Lehrerkooperation an Gymnasien : Eine explorative Untersuchung zu Ausprägung und Wirkungen am Beispiel des naturwissenschaftlichen Unterrichts

Die Kooperation von Lehrkräften gilt als eine der wirkungsmächtigsten Prozessvariablen auf einzelschulischer Ebene. Neben der Unterrichtsentwicklung sind auch die Personal- sowie die Organisationsentwicklung wichtige Zielbereiche, die von Lehrerkooperation positiv beeinflusst werden sollen. Mehrfach gezeigt wurde bislang, dass in Deutschland die Kooperationskulturen stark schulformspezifisch sind. Das Gymnasium zeigt sich in den betreffenden Untersuchungen zur unterrichtsbezogenen Lehrerkooperation fast ausnahmslos als jene Schulform, an welcher kooperative Prozesse innerhalb der Fachgruppen und im Hinblick auf gegenseitige Unterrichtsbesuche sowie eine gemeinsame Unterrichtsvorbereitung und -durchführung in geringstem Maße als Teil der einzelschulischen Kultur verankert sind. Eine gezielte Betrachtung der Kooperationskultur in Fachgruppen von Lehrkräften mit naturwissenschaftlichen Fächern unterstreicht und illustriert diese Bilanz. Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit liefert ein begriffliches Fundament zur Kooperation sowie eine Bestimmung ihres Verhältnisses zu den Interaktionsformen Kommunikation und Koordination. In diesem Zusammenhang wird ein Modell von Kooperation vorgestellt und für den Bereich der Lehrerkooperation exemplifiziert. Im zweiten Kapitel wird die Forschungsliteratur im Hinblick auf die Bedeutung der Lehrerkooperation für die Personal-, Unterrichts- und Schulentwicklung analysiert. Wesentliche Bezugspunkte sind dabei die individuelle Lehrkraft, ihr Unterricht, die Schülerleistungen und die Qualität der Schule als Organisation. In diesem Kontext wird die Lehrerkooperation u.a. als Modus zur Linderung professions- bzw. organisationsinhärenter Defizite herausgestellt. Eine schematische Darstellung liefert schließlich einen zusammenfassenden Überblick zu den zentralen Ablauf- und Wirkungsschritten der unterrichtsbezogenen Lehrerkooperation. Neben den Ergebnissen empirischer Studien sowie den Kernaussagen aus Übersichtsartikeln und programmatischen Aufsätzen, welche jeweils die Bedeutung der Lehrerkooperation unterstreichen, werden in Kapitel 2 auch relativierende Befunde berücksichtigt und ausgewählte Forschungsdesiderata herausgestellt. Das dritte Kapitel beleuchtet die empirischen Befunde zur Ausprägung der unterrichtsbezogenen Kooperation von Gymnasiallehrkräften mit naturwissenschaftlichen Fächern. Der empirische Teil beginnt mit dem vierten Kapitel, welches zusammen mit Kapitel 5 eine Beschreibung der Rahmung, der Ziele sowie des Designs der Untersuchung liefert. Vor dem Hintergrund der bislang vorliegenden Befunde wird untersucht, ob es überhaupt Gymnasien mit einer intensiv ausgeprägten Kultur der unterrichtsbezogenen Lehrerkooperation gibt, inwiefern die Lehrkräfte an dieser Schulform hilfreiche kollegiale Impulse innerhalb ihres Fachkollegiums erhalten und ob sich ein Zusammenhang dieser Prozessvariable mit unterrichtsmethodischen Aspekten und Schülerleistungen ergibt. Eine methodische Besonderheit der vorliegenden Untersuchung im Vergleich zu zahlreichen anderen Studien ist in der Tatsache zu sehen, dass jeweils die gesamten Fachkollegien jedes der drei regelmäßig an Gymnasien unterrichteten naturwissenschaftlichen Fächer zur Beteiligung an der Untersuchung eingeladen wurden – und nicht z.B. ausschließlich die Teilnehmer/innen eines Projekts zur Unterrichtsentwicklung. Nur durch das hier gewählte Vorgehen werden jedoch Aussagen zum Gesamtspektrum der Kultur unterrichtsbezogener Lehrerkooperation in der naturwissenschaftlichen Fachdomäne an Gymnasien möglich. Da die Untersuchung vor dem Hintergrund ihres Entstehungskontextes quantitativ-explorativ angelegt ist, wird in Kapitel 6 die zugehörige Auswertungsstrategie ausführlich dargelegt. In Kapitel 7 wird anschließend die Auswahl zweier Bundesländer – in denen die untersuchen Schulen liegen – erläutert und die Kapitel 8 bis 10 schließlich stellen die empirischen Ergebnisse inkl. ihrer Diskussion dar. Am Ende der Kapitel 9 und 10 werden die Befunde zu insgesamt 28 Schlussfolgerungen verdichtet. An der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Naturwissenschaftskollegien erweisen sich die Voraussetzungen für eine zielführende und effektive Bewältigung der gemeinsamen Herausforderungen als gegeben. Allerdings werden handlungsbezogene Kooperationsformen, etwa die gemeinsame Konzeption von Unterrichtsreihen, im Schnitt „eher nicht“ betrieben. Dennoch finden sich auch für die handlungsbezogenen Konstrukte innerhalb der Stichprobe signifikante Unterschiede, so dass nicht von einer einheitlich niedrigen Kooperationskultur auszugehen ist. Befragt man die Lehrkräfte nach einer bilanzierenden Beurteilung der Gesamtheit aller kollegialen Impulse zur naturwissenschaftlichen Fachdidaktik, so werden diese als „eher“ oder „sehr hilfreich“ bewertet. Die Aussagen der Lehrer/innen bestätigen somit die Annahme der Schulforschung, wonach die kollegiale Interaktion zur Professionsentwicklung der einzelnen Lehrkraft wichtige Beiträge leisten kann. Zugleich finden sich Hinweise darauf, dass die Inhalte der „Alltagskommunikation“ sowie der gezielten Zusammenarbeit in den gymnasialen Naturwissenschaftskollegien differenziell ausgerichtet sind. Sie widmen sich – sofern sie überhaupt auftreten – eher fachdidaktisch bzw. fachlich orientierten Aspekten als solchen mit allgemeindidaktischer Ausrichtung. Die Betrachtung der Kooperationskulturen in den einzelnen Naturwissenschaftskollegien offenbart eine enorme Spannweite der gemeinsamen unterrichtsbezogenen Aktivitäten. In der Summe bleibt anhand der Ergebnisse festzuhalten: Gymnasiale Fachkollegien mit einer vielgestaltigen Lehrerkooperation sind selten, aber es gibt sie. Illustriert werden kann ein entsprechendes Beispiel anhand des Gymnasiums 3 der Untersuchung. Aufgrund der vielfältigen Unterstützungsstrukturen in dieser Fachgruppe dürfte das Erreichen einer gleichwertigen Ausprägung der unterrichtsbezogenen Lehrerkooperation für viele gymnasiale Naturwissenschaftskollegien eine lohnenswerte Entwicklungsperspektive darstellen. Anhand von korrelativen Analysen ergeben sich zudem deutliche und theoriekonforme Hinweise darauf, dass eine höher ausgeprägte Kooperationspraxis der Fachkollegien mit hilfreicheren Impulsen zugunsten der beteiligten Naturwissenschaftslehrkräfte einhergeht. Aus einer kausalistischen Perspektive wird somit durch die vorliegenden Befunde unterstrichen, dass Gymnasiallehrkräfte von unterrichtsbezogener Kooperation profitieren. In einem weiteren Analyseschritt wurde der Zusammenhang zwischen der Lehrerkooperation und der Unterrichtsmethodik untersucht. Hierzu wurden vier Variablen zur allgemeinen Didaktik – als Indikatoren der unterrichtsbezogenen Wirkung von Lehrerkooperation – untereinander sowie mit insgesamt sechs auf Skalenebene erfassten Konstrukten zur unterrichtsbezogenen Lehrerkooperation in Beziehung gesetzt. Die Ergebnisse verweisen auf klare Kopplungen: Elemente eines als „traditionell“ einzustufenden Unterrichts – welcher geprägt ist durch eine starke Lehrerlenkung, einen engen Fachbezug und vergleichsweise hohe Leistungserwartungen – sind weitgehend negativ korreliert mit den Elementen eines „progressiven“ Unterrichts, in welchem die Unterstützungsstrukturen und Leistungserwartungen unterrichtsintern stärker differenziert werden und dem vernetzten Lernen eine gehobene Relevanz zukommt. Die Mehrheit der Konstrukte zur unterrichtsbezogenen Lehrerkooperation erweist sich als mit den beiden „progressiven“ Unterrichtselementen positiv und mit den „traditionellen“ Präferenzen negativ korreliert. Dieser Befund wird als Hinweis auf einen „innovativen Impetus“ interpretiert, welcher die gemeinsame Ursache für mehr Lehrerkooperation und die Präferenz bestimmter Unterrichtskonzeptionen in weiten Teilen des Kollegiums darstellt. Ein dritter Analyseblock schließlich widmet sich dem Zusammenhang zwischen der Lehrerkooperation und der Schuleffektivität. Hierbei zeigt sich u.a., dass hilfreiche kollegiale Impulse zur naturwissenschaftlichen Fachdidaktik und hilfreiche Materialsammlungen – beides ein Output fachgruppeninterner Zusammenarbeit – mit den adjustierten Testleistungen bedeutsam positiv korreliert sind. Unter einer kausalistischen Perspektive unterstreicht dieses Teilergebnis die Vorteile der unterrichtsbezogenen Kooperation von Lehrkräften für ihre Schüler/innen. Anhand einer fokussierten Einzelbetrachtung der Kooperationskultur sowie der Schuleffektivität von fünf der insgesamt elf Naturwissenschaftskollegien lassen sich darüber hinaus gleich mehrere Beispiele dafür finden, dass vergleichbare Schuleffektivitäten mit sehr unterschiedlichen Kooperationsintensitäten einhergehen und außerdem die höchste Schuleffektivität nicht an dem Gymnasium mit der vielgestaltigsten Lehrerkooperation vorliegt. Die betreffenden Einzelfallanalysen stellen somit eine generelle Abhängigkeit der Unterrichtseffektivität von der Kooperationskultur in Frage. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich jedoch eine Gemeinsamkeit an jenen Schulen, an welchen der Erwartungswert für die Schülerleistung deutlich unterschritten wird: Es ist die fast vollständige Abwesenheit einiger Unterstützungsstrukturen, welche in der vorliegenden Untersuchung v.a. durch hilfreiche Materialsammlungen repräsentiert werden. Ein Ausblick beschließt die Arbeit und zeigt mögliche Ansatzpunkte für die künftige Forschung zur unterrichtsbezogenen Lehrerkooperation. Unter anderem wird in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit herausgestellt, die konkreten pädagogisch-didaktischen und vor allem auch fachdidaktischen Aspekte von Unterricht verstärkt in die Operationalisierung der Lehrerkooperation einfließen zu lassen. Es gilt, die Erkenntnisse über das gemeinsame Arbeiten der Lehrkräfte enger mit den von ihnen inszenierten Lehr-Lernprozessen zu verknüpfen. Hierzu wird es vielfach nötig sein, in deutlich höherem Maße als bisher fach- und allgemeindidaktische Expertise in die Kooperationsforschung einzubeziehen.

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