachliche Testbatterie ausgewählten Sprachtests z.T. veraltet sind. Allerdings gibt es für diese Altersgruppe in den gewählten sprachlichen Bereichen keine Alternative. Weiterhin bestätigte sich, dass das sprachauditive Kurzzeitgedächtnis für Sätze (IS aus HSET) am effizientesten zur Diagnose einer SSES beiträgt.

Zusammenfassend stellt die vorgestellte Methode den Versuch dar, Kinder mit SSES unter evidenzbasierten Kriterien zu diagnostizieren. Bei der dichotomen Einschätzung von sprachlichen Leistungen sollen standardisierte, normierte Sprachtests nicht ohne Angaben zur diagnostischen Genauigkeit (Sensitivität, Spezifität) eingesetzt werden, um eine Vergleichbarkeit und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten.


Literatur

1.
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Früherkennungsuntersuchungen auf umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache; Abschlussbericht S06-01. Köln: IQWiG; 2009.
2.
Rosenfeld J, Wohlleben B, Rohrbach-Volland S, Gross M. Phänotypisierung von Vorschulkindern mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung. Laryngo-Rhino-Otol. 2010;89:216-23. DOI: 10.1055/s-0029-1242795 External link
3.
SLI Consortium. A genomewide scan identifies two novel loci involved in specific language impairment. Am J Hum Genet. 2002;70(2):384-98. DOI: 10.1086/338649 External link
4.
Stark RE, Tallal P. Selection of children with specific language deficits. J Speech Hear Disord. 1981;46(2):114-22.
5.
Tomblin JB, Records NL, Zhang X. A system for the diagnosis of specific language impairment in kindergarten children. J Speech Hear Res. 1996;39(6):1284-94.