Im Spätmittelalter schlossen sich Gemeinden im heutigen Graubünden (Schweiz) zu mehreren regionalen Bündnissen (Gotteshausbund, Oberer Bund, Zehngerichtenbund) zusammen, um politische Mitspracherechte gegenüber dem regionalen Adel und dem Bischof von Chur zu erhalten. Diese “Drei Bünde” waren dezentral von den einzelnen Gemeinden her organisiert, kooperierten aber ab dem 15. Jahrhundert zunehmend miteinander. Gemeinsame Angelegenheiten aller Bünde verhandelten sie auf Bundstagen, zu denen ihre Gesandten abwechselnd in den drei Hauptorten Ilanz, Chur und Davos zusammenkamen.
Die Drei Bünde kontrollierten Alpenpässe, über die der Handel zwischen den umliegenden Territorien (Heiliges Römisches Reich, Eidgenossenschaft, Tirol, Mailand u.a.) abgewickelt wurde. Damit waren sie für die Nachbarländer wichtig, wurden aber auch in deren Auseinandersetzungen hineingezogen. Durch den Verkehr über die Pässe bestanden Kontakte zu Kaufleuten und Gelehrten auf beiden Seiten der Alpen.
Um 1520 entwickelten sich in den umliegenden Ländern vielfältige Reformbewegungen. Humanisten wie Erasmus in Basel, die spirituali in Italien, Reformatoren wie Ulrich Zwingli in Zürich oder die Zürcher Täufer strebten auf je unterschiedliche Weise eine Erneuerung der Kirche an. Zugleich erhoben sich in Süddeutschland und Tirol Gruppen von Bauern und forderten unter anderem eine Verminderung der Abgaben an Herrscher und Kirche, die Aufhebung der Leibeigenschaft sowie die freie Pfarrerwahl. Auch in den Drei Bünden predigten Pfarrer wie Johannes Comander in Chur im Sinne Zwinglis; Bauern und Bürger protestierten gegen hohe Abgaben und kirchliche Missstände.
Auf die religiösen und sozialen Spannungen reagierten die Drei Bünde mit mehreren Beschlüssen: Artikel des Oberen Bundes über die Amtsführung der Geistlichen wurden um Forderungen zur Entlastung der Bauern ergänzt und im April 1524 vom Bundstag in Ilanz beschlossen (Erster Ilanzer Artikelbrief). 1525 verklagten Churer Abt und Domkapitel Comander und weitere Evangelische wegen Ketzerei. Der Bundstag berief daraufhin eine theologische Disputation ein, die im Januar 1526 in der Ilanzer Margrethenkirche stattfand, jedoch ergebnislos abgebrochen wurde. Im Juni verabschiedete der Bundstag in Ilanz den Zweiten Ilanzer Artikelbrief: Die Gewalt des Bischofs in weltlichen Dingen wurde aufgehoben; die Abgaben der Bevölkerung an die Kirche wurden reduziert; die Gemeinden erhielten das Recht zur Pfarrerwahl.1
Während anderswo Landesherr oder städtische Obrigkeit die Glaubensrichtung ihres ganzen Territoriums bestimmten, eröffneten die Ilanzer Artikelbriefe jeder Gemeinde die Möglichkeit, sich mit der Wahl des Pfarrers für oder gegen die Reformation zu entscheiden. So wurde die Gemeinde Ilanz offiziell evangelisch und entfernte die Darstellung von Maria aus dem Gemeindesiegel. Andere Gemeinden wie das benachbarte Laax blieben beim alten Glauben. Es entstand eine dezentrale kirchliche Struktur, die der politischen Organisation der Drei Bünde entsprach.
Ob Einzelne das Recht haben sollten, einen von der Mehrheit der eigenen Gemeinde abweichenden Glauben zu praktizieren, blieb hingegen lange umstritten. Erst 1557 wurde eine Regelung für Gemeinden mit teils evangelischer, teils altgläubiger Bevölkerung getroffen. Auch danach spielte sich das Zusammenleben im Alltag in mancher Hinsicht ein (z.B. wurden Kirchengebäude abwechselnd genutzt); in anderen Bereichen gab es hingegen weiterhin Konflikte (z.B. über die Zulassung gemischter Ehen).
Auf übergeordneter Ebene versuchten die Glaubensparteien ebenfalls, religiös geprägte Interessen durchzusetzen: Als die evangelische Seite Ende der 1530er-Jahre die Mehrheit im Gotteshausbund erlangte, betrieb sie die Auflösung von Klöstern. Im mehrheitlich altgläubigen Veltlin, einem Untertanengebiet der Drei Bünde, gab es Bemühungen, die Duldung Evangelischer zu beenden.
Ein Nebeneffekt der dezentralen kirchlichen Organisation war schließlich, dass sich religiöse Gruppen, die anderenorts ausgegrenzt wurden, in den Drei Bünden eher halten konnten: Ab Mitte der 1520er-Jahre kamen aus Zürich vertriebene Täufer; diverse Gemeindeglieder und Pfarrer schlossen sich ihnen an. In den 1550er-Jahren waren italienische Spiritualisten in den Drei Bünden tätig, die im Zuge der beginnenden Konfessionalisierung in eidgenössischen Städten nicht mehr geduldet wurden. Beide Gruppen wurden speziell von der evangelischen Mehrheit scharf bekämpft.
Die Ilanzer Artikel ermöglichten religiöse Koexistenz durch eine ungewöhnliche, dezentrale Lösung. Da die Entscheidung den Gemeinden überlassen wurde, konnten in den Drei Bünden schon in den 1520er-Jahren verschiedene Glaubensrichtungen auf rechtlich geregelte Weise nebeneinander leben. Das war ursprünglich eher pragmatisch gedacht: In einer Zeit, in der noch unklar war, was sich aus der Vielfalt von Reformbewegungen entwickeln würde, sollten religiöse und soziale Konflikte auf eine Weise entschärft werden, die der dezentralen politischen Organisation entsprach. Faktisch führte dies allerdings zu größerer Vielfalt als anderenorts. Gerade die Präsenz religiöser Außenseiter stellte aus Sicht vieler anderer Einwohner eine unbeabsichtigte Folge dar – den Außenseitern verschaffte diese Situation aber Existenzmöglichkeiten, die ihnen in anderen Territorien verwehrt blieben. Auch Evangelische und Altgläubige mussten Formen politischer Kooperation und alltäglichen Zusammenlebens entwickeln – ohne darum ihre gegeneinander gerichteten Wahrheitsansprüche aufzugeben. Religiöse Koexistenz und konfessionelle Polemik schlossen sich in den Drei Bünden nicht aus, sondern wirkten auf kleinstem Raum zusammen.
Jan-Andrea Bernhard, The Reformation in the Three Leagues (Grisons), in: Amy Nelson Burnett / Emidio Campi (Hg.), A Companion to the Swiss Reformation, Leiden 2016, S. 291–361.
Jan-Andrea Bernhard / Cordula Seger (Hg.), Die Ilanzer Artikelbriefe im Kontext der europäischen Reformation – The Ilanz Articles in the Context of the European Reformation, Zürich 2020.
Florian Hitz u.a., Art. Graubünden 3. Der Freistaat der Drei Bünde (14.–18. Jahrhundert), in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 11.01.2018. URL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007391/2018-01-11/.
Ulrich Pfister, Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert, Würzburg 2012.
Immacolata Saulle Hippenmeyer, Nachbarschaft, Pfarrei und Gemeinde in Graubünden, 1400–1600, 2 Bde., Chur 1997.
Corinna Ehlers, Ilanz, in: Ortstermine. Umgang mit Differenz in Europa, hg. für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) v. Joachim Berger, Irene Dingel und Johannes Paulmann, Mainz 2021. URL: https://ieg-differences.eu/ortstermine/corinna-ehlers-ilanz, URN: urn:nbn:de:0159-2021121527.
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Obertor in Ilanz, Foto: Corinna Ehlers, 2018. Lizenz: CC-BY 4.0.
Vgl. Artikelbrief Quasimodogeniti 1524, Bundesbrief 1524 und Ilanzer Artikel 1526, in: Constanz Jecklin (Hg.), Urkunden zur Verfassungsgeschichte Graubündens, Chur 1884, S. 78–98. URL: https://dx.doi.org/10.5169/seals-595907. ↩