Einfluss von physiotherapeutischen Maßnahmen und afferenzstimulierenden Einlegsohlen auf die Gang- und Gleichgewichtsmotorik bei Parkinsonpatienten

Die Parkinsonkrankheit ist eine chronische und progressiv verlaufende Erkrankung der Basalganglien des Gehirns. Die Nervenzellen der ?Substantia Nigra?, einem Teil der Basalganglien, gehen langsam zugrunde und es wird zu wenig Dopamin produziert. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der für die Steuerung motorischer Prozesse von großer Bedeutung ist. Die so genannten Kardinalsymptome der Parkinsonkrankheit sind die Muskelsteifigkeit (Rigor), das Zittern (Tremor) und die Bewegungsverlangsamung (Bradykinesie). Der typische ?Parkinsongang? ist verlangsamt, schlurfend und kleinschrittig. Hinzu kommen Störungen der Haltungs- und Gleichgewichtskontrolle, die nicht selten zu Stürzen führen. Bei der Therapie der Parkinsonkrankheit stehen die medikamentöse Behandlung und die Physiotherapie im Vordergrund. Obwohl die physiotherapeutische Behandlung zur Förderung erhaltener und zur Wiedererlangung verloren gegangener Bewegungsmuster bei Parkinsonpatienten allgemein anerkannt ist, fehlt es jedoch an wissenschaftlichem Nachweis über die Wirksamkeit physiotherapeutischer Kernelemente. Eine Zielsetzung der vorliegenden Arbeit besteht daher darin, die Auswirkungen von physiotherapeutischen Balance- und Rumpfflexibilisierungsübungen auf die Gang- und Gleichgewichtsmotorik bei Parkinsonpatienten zu analysieren und deren Effektivität zu vergleichen. In jüngeren Studien konnte festgestellt werden, dass die ?Fußsensorik?, die nachweislich an der Gang- und Gleichgewichtskontrolle beim Menschen beteiligt ist, bei Parkinsonpatienten pathologisch reduziert ist. Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurden in der vorliegenden Studie zusätzlich zu den physiotherapeutischen Übungen afferenzstimulierende Einlegesohlen eingesetzt, um zusätzliche afferente Informationen zu generieren, die möglicherweise der reduzierten Fußsensorik der Patienten entgegenwirken und vom Organismus für eine gesteigerte Kontrolle der Motorik genutzt werden können. Dieser Therapieansatz wurde bisher in der Behandlung der Parkinsonerkrankung nicht verfolgt. Methodik In einem ?Blindstudiendesign? wurden 126 Parkinsonpatienten randomisiert in 4 unterschiedliche Therapiegruppen und eine Kontrollgruppe eingeteilt. In der ersten Gruppe führten die Patienten während der Therapiephase Balanceübungen durch und wurden mit einer afferenzstimulierenden Einlegesohle versorgt, deren Oberfläche mit kleinen Noppen versehen war (Stimulanssohle). Die zweite Gruppe trainierte ebenfalls ihre Balance, erhielt aber eine afferenzstimulierende Einlegesohle mit einer Fußbettung und einer glatten Oberfläche (Fußbettungssohle). Die Patienten aus der dritten Gruppe sollten physiotherapeutische Übungen zur Rumpfflexibilisierung ausüben und wurden mit der Stimulanssohle versorgt. In der vierten Gruppe wurden wiederum Rumpfflexibilisierungsübungen durchgeführt, aber die Fußbettungssohle getragen. Die Therapiedauer betrug vier Wochen. In dieser Zeit sollten die Parkinsonpatienten das jeweilige Physiotherapieprogramm täglich 30 Minuten ohne Anleitung durchführen und die Einlegesohlen ebenfalls täglich tragen. Die Gang- und Gleichgewichtsmessungen wurden vor und nach der Therapiephase mit einem drucksensitiven Sohlensystem (NOVEL GmbH, München) quantifiziert. Bei den Messungen trugen die Patienten einen leichten Leinenschuh. Die afferenzstimulierenden Einlegesohlen wurden nicht während der Messungen getragen. Für das Gehen in individuell gewähltem Tempo wurden Raum-Zeit- und Druckverteilungsparameter bestimmt. Zur Quantifizierung des Standgleichgewichts dienten verschiedenen Standpositionen, die sich bezüglich der Unterstützungsfläche und der Kontrollmechanismen unterschieden. Es handelte sich dabei um den Parallelstand, den Tandemstand, den Einbeinstand und das Funktionelle Vorlehnen. Anhand der Bewegung des Druckmittelpunktes konnten die Körperschwankungen in den jeweiligen Standpositionen quantitativ analysiert werden. Vor und nach der Therapiephase wurde verschiedene Gang- und Gleichgewichtsparameter quantifiziert. Durch den statistischen Vergleich der Parameter der Vor- und der Nachmessung konnten die Einflüsse der physiotherapeutischen Übungen und der afferenzstimulierenden Einlegesohlen aufgedeckt werden. Ergebnisse & Diskussion Bedeutung von Gewöhnungseffekten Trotz methodischer Maßnahmen zur Reduzierung von ?gewöhnungsbedingten? Veränderungen waren bei den Gangmessungen starke Gewöhnungseffekte zu verzeichnen. Die Ursache für dieses Phänomen bleibt ungeklärt, liegt aber wahrscheinlich im psychologisch-emotionalen Bereich von Parkinsonpatienten begründet. Es ist zu vermuten, dass die Patienten aufgrund der gemachten Erfahrungen bei der Eingangsuntersuchung an die Abschlussuntersuchung gelassener, unbefangener und motivierter herangegangen sind. Dies äußerte sich bei allen Patientengruppen in einer gesteigerten Ganggeschwindigkeit mit größeren Schrittlängen und Kadenzen, reduzierten Bodenkontakt- und Doppelstützphasen sowie einer Medialisierung der Fußabwicklung und einer anterioren Lastverschiebung. Daher sind in Studien, in denen Interventionsmaßnahmen bewertet werden sollen, weitreichende Maßnahmen zur Reduzierung möglicher Gewöhnungseffekte zu berücksichtigen. Ferner belegt dieses Studienergebnis, dass die Aussagekraft von Studien zur Beschreibung von nichtmedikamentösen Therapieeffekten bei Parkinsonpatienten, in denen keine Kontrolldaten analysiert werden, stark reduziert ist. Bedeutung der physiotherapeutischen Maßnahmen auf die Gang- und Gleichgewichtsmotorik bei Parkinsonpatienten Die physiotherapeutischen Maßnahmen konnten keine Veränderungen der Gangmotorik der Parkinsonpatienten bewirken. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Limitationen anderer Studien, in denen Verbesserungen der Gangleistung durch physiotherapeutische Maßnahmen beschrieben werden, ist festzuhalten, dass ein positiver Einfluss von physiotherapeutischen Maßnahmen auf das Gangbild von Parkinsonpatienten bis heute wissenschaftlich nicht belegt ist. Die Analyse der Auswirkungen der Physiotherapie auf die verschiedenen Kontrollmechanismen des Standgleichgewichts zeigte, dass das Gleichgewichtstraining zu einer Verbesserung der Gleichgewichtskontrolle beim Parallelstand führte, indem anterior-posteriore Körperschwankungen durch eine effizientere Knöchelstrategie reduziert werden konnten. Nach der Kenntnis des Verfassers liegt derzeit keine andere, wissenschaftliche Studie vor, in der Einflüsse von physiotherapeutischen Therapiemaßnahmen auf die Standgleichgewichtsfähigkeit bei Parkinsonpatienten systematisch untersucht wurden. Daher liefert die vorliegende Studie erste Belege dafür, dass die Standgleichgewichtsfähigkeit von Parkinsonpatienten durch tägliches Gleichgewichtstraining verbessert werden kann. Allerdings wird die Aussagekraft von Körperschwankungen beim Parallelstand zur Bewertung der Standgleichgewichtsfähigkeit von einigen Autoren aufgrund verschiedener, limitierender Faktoren berechtigter Weise kritisch betrachtet. Daher bedarf es weiterer Untersuchungen, um der Frage nachzugehen, in wieweit sich Verbesserungen der Kontrollmechanismen beim beidbeinigen Stand auch positiv in alltäglichen ?Gleichgewichtssituationen? auswirken und möglicherweise zu einer Reduzierung des Sturzrisikos bei Parkinsonpatienten führen können. Das Gleichgewichtstraining hatte weder einen Einfluss auf die medio-laterale Standgleichgewichtskontrolle (Tandemstand), noch auf die Fähigkeit, den Körper kontrolliert nach vorne zu lehnen (Funktionelles Vorlehnen). Für die Rumpfflexibilisierungsübungen konnten keine positiven Effekte auf die Standgleichgewichtskontrolle nachgewiesen werden. Vor dem Hintergrund, dass die physiotherapeutischen Übungen ebenfalls keine Veränderungen der Gangmotorik bei den Patienten bewirken konnten, sind die Auswirkungen der Physiotherapie in der vorliegenden Studie generell als gering zu bezeichnen. Daher erscheint beim Effektivitätsvergleich der Gleichgewichts- und Rumpfflexibilisierungsübungen der vorliegenden Studie eine Bevorzugung eines Therapieansatzes als nicht gerechtfertigt. Schenkman et al. konnten nachweisen, dass Rumpfflexibilisierungsübungen zu einer signifikanten Verbesserung der Fähigkeit sich nach vorne zu lehnen führten (Schenkman, Cutson et al. 1998). Dam et al. und Marchese et al. zeigten auf, dass konventionelle und sensorisch unterstützte Physiotherapiemaßnahmen zu einer allgemeinen Statusverbesserung bei Parkinsonpatienten führten (Dam, Tonin et al. 1996; Marchese, Diverio et al. 2000). Diese Studienergebnisse haben eine starke Aussagekraft, da es sich bei allen drei Studien um randomisierte Blindstudien (RCT) mit ausreichenden Patientenzahlen handelt. Ferner ist allen Studien gemeinsam, dass die Parkinsonpatienten bei der Durchführung der physiotherapeutischen Übungen von einem Therapeuten betreut wurden. In der vorliegenden Studie mussten die Patienten die physiotherapeutischen Übungen in Eigenverantwortung und ohne Hilfe eines Therapeuten durchführen. Trotz der intensiven Einführung der Patienten in die Durchführung der physiotherapeutischen Übungen kann bei der Betrachtung der Studienergebnisse vermutet werden, dass die Patienten aufgrund einer fehlenden ?professionellen? Anleitung in der häuslichen Umgebung die Übungen fehlerhaft oder mit zu geringer Intensität durchführten. Dies hätte eine geringere Effektivität der Übungen zur Folge und würde sich in einer Reduzierung potentieller Therapieeffekte widerspiegeln. Daher ist die fehlende Übungsanleitung eines Therapeuten bei der Durchführung der physiotherapeutischen Übungen als eine wesentliche Ursache dafür anzusehen, dass in der vorliegenden Studie lediglich geringe Effekte der physiotherapeutischen Maßnahmen nachgewiesen werden konnten. In nachfolgenden Studien wäre folglich zu klären, ob ?betreute? Balance- und Rumpfmobilisierungsübungen zu größeren Effekten auf die Gang- und Gleichgewichtsmotorik bei Parkinsonpatienten führen können. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse von Schenkman et al., Dam et al. und Marchese et al. und aufgrund der vorliegenden Studienergebnisse spricht vieles dafür, dass physiotherapeutische Übungen bei Parkinsonpatienten unter der Anleitung eines Therapeuten durchgeführt werden sollten. Abschließend bleibt festzuhalten, dass weitere randomisierte Blindstudien mit großen Patientenzahlen und einer professionellen Betreuung bei der Durchführung physiotherapeutischer Maßnahmen notwendig sind, um Therapeuten zusätzlich zu ihren Erfahrungswerten bei der individuellen Behandlung von Patienten auch wissenschaftlich begründete Physiotherapiekonzepte an die Hand zu geben und zu einem Konsens in der Frage nach der ?best-möglichen? Physiotherapie für Parkinsonpatienten zu gelangen. Bedeutung der afferenzstimulierenden Maßnahmen auf die Gang- und Gleichgewichtsmotorik bei Parkinsonpatienten Die afferenzstimulierenden Einlegesohlen hatten sowohl positive Auswirkungen auf die Gangmuster als auch auf die Gleichgewichtskontrolle bei Parkinsonpatienten. Durch tägliches Tragen der Fußbettungssohle konnte bei den Parkinsonpatienten der Fußabdruck verstärkt und die Variabilität des Abrollvorganges vergrößert werden. Diese positiven Gangveränderungen resultieren daraus, dass die Fußabwicklung der Patienten beim Tragen der Fußbettungssohle aufgrund der Konstruktionsmerkmale der Sohle beeinflusst wird. Diese positive Beeinflussung basiert ursächlich wahrscheinlich eher auf einer ?biomechanischen? Einflussnahme auf die Fußabwicklung als auf einer somatosensorischen Stimulierung des Fußsensorik. Es ist davon auszugehen, dass sich der verstärkte Fußabdruck bei den Patienten während des Tragens der Sohle motorisch neu und ?überdauernd? gefestigt hat und sich auch dann noch ausprägt, wenn die Sohle nicht mehr getragen wird. Demgegenüber beruht die gesteigerte Variabilität des Abrollvorganges wahrscheinlich eher auf ?nicht überdauernden? Effekten. Da der Abrollvorgang bei der Abschlussuntersuchung im Gegensatz zu der 4 wöchigen Therapiephase nicht mehr durch die Sohle unterstützt wird, muss das Gangmuster an die veränderte Bedingung sensomotorisch neu angepasst werden. Die gesteigerte Variabilität des Abrollvorganges ist dadurch zu erklären, dass der Prozess der Anpassung zunächst durch sehr variable Bewegungsmuster geprägt ist, bevor sich ein regelmäßiges, konstantes Bewegungsmuster einstellt. Neben diesen Gangverbesserungen bewirkte das Tragen der Fußbettungssohle auch eine Verbesserung der medio-lateralen Gleichgewichtskontrolle. Es ist davon auszugehen, dass die Parkinsonpatienten aufgrund der Konstruktionsmerkmale der Fußbettungssohle die medio-lateralen Stabilitätsgrenzen und die spontanen Körperschwankungen beim Tragen der Sohle deutlicher wahrnehmen und diese verstärkten, gleichgewichtsrelevanten Informationen aus der Fußsohle für eine verbesserte medio-laterale Gleichgewichtskontrolle nutzen konnten. Durch das Tragen der Stimulanssohle wurde die funktionelle Unterstützungsfläche nach anterior ausgeweitet und folglich der ?Stabilitätsbereich?, in dem Körperschwankungen sicher kontrolliert werden können, vergrößert. Aufgrund der ?genoppten? Oberflächenstruktur der Stimulanssohle ist anzunehmen, dass den Parkinsonpatienten beim Tragen der Sohle verstärkte, oberflächensensorische Informationen aus der gesamten Fußsohle zur Verfügung standen, wodurch Körperschwankungen in einer größeren funktionellen Unterstützungsfläche kontrolliert werden konnten. Es ist davon auszugehen, dass sowohl die Verbesserung der medio-lateralen Gleichgewichtskontrolle durch die Fußbettungssohle als auch die Vergrößerung der funktionellen Unterstützungsfläche durch die Stimulanssohle auf einer ?überdauernden? Sensibilisierung der Fußsohle für gleichgewichtsrelevante Informationen beruhen. Die Versorgung von Parkinsonpatienten mit afferenzstimulierenden Einlegesohlen stellt einen völlig neuen und innovativen Therapieansatz in der nichtmedikamentösen Behandlung der Parkinsonerkrankung dar. Durch die vorliegende Studie konnte eindeutig belegt werden, dass durch 4 wöchiges, regelmäßiges Tragen von afferenzstimulierenden Einlegesohlen die Gang- und Gleichgewichtsmotorik bei Parkinsonpatienten verbessert werden kann. Ferner fällt auf, dass die Auswirkungen der Sohlenversorgung im Vergleich zu der ohne Anleitung durchgeführten Physiotherapie wesentlich größer und aussagekräftiger sind. Die positiven Effekte der Stimulans- und der Fußbettungssohle auf die Gang- und Gleichgewichtsmotorik bei Parkinsonpatienten werfen einige wichtige Fragen auf: · Wie lange sind die positiven Sohleneffekte nach Beendigung der ?Tragephase? bei den Patienten nachweisbar? · Über welche Zeiträume und in welchen Zeitabständen sollten die Sohlen getragen werden, um dauerhafte, positive Effekte zu erzielen? · Kann eine Sohle konzipiert werden, die die Eigenschaften der Stimulans- und der Fußbettungssohle und damit auch deren Effekte vereint? · Gibt es Modifikationsmöglichkeiten, um bessere Effekte erzielen zu können? · Wie sieht der Zusammenhang zwischen den Konstruktionsmerkmalen der Sohle und deren motorischer Beeinflussung genau aus? Es bedarf einer Vielzahl weiterer Studien, um diese Fragestellungen zu prüfen und wissenschaftlich begründete Empfehlungen für eine systematische Versorgung von Parkinsonpatienten mit afferenzstimulierenden Einlegesohlen geben zu können. Die vorliegende Studie kann in diesem Zusammenhang als ?Grundbaustein? für eine Etablierung und Weiterentwicklung des Therapieansatzes der afferenzstimulierenden Sohlenversorgung bei der Behandlung der Parkinsonkrankheit angesehen werden.

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